Die Frankfurter Buchmesse hielt eine echte Entdeckung aus dem Gastland China bereit: Starautor Yan Lianke erzählt in „Der Traum meines Großvaters“ von einem medizinischen Super-GAU in der Provinz Henan, bei dem vor zehn Jahren Tausende Menschen starben. Das Buch kommt dabei auf hochliterarische Weise so nah an die Wahrheit, dass es wenige Tage nach seinem Erscheinen in der Volksrepublik verboten wurde. In Deutschland ist es jetzt erhältlich. Paul Schulz über Chinas ersten Aidsroman.

Vielleicht war es doch eine gute Idee, China als Gastland einzuladen?

Am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse 2009 bleibt die Hoffnung: Vielleicht war es doch eine gute Idee, China als Gastland einzuladen.

Nicht weil man damit in der Volksrepublik irgendetwas verändern würde – die Hoffnung hatten die Veranstalter wohl schon nach den Vorabquerelen aufgegeben. Dass die chinesische Regierung bestimmte, wer ein Visum zum Besuch der Buchmesse bekam und außerdem ihre Delegation einfach den Raum verließ, wenn ein Dissident etwas sagte, bewies auch dem Letzten: mit Mitteln der Kulturpolitik ist Stalinisten nicht beizukommen.

Aber vielleicht ja mit Literatur. Noch nie haben sich in Deutschland so viele Menschen interessiert an chinesischen Büchern gezeigt wie in den letzten Tagen, noch nie haben sie dabei soviel über die literarische Produktion Chinas, aber auch über die Nöte und Schikanen gelernt, unter denen chinesische Autoren zu leiden haben.

Yan Lianke beispielsweise. Der 50-Jährige zählte noch vor wenigen Jahren zu den staatstragenden Stars des chinesischen Literaturbetriebes und ist noch immer einer der bedeutendsten chinesischen Gegenwartsautoren. Zu den vielen Preisen die er für seine vielgelobten Texte erhielt, zählen unter anderem der Lao-She Preis und der Lu-Xun-Preis, die wichtigsten Literaturpreise die das größte Volk der Erde zu vergeben hat.

Zehntausende wurden infiziert, viele Tausend starben. Die Regierung schweigt dazu bis heute.

Lianke wähnte sich auf der sicheren Seite und wagte sich deswegen in seinen letzten beiden Büchern an zwei heiße Eisen: In „Dem Volke dienen“ schrieb er über das Sexualleben von Militär-Kadern, was ihm fast Publikationsverbot einbrachte. Und in seinem neuen Buch „Der Traum meines Großvaters“, das vor kurzem auf Deutsch erschienen ist, hebt er nun den Teppich an, unter den die Volksrepublik in den 90er Jahren einen der größten GAUs der Medizingeschichte gekehrt hat.

Das Wort „Blutspende“ gibt es im Chinesischen nicht. Der Handel mit Blut und Blutserum ist ein straff durchorganisiertes Geschäft, mit dem einige chinesische Provinzen sehr reich geworden sind und mit dem viele ärmere Einwohner ihre Alltagsprobleme verkleinern: Geht mal gar nichts mehr, kann man immer noch sein Blut verkaufen.

Lianke verarbeitet in „Der Traum meines Großvaters“ die Geschichte seiner Heimatprovinz Henan. Dort verbreitete sich in den 90er Jahren durch mangelnde Hygiene bei kommerziellen Blutabnahmen und unkontrollierte Bluttransfusionen das HI-Virus in weiten Bevölkerungsschichten. Zehntausende Menschen wurden infiziert, viele Tausend starben. Die chinesische Regierung schweigt dazu bis heute und in der chinesischen Öffentlichkeit herrscht ein Rede- und Publikationsverbot zum Thema, an das sich auch die meisten Autoren halten.

Bis auf Lianke. Sei es, weil Freunde und Bekannte von ihm betroffen sind, sei es, weil er in der Hochzeit der verschwiegenen Katastrophe immer wieder sogenannte „Aidsdörfer“ in seiner Heimat besuchte: Lianke musste schreiben über das, was geschehen war.

„Der Traum meines Großvaters“ ist ein wunderbares Buch. Der Autor hat sich ganz auf die Kraft seiner Sprache und seine erzählerischen Fähigkeiten verlassen, um das Ausmaß der menschlichen Beschädigungen aufzudecken, die nicht nur die vielen Toten, sondern auch das Redeverbot über sie hinterlassen hat.

Ein Roman über die „Aidsdörfer“ in Henan, ein toter 12-Jähriger als Ich-Erzähler.

Er enthüllt nicht, er erzählt. Liankes Buch ist keine messerwetzende Anklage gegen eine lügende Regierung, sondern die stille Beobachtung eines toten Kindes. Der zwölfjährige Ich-Erzähler Ding Quiang ist nicht an Aids, sondern an einer vergifteten Tomate gestorben, die ausgelegt wurde, um ihn zu töten. Weil sein Vater ein Blutfürst war „der größte und wichtigste von allen“, der „drei Leuten mit demselben Wattebausch den Arm wischte“. Ding Quiangs Familie hat Hunderte Menschen auf dem Gewissen, sie sind alle am „Fieber“ gestorben.

Nun beobachtet der Junge seinen Großvater dabei, wie der versucht, seinen Sohn davon zu überzeugen, dass es Zeit ist, erst vor allen einen Kotau zu machen und sich dann umzubringen. Das entvölkerte Dorf brauche dieses Opfer.

Das Drama, das Lianke in „Der Traum meines Großvaters“ abrollen lässt wie einen sauber aufgewickelten Galgenstrick, packt einen im Innersten und führt zu Fragen, die nur die chinesische Regierung beantworten könnte.

In ihrer Unfähigkeit, das zu tun, verbot sie „Der Traum meines Großvaters“ kurzerhand. Dafür stieß Chinas ersten Aidsroman in den übrigen chinesischsprachigen Ländern sowie in Korea, Japan und Frankreich auf Begeisterung. Yan Liankes Übersetzer Ulrich Kautz wünscht sich, das Buch möge auch in Deutschland aufmerksame Leser finden.

Allein dafür hätte es sich ein bisschen gelohnt, China zum Gastland zu machen.

Yan Lianke: „Der Traum meines Großvaters“, Ullstein, 364 Seiten, 22,90 Euro

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