Bei der Reminders-Day-Aids-Gala am heutigen Samstag in Berlin wird der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin der Reminders Day Award 2011 verliehen – für ihr „herausragendes Engagement im Kampf gegen HIV“. Im Rahmen eines Podiumsgesprächs gab Nan Goldin bei „HIV im Dialog“ Auskunft über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit.

Podiumsteilnehmer
Podiumsgespräch mit Nan Goldin bei „HIV im Dialog“ (Foto: Axel Schock)

Es sind nur ein paar Dutzend Bilder, die auf die Leinwand im Festsaal des Roten Rathauses projiziert werden. Für unbedarfte Betrachter könnten sie wie eine Diashow im Familien- und Freundeskreis erscheinen. Es sind Porträts der New Yorker Undergroundschauspielerin Cookie Mueller, Szenen von Partys, zu Hause, bei Freunden. Der Berliner Filmkurator Alf Bold auf einem Fest, in einem Taxi. Der Pariser Kunsthändler Gilles Dussein, ein junger, muskulöser Mann in der liebevollen Umarmung seines Lebensgefährten.

„Als der erste Artikel über den angeblichen Schwulenkrebs erschien, haben wir gelacht“

Zwei Aufnahmen später sehen wir Dussein, wie er sich von seinem völlig abgemagerten Partner am Sterbebett verabschiedet. Die Bildfolgen, die im ruhigen Rhythmus als Schleife an die Wand geworfen werden, haben alle die gleiche Dramaturgie:  Sie zeigen Momentaufnahmen intimer Situationen, fragiler Lebensstationen, Stimmungen, sogar Tote im offenenen Sarg. Man muss die Porträtierten nicht kennen, um zu erkennen, dass sie bemerkenswerte Persönlichkeiten sind. Und auch, dass ihr Tod Lücken reißt und Trauernde hinterlässt: Freunde, Lebenspartner, Familienangehörige.

„Ich habe acht meiner engsten Freunde durch Aids verloren  Freunde, von denen ich dachte, dass wir zusammen alt werden könnten“, erzählt Nan Goldin.  „Und Hunderte, Hunderte von Bekannten“, fügt sie mit leiser Stimme dazu.

Aids hat in den 1980er Jahren insbesondere in jenen Szenen gewütet, in denen auch Nan Goldin zu Hause war, besonders häufig erkrankten Künstler, Schwule, Prostituierte, Drag Queens und Drogenkonsumenten. Im New York der späten 70er Jahre hatte sie ihre Wahlfamilie gefunden, Arbeits- und Lebensfreundschaften geschlossen.

Nan Goldin (Foto: Axel Schock)

„Ich erinnere mich noch sehr genau, wie wir an einem Sonntag zusammensaßen, den ersten Artikel über den angeblichen Schwulenkrebs lasen und darüber lachten“, erzählt die 57-Jährige. Ihre Stimme wirkt ein wenig brüchig, der öffentliche Auftritt, wie hier auf dem Podium im Roten Rathaus, gehört sichtlich nicht zu den ihr liebsten und angenehmsten Aktivitäten. Doch der Reminders Day Award ist für die international renommierte Künstlerin eine ganz besondere Auszeichnung.

„Wenn meine Kunst etwas leisten konnte,  dann Bewusstsein für diese Krankheit zu schaffen und zu zeigen, welche Lücken gerissen, wie viele Biografien abrupt beendet wurden.“ Um nicht mehr oder nicht weniger sei es gegangen, als zu zeigen, welche Menschen hinter den nackten Fallzahlen stehen, welche Leben durch diese Krankheit verloren gingen.

„Sie sind die Massenmörder und verantwortlich für den Tod von Hunderttausenden“

Sie seien Opfer einer Krankheit geworden, über die zu dieser Zeit so gut wie nichts erforscht gewesen sei, auch die Übertragungswege seien noch unbekannt gewesen. „Schuld haben nicht wir“, sagt Goldin energisch. Schuldig gemacht hätten sich die Regierungen, wie jene unter Ronald Reagan, die sich jahrelang um Aids nicht kümmerten, vor allem aber die katholische Kirche, die die Menschen dazu aufforderte, keine Kondome zu verwenden. „Sie sind die Massenmörder und verantwortlich für den Tod von Hunderttausenden“.

Wütend macht Goldin auch „Bareback“, der bewusst unsafe Sex in Teilen der schwulen Community: „Dieser Stolz, Sex ohne Kondom zu haben, pervertiert die Solidarität, mit der unsere Community gegen diese Krankheit angekämpft hat“. Über diesen Punkt hätte sicherlich mancher im Saal gerne diskutiert, aber darauf war die Veranstaltung nicht angelegt.

Nicolas Page (links) und Nan Goldin
Nicolas Page (links) und Nan Goldin (Foto: Axel Schock)

Der Schweizer Fotograf, Maler und Schriftsteller Nicolas Pages, selbst HIV-positiv, trat erst 1997 in Nan Goldins Leben. Er sitzt an diesem Tag in Berlin neben ihr und dankt ihr in einer bewegenden, intimen Rede für ihre Freundschaft. Er erinnert sich, wie sie sich kennenlernten, ganz zufällig in einer Bar, so wie viele von Nan Goldins Freundschafen ganz zufällig begonnen haben. Eine Nacht lang haben sie damals geredet, über Sex und Liebe, über Aids und Religion, über das Leben und den Verlust. „Es war ein Gespräch, so offen und ehrlich, wie ich es selbst mit einer Schwester nicht hätte führen können“, sagt Pages. Und er erzählt auch, wie viel ihm insbesondere Nan Goldins Porträts von Cookie Mueller bedeuteten, weil sie auch das ausdrückten, was der Tod seines Lebensgefährten in ihm ausgelöst hatte.

Aus der Zufallsbegegnung in der Bar in Lausanne wurde eine intensive Freundschaft und Pages ein Teil von Nan Goldins Wahlfamilie. Zusammengeführt hat sie die gegenseitige Offenheit und – schicksalhaft, wie Pages sagt –  die gemeinsame Erfahrung von Verlust, Schmerz und Trauer.

„Es ist wichtig ehrlich zu sein, sich selbst gegenüber und anderen“

Die Intensität, mit der Nan Goldins Arbeiten auf jeden Betrachter einwirken, gründet in dieser schier grenzenlosen Ehrlichkeit, ohne jedoch, dass die Menschen auf ihren Bildern deshalb bloßgestellt und ausgeliefert würden. „Die einzige Lektion, die meine Fotografien geben können, ist, das Private öffentlich zu machen. Es ist wichtig, ehrlich zu sein, sich selbst gegenüber und anderen“, erklärt Nan Goldin. „Nur so können wir diese Türen aufbrechen, die uns verschlossen sind, weil wir sind, wie wir sind: HIV-positiv oder schwul oder aus einer bestimmten ethnischen Gruppe.“

(Axel Schock)

DAH-Blog-Beitrag über die Ausstellung „Nan Goldin – Berlin Work. Fotografien 1984–2009“ in der Berlinischen Galerie

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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