Hände in HandschellenMit 22 Jahren war sie Klägerin im Strafprozess gegen den Mann, bei dem sie sich mit HIV angesteckt hat. In Neuseeland war es das erste Justizverfahren dieser Art von vielen, die noch folgen sollten. Heute, gut 20 Jahre später, setzt sich Marama Pala vehement gegen die Kriminalisierung der HIV-Übertragung ein. Nicholas Feustel sprach mit der hauptberuflichen HIV-Aktivistin.

Marama Pala, wie haben Sie von Ihrer HIV-Infektion erfahren?

Ich lernte jemanden aus Afrika kennen. Wir verbrachten nur eine Nacht zusammen, dann kümmerte ich mich wieder um mich selbst und machte weiter wie zuvor. Nachdem er zwei Wochen weg war, fühlte ich mich irgendwie krank, aber ich dachte mir nicht viel dabei. Trotzdem ließ ich gleich einen HIV-Test machen, und das Ergebnis war negativ, weil ich noch in der sogenannten Serokonversion war. (Anm.d.Red.: Die Serokonversion ist die Phase, in der das Immunsystem HIV-Antikörper entwickelt.)

Erst als ich die Zeitung schaute, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Auf der Titelseite war ein ganzseitiger Artikel mit seinem Foto und der Überschrift „Gesicht der Angst“. Darunter stand: Dieser Mann hat überall in Neuseeland Frauen mit HIV infiziert“, und: „Rufen Sie diese Nummer an, wenn Sie mit ihm Kontakt hatten.“ Ich drehte natürlich durch, wählte die Nummer, und ein Polizist meldete sich. Er sagte zu mir: „Wir hoffen, dass Sie nicht positiv sind. Aber falls doch, würden Sie uns helfen, dieses Monster zu stoppen?“

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich war gerade mal 22 Jahre alt und sagte: „Okay, ja, ich helfe Ihnen“, ohne zu wissen, was diese Entscheidung nach sich ziehen würde. Ich ging nochmal zum Test, und diesmal war er positiv. Und damit fing alles an. Ich hatte das Gefühl, überhaupt keine Kontrolle darüber zu haben. Es war, als wäre eine Kugel ins Rollen gekommen.

Eine Polizistin kam zu mir nach Hause und nahm meine Aussage auf. Man sagte mir, er habe diese furchtbaren Dinge mit vielen Frauen gemacht. Sie sagten, ich sei eine von mehreren Frauen, die jetzt genauso handelten wie ich. Allerdings wusste ich damals nicht, dass diese fünf anderen Frauen sich gar nicht bei ihm angesteckt hatten.

Man hat Sie also in eine bestimmte Richtung drängen wollen.

Sie wollten mir klarmachen, dass er mich absichtlich mit HIV infiziert hat. Der Prozess dauerte 18 Monate, und mir kamen allmählich Zweifel. Hat er es absichtlich getan oder war er nicht informiert? Wusste er, was er hatte? Die Klärung erfolgte durch einen Arzt, der am Gerichtsprozess teilnahm und ihn diagnostiziert hatte. Dieser Arzt hatte ihm alles gesagt, was man bei einem positiven Test machen muss: Safer Sex, Kondome benutzen und so weiter – aber er hat das nicht befolgt.

Mir wurde vermittelt, dass er ein Monster ist, das absichtlich andere Menschen infiziert, und dass ich meinem Land einen Dienst erweisen würde, wenn ich ihn stoppte. Das war zu viel für mich. Ich versuchte immer noch, mit der Tatsache fertig zu werden, dass ich HIV-positiv war. Und ich glaubte, ich würde binnen eines Jahres sterben.

Im Gerichtsprozess entstand eine Freund-Feind-Situation: er der Bösewicht und ich das arme kleine Opfer. Der erste Verteidiger stellte sich sogar auf meine Seite – das hatte ich nicht erwartet. Das Ganze war eine traumatische Erfahrung. Die Berichterstattung in den Medien war ungeheuer. Er war mindestens einmal pro Woche im Fernsehen, immer mit kleinen Neuigkeiten zu seiner Person. Ich wurde von Kameras verfolgt, und vor meiner Tür tauchten Leute auf, die mich interviewen wollten. Es war wirklich verrückt.

Wie ging der Prozess dann aus?

Sie ließen die Anklage wegen vorsätzlicher Übertragung einer Krankheit fallen und verurteilten ihn wegen schwerer Körperverletzung zu sieben Jahren Haft. Er saß schließlich fünf Jahre, dann wurde er nach Kenia ausgewiesen. In den fünf Jahren war er fast immer sehr krank wegen Tuberkulose, aber er lehnte jede Behandlung gegen HIV oder Tuberkulose ab.

Portrait Marama PalaDie 18 Prozessmonate waren für Sie äußerst belastend. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?  

Als sie sich nicht entscheiden konnten, ob er mich absichtlich infiziert hatte oder nicht, und der Richter sagte, es gebe dafür nicht genügend Beweise, wollte ich aufhören. Ich sagte zum Staatsanwalt: „Ich will das nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“ Und dann beauftragten sie einen Polizisten. Der kam oft zu uns nach Hause und rief mich ständig an. Und immer wieder sagte er, wie schlimm dieser Kerl sei und was er den Leuten angetan habe. Er sagte zum Beispiel: „Er hat eine 16-jährige Jungfrau vergewaltigt und sie mit HIV angesteckt“, und stellte ihre Eltern meinen Eltern vor.

Diese ganze Manipulation im Hintergrund! Aber obwohl ich nicht mehr weitermachen wollte, kam irgendwann der Punkt, wo ich glaubte, nicht mehr aussteigen zu können. Ich dachte, wenn ich aussteige, bleibt er frei und kann weiterhin Frauen mit HIV infizieren. Ich fühlte mich moralisch stark verpflichtet.

Aber Sie waren nicht von seiner Schuld überzeugt.

Sie wollten mich überzeugen, dass er sich absichtlich an schutzlose Mädchen und Frauen heranmachte, um sie zu infizieren. Aber obwohl ich damals noch recht jung war, wusste ich schon: „Nein, dazu gehören immer zwei“, und ich wollte es genauso wie er. Ich hatte sogar Kondome dabei. Wir diskutierten über ihren Gebrauch. Und er sagte, es gehe ihm gut, er habe ein Kind, und: „Schau mich an, ich bin so gesund!“ Ich selbst wusste nichts über HIV, und da dachte ich, ja, er kommt mir recht gesund vor.

Trotzdem fühlte ich mich betrogen, denn er hätte ja einfach sagen können, gut, wir benutzen Kondome. Wahrscheinlich habe ich deshalb weitergemacht, aber ich war nicht überzeugt, dass er absichtlich gehandelt hat. Ich dachte, dass da vielleicht eine Sprachbarriere war oder – falls er doch absichtlich Frauen infiziert haben soll – dass so etwas nur Leute machen, mit denen etwas nicht stimmt, die mental gestört sind.

Was hat Sie auf diesen Gedanken gebracht?

Warum sollte man jemanden auf diese Weise verletzen wollen? Was steckt dahinter? Als ich mit ihm zusammen war, redete er über die Zeit, als er Kindersoldat im Somalia-Krieg war. Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagte oder nicht, aber er war ziemlich überzeugend. Daher dachte ich, er hat vielleicht eine posttraumatische Störung davongetragen.

Ich glaube, es gibt auch einen kulturellen Unterschied. Tatsächlich war er Ugander, aber mit einem gestohlenen kenianischen Pass hierhergekommen. Die Kultur in Neuseeland, wo sich Monogamie und Christentum durchgesetzt haben, ist vollkommen anders als dort. Man könnte sagen, er war der Typ, der in jedem Hafen eine Frau hat.

Wie sollte man heute idealerweise mit einem solchen Fall umgehen?

Dazu muss ich Folgendes vorausschicken: Er war bereits polizeilich und auch im öffentlichen Gesundheitssystem registriert, weil sich eine von ihm infizierte Frau gemeldet hatte. Aber sie konnten ihn nicht anklagen, weil nicht zu beweisen war, dass ein Arzt in Neuseeland ihn diagnostiziert und informiert hatte. Es waren ausschließlich Gerüchte und Annahmen, dass er von seiner HIV-Infektion wusste.

Es müsste ein System geben, das mit Menschen arbeitet, die für andere ein Risiko darstellen. Hätte man ihn damals verpflichtet, sich beraten zu lassen, hätte man ihn mental unterstützt und geschult, hätte man ihm gegeben, was auch immer er brauchte, wären viele von uns nicht infiziert worden.

Und Sie selbst, hätten Sie gern noch einmal mit ihm gesprochen?  

Ja. Ich hätte mir eine Art vermittelndes persönliches Gespräch mit ihm gewünscht, um ihm mitzuteilen, wie ich mich fühlte. Ich hatte nie Gelegenheit, ihm zu sagen: „Schau, du hast mein Leben wirklich verändert. Das hast du mir angetan.“ Das wäre für meine Heilung und meine Weiterentwicklung wirklich hilfreich gewesen. Ich glaube, das hätte auch ihm geholfen, denn dann hätte er sich entschuldigen oder zeigen können, dass er ein Mensch war und dass man ihn wie einen Menschen behandelte. Aber ihn einfach nur einzusperren, das fand ich nicht richtig.

Leute außerhalb des HIV-Bereichs glauben, dass ich dem Land einen Dienst erwiesen habe. Aber ich muss ihnen erklären, dass das nur noch mehr Stigma und Diskriminierung verursacht hat – und dass wir alle dadurch verletzbar geworden sind. Denn jetzt bin ich ein Mensch mit HIV, der verfolgt werden könnte.

Was hat Sie letztlich dazu gebracht, gegen Kriminalisierung einzutreten?

Das war, glaub ich, als ich gesehen habe, wie verletzbar Frauen sind. Ein Partner beschließt, sich zu rächen, oder möchte das tun – ich erkannte, wie vielen Frauen so etwas passieren kann. Und nicht nur Frauen. In den Schwulen-Communities ist es genauso. Wenn sie sauer auf ihren Partner sind, können sie zur Polizei gehen und ihn beschuldigen, er hätte sie gefährdet. Da habe ich allmählich verstanden, dass wir nicht auf diese Weise damit umgehen können.

In Neuseeland gibt es ein Māori-Verfahren der opferorientierten Justiz. Das gilt nur für die indigenen Māori, wird nur in unseren reservationsartigen Gebieten praktiziert und ist eine Alternative zur strafrechtlichen Verfolgung. Aber auf ihn konnte es nicht angewandt werden, weil er nicht aus unserem Land kam. Und weil er wegen seines gestohlenen Passes ohnehin schon illegal hier war, dachten sie, sie müssten ihn ins Gefängnis stecken. Aber man kann das auch anders machen.

Marama Pala ist heute Geschäftsführerin von INA – Māori, Indigenous and South Pacific HIV/AIDS Foundation (www.ina.maori.nz). Die Organisation setzt sich für die HIV-bezogenen Belange der Māori, der indigenen Nation Neuseelands, und anderer Menschen im südpazifischen Raum ein.

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