Motiv aus der Einladung zur Ärztefortbildung "Über Sex kann man reden"
Motiv aus der Einladung zur Ärztefortbildung „Über Sex kann man reden“

Letztes Jahr hat die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) eine neue Fortbildungsreihe gestartet, die das Arzt-Patient-Gespräch über sexuell übertragbare Infektionen (STIs) verbessern soll. Das von der AIDS-Hilfe NRW entwickelte Seminarkonzept wurde 2010 in Berlin, Hamburg, München und Dortmund erprobt. Die Umsetzung der Fortbildung wird aus Mitteln der Privaten Krankenversicherung (PKV) ermöglicht. Steffen Taubert berichtet über die Entstehung des Projekts und die bisherigen Erfahrungen

Berlin im August 2005. Im Roten Rathaus findet wie jedes Jahr „HIV im Dialog“ statt. Die Tagung endet mit einer vielbeachteten Podiumsdiskussion: Sexualwissenschaftler Martin Dannecker setzt sich gemeinsam mit Ärzten, Aidshilfe-Aktivisten und Zuhörern mit der Frage auseinander, ob man HIV-Schwerpunktärzte stärker in die HIV-Prävention einbeziehen sollte. Das Thema brennt unter den Nägeln, denn bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), scheint die Zahl der HIV-Neuinfektionen anzusteigen.

Sind Arztpraxen geeignete Orte für Prävention? Viele waren damals skeptisch. Gleichzeitig schien dies ein Weg zu sein, den es zu prüfen galt. Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) plante daraufhin ein auf mehrere Jahre angelegtes Forschungs- und Entwicklungsprojekt. 2006 gründete sie einen wissenschaftlichen Beirat, der das Projekt seither begleitet. Zu seinen Mitgliedern (siehe unten) gehören Sexualwissenschaftler, Vertreter der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ), der Deutschen AIDS-Gesellschaft e.V. (DAIG), der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), des Kompetenznetzes HIV/AIDS sowie Aidshilfemitarbeiter und Patientenvertreter.

Ärzte denken oft viel zu spät an eine HIV-Infektion

Die Ziele des Projektes: Einerseits soll gemeinsam mit Ärzten erörtert werden, wie sie schwule und bisexuelle Männer am besten zu Fragen des Infektionsschutzes beraten können. Zum anderen gilt es, gerade auch jene Mediziner für HIV und andere STIs zu sensibilisieren, die sich bisher kaum mit dem Thema befasst haben. Denn noch immer gibt es Haus- oder auch Fachärzte, die viel zu spät an HIV denken, weil sie nicht auf die Idee kommen, dass der eine oder andere Patient vielleicht (auch) Sex mit Männern haben könnte. Wird die HIV-Infektion aber zu spät erkannt und behandelt, kann dies negative Auswirkungen auf den Therapie-Erfolg haben beziehungweise die Gesundheit des Patienten erheblich schädigen.

Um angemessen behandeln zu können, müssen Ärzte und Patienten also über Sexualität reden können. Aber wollen sie das überhaupt? Und ist jeder Patient bereit, seine sexuelle Orientierung preiszugeben? Um mehr darüber zu erfahren, beauftragte die DAH die Universität Bayreuth mit einer Befragung von Ärzten sowie Männern, die Sex mit Männern haben. Titel: „Erforschung und Entwicklung von HIV- und STD-Präventionsstrategien für MSM in der ärztlichen Praxis“. Die Ergebnisse veröffentlichten Julika Loss und Angelika Wolf im Jahr 2009.

Wer selten zum Arzt geht, redet mit ihm nicht so gern über (Safer) Sex

Die Wissenschaftlerinnen fragten 30 MSM (sowohl HIV-positive als auch negative und ungetestete) und 29 Ärzte, was sie davon hielten, wenn die HIV/STI-Prävention in der ärztlichen Beratung einen höheren Stellenwert bekäme. Wie aus ihrem Bericht hervorgeht, sind die befragten HIV-Positiven in der Regel sehr zufrieden mit ihren Ärzten. Weil die Beziehung zu ihnen vertrauensvoll ist, können sie sich auch Gespräche über den Schutz beim Sex gut vorstellen, zum Teil erwarten sie das sogar.

Die befragten HIV-Negativen gehen dagegen seltener zum Arzt und stehen solchen Gesprächen eher skeptisch gegenüber. Einerseits wünschen sie sich eine kompetente Beratung, wenn es um schwierigere Fragen der Prävention geht, so etwa zu den HIV-Übertragungsrisiken beim Oralverkehr. Anderseits wollen sie aber nicht, dass man ihnen eine Beratung aufzwingt.

Bedürfnis nach Offenheit, aber auch Schutz der Intimsphäre

Der Großteil aller Befragten wünscht sich einen Arzt, der sich ausreichend Zeit nimmt und ihre Sexualität akzeptiert. Gespräche über Risiko- und Schutzverhalten werden nur dann akzeptiert, wenn sie „behutsam“ und sprachlich angemessen sind und mit dem Anlass des Arztbesuchs im Zusammenhang stehen.

Die Studienergebnisse decken sich im Wesentlichen mit den Ergebnissen amerikanischer (Eliason 2001; Meckler 2006) und britischer Studien (Hinchcliff 2005; Keogh 2004). Die Bayreuther Befragung und die Untersuchung von Keogh zeigen auf, dass MSM, die nur selten Kontakt zu ihrem Arzt haben, mit diesem nur ungern über ihre Sexualität sprechen. Die in der Bayreuther Studie Befragten empfinden es aber trotzdem als erleichternd, wenn ihr Arzt Offenheit zu „schwulen Themen“ signalisiert und ein Gespräch anbietet.

Viele Männer scheinen hier also ambivalent zu sein: Das Bedürfnis nach offenem Austausch konkurriert mit dem Bedürfnis, die eigene Intimsphäre zu schützen.

Gefragt ist Authentizität!

Gespräche über Sexualität sind auch für die befragten Ärzte schwierig. Sie wünschten sich daher spezielle Workshops du dieser Art von Kommunikation. Die DAH beauftragte darum die AIDS-Hilfe NRW, ein Konzept für eine entsprechende Fortbildungsreihe zu entwickeln, die im Herbst 2010 an den Start ging.

Schon im ersten Seminar wurde lebhaft diskutiert, als es um die Grenzen der Empathie ging: Muss ich denn wirklich alles nachvollziehen können, was der Patient mir berichtet? Seminarleiter Martin Dannecker machte deutlich, dass der Arzt vor allem authentisch sein müsse. Trotz einer „Sexualisierung des öffentlichen Raumes“ hätten viele Menschen beim Thema Sexualität noch immer Scham- und Schuldgefühle. Er empfahl den Ärzten, Fragen zu stellen und keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Kollegialer Austausch und Vernetzung

In allen Seminaren wechseln sich seitdem inhaltliche Inputs mit Diskussionen und Fallarbeit ab. Geleitet werden sie von einem Zweierteam aus Arzt und Psychologe beziehungsweise Sexualwissenschaftler. Dabei waren bisher neben Dannecker die Ärzte Dr. Stefan Esser, Dr. Carl Knud Schewe und Dr. Andreas Bellmunt sowie der Psychologe Christopher Knoll und der Sexualmediziner Stefan Faistbauer.

Genutzt wurden die Seminare von Ärzten mit HIV-Schwerpunkt, Ärzten aus Haftanstalten, von Psychotherapeuten sowie Internisten und Medizinern aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst.

Der Austausch mit Kollegen aus verschiedenen Fachgruppen und Institutionen bildet den Einstieg in jedes Seminar. Es folgen Vorträge und Übungen, dabei werden Erkenntnisse zu den Übertragungswegen und Strategien zum Risikomanagement vorgestellt. Zugleich vermitteln die Seminarleiter Grundkenntnisse zu Lebensstilen und Sprachcodes von MSM. Raum ist immer auch für Fragen, zum Beispiel: „Wie bringe ich den HIV-Test ins Spiel, und wie teile das Testergebnis mit?“ Oder: „Welche Bedeutung hat die Viruslast für die HIV-Prävention?“ Damit ergibt sich für die DAH auch abseits der großen Fachkongresse die Möglichkeit, ihre Positionen zu verdeutlichen.

Am Ende eines jeden Seminars stellt die vor Ort ansässige Aidshilfe ihre Beratungsangebote für MSM und HIV-Positive vor. So wird die Gelegenheit genutzt, die regionale Vernetzung zwischen Aidshilfe und medizinischem Versorgungssystem zu fördern.

Rollenspiele und praktische Übungen kommen besonders gut an

„Bloß keine Rollenspiele!“, wehrte einmal ein Teilnehmer bereits in der Vorstellrunde ab. Er drückte damit die Sorge aus, dass allzu Persönliches ins Blickfeld geraten könnte. Doch wie die nun veröffentlichte Evaluation des ersten Seminardurchlaufs zeigt, waren es am Ende gerade Rollenspiele und praktische Übungen, die am besten ankamen.

Für die Evaluation werteten Julika Loss und Angelika Wolf Fragebögen aus und befragten viele Teilnehmer im Nachhinein noch einmal telefonisch. Als hilfreich seien vor allem jene Einheiten beurteilt worden, in denen es um Selbstreflexion, Gesprächsstrategien und Vermittlung von Wissen zur Sexualität von MSM ging.

Ab Mai startet nun die zweite Seminarstaffel. Den Evaluationsergebnissen entsprechend wird es dieses Mal mehr praktische Übungen geben. Ergänzt wird die eintägige Fortbildung durch Workshops auf Kongressen und den Aufbau regionaler ärztlicher Qualitätszirkel.

Alle Seminar- und Workshop-Termine auf aidshilfe.de

 

Wissenschaftlicher Beirat des Projekts „HIV/STI-Prävention und Beratung in der Arztpraxis“

Jens Ahrens (Berliner Aids-Hilfe), Prof. Dr. N. H. Brockmeyer (Kompetenznetz HIV/AIDS), Prof. Dr. Martin Dannecker (Sexualwissenschaftler), Dr. Jörg Gölz (DAGNÄ, Kassenärztliche Vereinigung), Dr. Christoph Mayr ( Arbeitskreis AIDS der Berliner Ärzte), Dr. Dr. Wolfgang Müller (BZgA), Ulrike Duecker (BZgA), Helga Neugebauer (AIDS-Hilfe Hamburg e.V.), Prof. Dr. Jürgen Rockstroh (DAIG, Nationaler AIDS-Beirat), Axel J. Schmidt, MPH (Robert-Koch-Institut), Engelbert Zankl (Münchner AIDS-Hilfe e.V.)

Quellen:

Loss, J./Wolf, A.: Erforschung und Entwicklung von HIV-STD Präventionsstrategien für MSM in der ärztlichen Praxis. Abschlussbericht zu Datenerhebung bei Patienten und Ärzten. Hg. von der Deutschen AIDS-Hilfe. 2009

Eliason, M. J./Schope, R.: Does “Don’t ask don’t tell” apply to health care? Lesbian, Gay, and Bisexual people’s disclosure to health care providers. Journal of the Gay and Lesbian Medical Association 2001, 5(4): 125–34

Meckler, G. D. u. a.: Nondisclosure of Sexual Orientation to a Physician Among a Sample of Gay, Lesbian, and Bisexual Youth. Arch Pediatr Adolesc Med 2006, 160:1248–1254

Keogh, P. u. a.: Doctoring Gay men.Research report. Sigma research 2004

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