Dagmar Melz (Foto: Heike Gronski)
Dr. Dagmar Melz (Foto: Heike Gronski)

Bei den Münchner Aids- und Hepatitis-Tagen wurde Dr. Dagmar Melz – neben dem Präventionisten Jean-Luc Tissot-Daguettedie Ehrenmitgliedschaft der Deutschen AIDS-Hilfe verliehen. Ein Porträt der Wuppertaler Ärztin von Annette Fink

Eine Frau, die Hüte mag – kokette, bunte, schlichte, elegante – und die sich auch bei der Wahl der Gehhilfe nicht beschränken will. Eine Frau aus guter Familie, die von ihren Mitgliedern seit je Engagement für die Schwächeren erwartet hat. Eine Frau, die sich beim Eignungsgespräch fürs Gymnasium mit dem Rektor munter über Martin Luther unterhält. Eine Frau, die als Dreizehnjährige bei der Wahl zur Stadtsportjugendsprecherin nicht ans Mikrofon heranreicht und auch später nicht mehr viel an Körpergröße zulegt. Eine Frau, die auf Stil und Etikette hält, für die aber ein Mann in aller Deutlichkeit ein „Arschloch“ ist, wenn er vermutet, dass der Eindruck, den eine junge Frau bei namhaften Wissenschaftlern hinterlässt, wohl nur dem Einsatz sexueller Reize geschuldet sein kann.

Als sie 1985 einen Aidspatienten aufnimmt, ahnt sie nicht, was auf sie zukommen wird

In den achtziger Jahren leitet Dagmar Melz die Infektionsstation der Städtischen Kliniken Arrenberg in Wuppertal. Ihr Vater hätte es lieber gesehen, wenn die älteste seiner drei Töchter, der er neben der Betriebswirtschaft auch die Kunst des Schießens nahegebracht hatte, seine Geschäfte übernommen hätte, doch sie entschied sich für ein Medizinstudium.

Als sie 1985 einen Aidspatienten in ihrer Station aufnimmt, für den in den überquellenden Kliniken in Düsseldorf oder Köln kein Platz mehr war, hat sie keine Vorstellung davon, was alles auf sie zukommen wird: Der Oberarzt wirft der damals 33-Jährigen auf dem Klinikflur vor, sie sei schuld, wenn seine Kinder von Schwulen vergewaltigt würden. Die Schwestern kündigen an, ihr nie zu verzeihen, dass sie „so etwas angeschleppt habe“. Sie wird geschnitten und sitzt in der Mensa alleine am Tisch. „Aber“, sagt Dagmar Melz, „das hat mich überhaupt nicht gestört. Da war ein Mensch, der Hilfe brauchte. Das war mein Leben. Meine Familie hat immer die Verpflichtung gelebt, für andere da zu sein.“

Ihr war schnell bewusst, dass man diesen Ängsten nur mit Wissen begegnen kann

Außerhalb der Klinikmauern war die Stimmung nicht weniger hysterisch: Erzieherinnen befürchteten, sich bei Kindern an einem aufgestoßenen Knie zu infizieren; wo auch immer Blut floss, brach Panik aus. Dagmar Melz war schnell bewusst, dass man diesen Ängsten nur mit Wissen begegnen kann, das auch sie selbst sich erst aneignen musste.

Sie bot Vorträge an und konnte sich vor Anfragen bald kaum noch retten: „Wenn ich einer Müttergruppe als nächstmöglichen Termin den Samstag in drei Wochen um 22 Uhr anbieten konnte, hat sie den genommen.“ Sie ging in Betriebe und ließ sich dort zuerst die neuralgischen Punkte zeigen – in einer Brauerei zum Beispiel die Flaschenabfüllanlage, wo es die meisten Scherben und damit auch die größte Verletzungsgefahr gab. Dann spürte die Belegschaft gleich, dass jemand ihre Sorgen ernst nimmt und weiß, worum es geht.

Es gibt durchaus Anekdoten aus dieser Zeit, die Dagmar Melz gern erzählt: Wie sie einmal die gesamte Feuerwehr der Stadt im Audimax der Uniklinik zur Fortbildung versammelte und der Parkplatz voller Feuerwehrautos war; oder wie sie müde fünfzehnjährige Azubis im wahrsten Sinne des Wortes für ihr Thema weckte, indem sie Anschauungskondome zur Zwille  umfunktionierte und die Einschlafenden mit zusammengerollten Präservativen beschoss.

Erschüttert war sie von einer Kirchengemeinde, die über Aids als Strafe Gottes diskutierte

Mönche wiederum wollten von ihr wissen, ob Homosexualität nicht doch therapierbar sei, und ließen sich durch ihr klares Nein zum Nachdenken bewegen. „Tief erschüttert“ war sie dagegen von einer Kirchengemeinde, die stundenlang über Aids als Strafe Gottes diskutierte – bis Dagmar Melz auf den Tisch schlug und fragte: „Muss ich Ihnen jetzt das Beispiel vom barmherzigen Samariter erzählen?“

Barmherzige Samariter (Foto: Dieter Schütz)
Bei Aids oft vergessen: das Beispiel des barmherzigen Samariters (Foto: Dieter Schütz)

Sie nennt es Wildwest-Zeiten, wenn sie von den Drohanrufen, ihrem zerkratzten Auto oder dem Leserbriefschreiber berichtet, der – als sie zusammen mit einer Mitarbeiterin des Gesundheitsamts eine Aids-Beratungsstelle direkt am umzäunten Klinikgelände einrichtete – empfahl, sie „mit dem gesamten Schmutz dort einzusperren und den Zaun unter Strom zu setzen“.

Beirren ließ sich die junge Frau dadurch nicht. Im März 1987 gründete sie zusammen mit HIV-Positiven, deren Freunden und Angehörigen, interessierten Homo- und Heterosexuellen sowie einigen Politikern die AIDS-Hilfe Wuppertal. Sie wurde in den Vorstand gewählt, wobei ihr Doktortitel und ihr Status als Ärztin die Suche nach Räumlichkeiten und einer Bank, die ein Konto für den Verein einrichtete, erleichterte und sie eine Brücke zwischen Aidshilfe, Medien und Behörden herstellen konnte.

Ein Privatleben fand für sie schlicht nicht statt

Ein Privatleben fand für sie schlicht nicht statt, an Zeit für eine eigene Familie war gar nicht zu denken. „Aber es war alles gut so, ich fand das, was ich tat, so sinnvoll und sinnstiftend, dass ich auch im Nachhinein nichts davon missen möchte. Ich hatte das Gefühl, ich bin dafür auf die Welt gekommen.“ Endlich war einmal ihr Kopf gefordert, wenn sie sich mit Juristen, Journalisten oder anderen Medizinern auseinandersetzen musste. Und sie erfuhr die besondere Wertschätzung, in einige Schwulenclubs als erste und einzige Frau eingelassen zu werden.

Die neuen DAH-Ehrenmitglieder Dagmar Melz und Jean-Luc Tissot-Daguette (Foto: Heike Gronski)
Die neuen DAH-Ehrenmitglieder Dr. Dagmar Melz und Jean-Luc Tissot-Daguette (Foto: Heike Gronski)

Wenn ihr Dienst es zuließ, setzte sie sich nachts an das Bett ihres ersten Aids-Patienten, der schnell die typischen Erkrankungen entwickelte und schließlich erblindete, sich aber nie beklagte und immer versuchte, Ärzten und Schwestern die Arbeit mit ihm zu erleichtern. Als sie ihn einmal auf den nahenden Frühling hinwies, er sich aber aufgeben wollte, sagte sie ihm: „Ihre Aufgabe ist ganz wichtig. Sie sind so geduldig und friedlich; sie stoßen das Tor auf für alle, die nach Ihnen kommen.“

Mit dem Patienten verbindet sie noch eine Grenzerfahrung ihres Lebens. Beim Anlegen einer Blutkultur rutschte ihr die dicke, kurze Nadel ab und stach ihr tief in die Hand; ein ordentlicher Klacks seines Blutes traf auf die Einstichstelle. Als sie beim Durchgangsarzt ankam, um den Betriebsunfall zu melden, hatte sich die Kunde davon schon zu ihm durchgesprochen. Alle hielten sich nun noch ferner von ihr, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie als Ärztin bis zum Testergebnis besser nicht arbeiten sollte – schon gar nicht im Notarztwagen, in dem Handschuhe damals noch kein Standard waren.

Vor der Wahl zwischen Selbstaufgabe und Hoffnung

Es wäre ihr schon schwer gefallen, sich vom Leben zu verabschieden; zu vieles wäre unerledigt geblieben. In den drei Monaten Wartezeit bis zum Test sah sie sich vor der Wahl zwischen Selbstaufgabe und Hoffnung; sie entschied sich für Letzteres, der Test war negativ.

Mit 47 Jahren hat Dagmar Melz dieses Glück nicht mehr. Sie infiziert sich bei der Arbeit mit dem Coxsackie-B3-Virus, der ihr Herz kontinuierlich schwächt und inzwischen zu so vielen Nebenerkrankungen geführt hat, dass sie keine Aussicht mehr auf eine Transplantation hat. Ihre ursprüngliche Prognose – zwei Jahre Lebenserwartung, wenn nicht transplantiert wird – hat sie inzwischen um 13 Jahre überlebt.

Sie lebt mit Sauerstoffgerät und 25 Tabletten am Tag

Sie ist damit der einzige bekannte Fall, der der Krankheit so lange trotzt, für den sich mangels Masse aber keine Forschung lohnt. Sie lebt mit Sauerstoffgerät und 25 Tabletten am Tag und ist froh, dass es diese Medikamente gibt. Sie verwendet, bevor sie das Haus verlässt, viel Zeit auf ihr Make-up und freut sich über Komplimente, dass man ihr die Krankheit nicht ansieht. Sie lacht viel und ist eine Meisterin der Ironie.

Sie steht auch jetzt vor der Wahl, sich aufzugeben oder sich weitere Jahre und etwas Lebensqualität zu erkämpfen. „Sie können sich sicher denken, wofür ich mich entschieden habe“, sagt sie und will sich jetzt, als neues Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe, wieder in dem Feld engagieren, in dem sie Pionierarbeit geleistet hat.

Porträt des DAH-Ehrenmitglieds Jean-Luc Tissot-Daguette

Zurück

21. März: Internationaler Tag gegen Rassismus

Weiter

Ideengeber, Motor und Macher

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

9 + 1 =

Das könnte dich auch interessieren