Was passiert mit einem (Hetero-)Paar, dessen männlicher Part sich dazu entschließt, fortan als Frau zu leben? Das kanadische Regietalent Xavier Dolan lotet diese Frage in seinem bildgewaltigen Spielfilm „Laurence Anyways“ aus. Von Axel Schock

Liebe ist stärker als das Geschlecht: Szene aus „Laurence Anyways“ (Foto: NFP)
Liebe ist stärker als das Geschlecht: Szene aus „Laurence Anyways“ (Foto: NFP)

Wollte man das Wesen von Xavier Dolan charakterisieren, wären wohl „maßlos“ und „ungestüm“ geeignete Begriffe. Der erst 24-jährige Franko-Kanadier hat vor Kurzem bereits seinen vierten Spielfilm abgedreht und mit seinen bereits veröffentlichten eine Euphorie verbreitet, wie das allenfalls François Ozon und Pedro Almodóvar mit ihren ersten Werken gelang.

Mit jeder Menge inszenatorischer Ideen, Zitaten aus der Kinogeschichte, poetischen Bildern sowie extravaganten Kameraeinstellungen präsentierte sich Dolan von Anbeginn als souveräner, selbstsicherer und nicht gerade uneitler Regisseur – und als ein Filmkünstler mit einem bereits klar erkennbaren eigenen Stil und einer erzählerischen Vision. Dass er bei der Uraufführung seines ersten Films beim Filmfestival von Cannes gerade mal 20 Jahre jung war, wollte man damals kaum glauben.

Ein überbordendes wie sinnliches Kinospektakel

In seinen ersten beiden Dramen „I Killed My Mother“ und „Herzensbrecher“ schöpfte Dolan noch ganz aus der eigenen Erlebniswelt. Er arbeitete sich mit hintergründigem Humor an Themen wie unglückliche queere Jugendliebe, Mutter-Sohn-Zwistigkeiten und Hipster-Befindlichkeiten ab und übernahm folgerichtig auch jeweils die Hauptrolle.

In „Laurence Anyways“ bleibt Dolan nun hinter der Kamera und überlässt das Feld seinen beiden Hauptdarstellern, die auf ganz gegensätzliche Weise um die Aufmerksamkeit der Zuschauer werben: Melvil Poupaud spielt den Literaturlehrer und Lyriker Laurence mit zurückhaltendem Minimalismus, Suzanne Clément darf als dessen Lebensgefährtin Fred ihre wechselhaften Gefühle geradezu überschäumend ausspielen.

Laurence geht ihren Weg – souverän und mit Stil (Foto: NFP)
Laurence geht ihren Weg – souverän und mit Stil (Foto: NFP)

„Mein Film ist eine Hommage an die ultimative Liebesgeschichte“, sagt Dolan, „eine Liebe, die spektakulär und grenzenlos sein soll. Die Liebe, von der wir nicht zu träumen wagen; die Liebe, die nur im Kino, in den Büchern und in der Kunst vorkommt.“

Laurence und Fred sind ein Paar, das eine solche, geradezu symbiotische Liebe mit all ihren emotionalen Höhen- und Tiefpunkten lebt – bis Laurence an seinem 30. Geburtstag seiner Lebens- und Seelengefährtin ein Geständnis macht. Er habe sich seit jeher als Frau gefühlt und wolle fortan nun auch als Frau leben. Ihre Liebe zueinander aber halten sie für so stark und unabhängig vom Geschlecht des anderen, dass die beiden ein Paar bleiben zu wollen.

Dolan hat seine Geschichte im Montreal der 90er Jahre angesiedelt. Über das ganze Jahrzehnt hinweg verfolgt er nun die Bemühungen von Fred und Laurence, diese Beziehung und Liebe zu verteidigen und zu bewahren. Ein Prozess, der verständlicherweise nicht ohne Reibung und Konflikte abgeht.

Laurence und Fred kämpfen um ihre Beziehung (Foto: NFP)
Laurence und Fred kämpfen um ihre Beziehung (Foto: NFP)

Laurence beweist eine überraschende innere Stärke, selbst gegenüber den Lehrerkollegen, die – anders als die neugierig und interessiert fragenden Schüler – äußerst unentspannt darauf reagieren, als Laurence zum ersten Mal im pastellfarbenen Kostüm zum Unterricht erscheint.

Auch den Blicken auf der Straße hält Laurence stand. Dolan hat sie in einer für ihn geradezu typischen Szene eingefangen und an den Anfang des Films gesetzt. Eine Frau, deren Namen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen, geht in Zeitlupe durch die Straßen von Montreal. Wir sehen nur ihren Rücken – und die Reaktionen der Passanten, die ihr begegnen. Verwirrung und Erstaunen, aber auch Belustigung und Entsetzen zeigt sich in ihren Gesichtern.

Blicken und Anfeindungen ausgesetzt

Dolan hat diese Szenerie wie einen Musikclip inszeniert und lässt diese geheimnisvolle Frau in ihrem lila Mantel, um die auf wundersame Weise das Herbstlaub wirbelt, gleichermaßen als Alien wie als Göttin erscheinen. Fred setzen diese Blicke und Anfeindungen hingegen weit mehr zu. In einem Restaurant flippt sie schließlich aus und reagiert an der Kellnerin und den anderen Gästen ihre aufgestaute Wut, aber auch ihre eigene Zerrissenheit ab.

Poetische Filmbilder: Laubregen in Montreal (Foto: NFP)
Poetische Filmbilder: Laubregen in Montreal (Foto: NFP)

Von einer „unmöglichen“ Liebe wollte Dolan nach eigenem Bekunden in „Laurence Anyways“ erzählen. Unmöglich bedeutet in diesem Falle so viel wie unkonventionell, aber auch: auf Dauer nicht lebbar. Fred kämpft mit ihren eigenen Zweifeln, Gefühlen und Ängsten; sie wendet sich von Laurence ab und findet doch wieder zurück. Die Liebe lodert – trotz all der Widrigkeiten und Streitereien – immer wieder auf.

Den eigentlichen Prozess der Geschlechtsanpassung und die gesellschaftlichen Ausgrenzungen haben Dolan dabei ebenso wenig interessiert wie die sexuellen Aspekte dieser Paarkonstellation. Stattdessen lotet er ausladend und überschwänglich in üppigen, aber nie langweiligen 159 Filmminuten das Chaos und Glück dieser queeren Beziehung aus. In dieser Konsequenz beweist sich Xavier Dolan als ebenso mutig wie seine beiden Filmfiguren.

„Laurence Anyways“. Regie und Drehbuch: Xavier Dolan. Mit: Melvil Poupaud, Suzanne Clément, Nathalie Baye, Monia Chokri. Kanada/Frankreich 2012, 159 Minuten, Kinostart 27. Juni 2013.

www.laurenceanyways-derfilm.de

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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