Mann blickt hinter Lehne hervor
(Foto: simonthon / photocase.com)

Die Seminarreihe „HIV und seelisches Gleichgewicht“ der Deutschen AIDS-Hilfe stößt bundesweit auf großes Interesse. Dort können sich Betroffene austauschen – für viele ist das ein großer Schritt. Oft nämlich wird eine Depression gar nicht als Krankheit erkannt, sondern als persönliche Schwäche abgetan.

Ein Zahnarztbesuch ist selten ein Highlight des Tages. Aber manchmal kann er einen richtig runterziehen – vor allem wenn man HIV hat. Diese Erfahrung hat Thilo gemacht. Nach seinem Coming-out als HIV-Positiver verweigerte seine Zahnärztin die weitere Behandlung – die Praxis sei dafür nicht ausgerüstet. Dabei wusste Thilo: Es besteht keine Infektionsgefahr, sofern grundlegende Hygienestandards eingehalten werden. Eine bittere Diskriminierung, wie sie viele HIV-Positive schon erlebt haben. „Du bist in der Zeit eh schon empfindlich, und dann treffen dich solche Aussagen noch mal härter als sonst schon“, erinnert sich Thilo. „Für mein Wohlsein war das genau das Falsche. Das hat sicher dazu beigetragen, dass meine Psyche kaputtging.“

2001 wurde bei dem 49-Jährigen eine schwere Depression diagnostiziert. Das Zahnarzt-Erlebnis war sicher nicht der Auslöser, aber eines von vielen kleinen Sorgenpäckchen, unter denen Thilos Seele an einem bestimmten Punkt nachgegeben hat.

Bei manchen kann HIV das Fass zum Überlaufen bringen

Menschen mit HIV haben sehr viel häufiger mit Depressionen zu kämpfen als der Bevölkerungsdurchschnitt. „Gerade bei Leuten, die ein Leben lang mit vielen Belastungen zurechtkommen müssen, ist HIV schlicht der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, sagt Werner Bock von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH).

Gemeinsam mit seinem Kollegen Karl Lemmen organisiert er die eintägigen Seminare „HIV und seelisches Gleichgewicht“ auf Anfrage in einer der rund 120 regionalen Aidshilfen. In einer Mischung aus Vortrag, Kleingruppenarbeit und Diskussion tauschen sich dort Menschen aus, die mit dem Thema Depression zu tun haben. „Ursprünglich waren diese Seminare nur für Mitarbeiter geplant“, sagt Werner Bock. „Aber dann stellte sich heraus, dass sie auch bei den Klienten der Aidshilfen auf großes Interesse stoßen. Deshalb gibt es dieses Angebot inzwischen auch speziell für Menschen, die Depressionen haben.“ Pro Jahr finden etwa vier Seminare mit maximal zwölf Teilnehmern statt. „Wir können diese Termine gar nicht so oft anbieten, wie sie nachgefragt werden“, berichtet Bock.

Wie stark HIV die Psyche belastet, zeigt das Beispiel eines solchen Seminars in einer norddeutschen Universitätsstadt, keine Millionenmetropole, aber auch keine Provinzstadt: Unter den sechs HIV-positiven Teilnehmern war nur ein Mann, der offen mit HIV lebt. Alle anderen verheimlichen ihre HIV-Infektion gegenüber Angehörigen und Freunden. „Die Angst vor Ablehnung im eigenen sozialen Umfeld ist nach wie vor sehr groß“, sagt Werner Bock. „Aber die Geheimhaltung und die ständige Kontrolle kosten viel Energie.“

„Das ist klassische Selbsthilfe“

Die fehlt dann, um mit anderen Dauerbelastungen fertigzuwerden, zum Beispiel mit der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder sexueller Orientierung. Die DAH-Seminare zum „seelischen Gleichgewicht“ dienen auch dazu, diese Stigmata zu benennen, mit denen viele Positive umgehen müssen. „Wir wollen den Teilnehmern deutlich machen, dass sie sich nicht schämen müssen“, sagt Bock. „Angesichts so vieler Belastungen ist es gar nicht verwunderlich, dass es zu Depressionen kommt.“

Im Seminar informieren die Dozenten über das Krankheitsbild der Depression und die Behandlungsmöglichkeiten. Vor allem aber ermöglicht es den Austausch. „Das ist klassische Selbsthilfe“, so Bock. „Die Teilnehmer wissen schon recht viel über das Thema. Wichtig ist, dass sie ins Reden kommen und ihre Sorgen verbalisieren können. Es hilft ihnen sehr, zu sehen: Ich bin nicht allein, andere haben das genauso erlebt wie ich.“ Außerdem berichten sie, was ihnen hilft, einen depressiven Schub durchzustehen. „Manche haben da erfolgreiche Strategien entwickelt“, erzählt Bock. „Sie haben zum Beispiel gelernt, mit anderen Menschen über ihre Probleme zu sprechen. Ein stabiles Umfeld aus Freunden ist ein gutes Auffangnetz, wenn es zu Krisen kommt.“

Körperliche Warnsignale werden oft als Schwäche und Versagen gedeutet

Allein schon mit dem Reden über das Thema ist viel erreicht. Denn meist werden Depressionen erst sehr spät oder gar nicht erkannt. Die Warnsignale des Körpers – ständige Müdigkeit, verminderte Konzentrationsfähigkeit, keine Lust mehr auf Lieblingsbeschäftigungen – werden oft als Schwäche und Versagen gedeutet, auch von den Erkrankten selbst. „Diese Symptome können aber auch Ausdruck einer Depression sein und bedürfen dann einer entsprechenden Behandlung“, betont Psychologe Karl Lemmen, zuständig für den DAH-Bereich „Psychosoziales und Qualitätssicherung. Auch den Einsatz antidepressiver Medikamente dürfe man nicht grundsätzlich ausschließen.

Ein weiteres Symptom der Depression, so Lemmen, sei der Rückzug aus Freundschaften, Familie und Beziehung. „Das Fatale dabei ist, dass der soziale Rückzug nicht nur Symptom, sondern auch verstärkende Ursache einer Depression ist. Deshalb müsste man jemanden, der sich zurückzieht, auch wieder ein wenig herauszerren.“

Für die Beraterinnen und Berater in den Aidshilfen ist der Umgang mit depressiven Klienten deshalb eine große Herausforderung. „Hier das richtige Maß zwischen Aktivierung und Überforderung zu finden, ist nicht einfach“, sagt zum Beispiel Melanie*, Seminarbesucherin und Mitarbeiterin der Aidshilfe Wuppertal. „Es tut gut, sich mit Kollegen über Strategien austauschen und von ihren Erfahrungen profitieren zu können.“ Das Seminar habe ihr geholfen, ihre Klienten besser zu verstehen.

Im Seminar können sich Betroffene und Berater besser kennenlernen

Depressive Menschen verhalten sich oft widersprüchlich: Einerseits suchen sie Unterstützung, andererseits wird ihnen die Zuwendung anderer Menschen schnell zu viel. „Diese innere Spannung überträgt sich auf die Mitmenschen, die sich dann entweder selbst runterziehen lassen oder aber mit Aktionismus, Ärger oder Wut reagieren“, erklärt Werner Bock.

Die Seminare zur Depression können hier Entlastung schaffen. Betroffene und Berater können sich – moderiert von Außenstehenden – besser kennenlernen. Die Berater bekommen die Chance, nachzuvollziehen, wie sehr depressive Menschen in ihrer Situation gefangen sind. Und sie lernen, dass zum Beispiel die starke Passivität zum Krankheitsbild der Depression gehört. „Für Helfende ist es entlastend, dass es in solchen Situationen kein Patentrezept gibt“, sagt Werner Bock. „Sie müssen sehr sensibel vorgehen und ausloten, was gerade am besten hilft. Auf jeden Fall ist es wichtig, deutlich zu signalisieren: Ich bin da, wenn du mich brauchst.“

Trotzdem: Die Schwierigkeiten im Umgang mit Depressionen bleiben. Für Laien ist es fast unmöglich, die Krankheit von einer depressiven Verstimmung abzugrenzen, wie sie bei jedem Menschen vorkommt. „Die Berater in den Aidshilfen sollen auch keine Diagnose stellen“, betont Werner Bock, das könne nur ein Arzt oder Psychotherapeut. Entscheidend sei, dass man eine gewisse Sensibilität entwickle, um bei Bedarf die Klienten an entsprechende Hilfsangebote verweisen zu können. Bei Verdacht auf eine Depression solle der Hausarzt konsultiert werden.

„Wie bei allen Schicksalsschlägen sind Angehörige und Freunde wichtig“

Der Bedarf ist da, denn HIV kann sehr belastend sein: nicht nur bei der Diagnose, sondern auch später. Zum Beispiel bei Therapiebeginn, wenn die tägliche Tablette daran erinnert, dass man das Virus nie mehr loswird. Oder wenn die HIV-Medikamente Nebenwirkungen hervorrufen. „Wie bei allen Schicksalsschlägen sind dann Angehörige und Freunde wichtig, die einen auffangen“, sagt Werner Bock. „Aber viele haben dieses Umfeld eben nicht. Und deshalb sind die Angebote der Aidshilfen so wichtig – die Beratung ebenso wie die Selbsthilfegruppen, in denen sich Positive austauschen können.“

*Name geändert

Philip Eicker

Weitere Informationen

Aidshilfen, die ein Patienten- und Mitarbeiterseminar zu „HIV und seelisches Gleichgewicht“ durchführen möchten, wenden sich an: Werner.Bock@dah.aidshilfe.de

Weitere Informationen zur Seminarreihe bietet das Interview „Die verschwiegene Krankheit“ sowie der Beitrag „Aus der Tabu-Ecke holen – HIV und Depression“ im DAH-Jahrbuch 2011/2012 auf Seite 25.

Das Dossier HIV & Depression im Überblick

Teil 1: Depression – die unbekannte Volkskrankheit (13.06.13)
Teil 2: Grenzen der Belastbarkeit (13.06.13)
Teil 3: „Von Hühnern und Rosinen“ – Paar-Reportage (13.06.13)
Teil 4: Was hilft bei Depression? Zehn Anregungen (14.06.13)
Teil 5: Pillen oder Psychologen? Was hilft besser gegen Depression? (14.06.13)
Teil 6: Keinen Nerv für die Gesundheit: Diskriminierung schürt Depression (15.06.13)
Teil 7: HIV und Depression? Alles im Griff! (15.06.13)

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Von Hühnern und Rosinen

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