Vor 25 Jahren wurde in Leipzig die erste regionale Aidshilfe der DDR gegründet.

In den ersten Monaten nach dem Mauerfall herrschte in der DDR allerorten Aufbruchstimmung und Gründungsfieber, insbesondere in der schwulen Szene. Konnten sich schwul-lesbische Interessengruppen bislang lediglich unter dem Dach der evangelischen Kirche formieren, waren nun Vereinsgründungen uneingeschränkt möglich.

In Leipzig wurden so beispielsweise der Schwulenverband Deutschland und der schwul-lesbische Selbsthilfeverein RosaLinde gegründet, und am 30. März 1990 trafen sich in der Bibliothek der Evangelischen Kirchengemeinde 18 Männer und Frauen, um die AIDS-Hilfe Leipzig ins Leben zu rufen – die erste regionale Aidshilfe-Organisation der DDR überhaupt.

Schon seit Mitte der 1980er-Jahre hatte man in dem kirchlichen schwul-lesbischen Arbeitskreis über Aids diskutiert. In der DDR-Öffentlichkeit spielte das Thema bislang eine vergleichsweise geringe Rolle – anders als etwa in den Westmedien mit ihrer oftmals recht reißerischen Berichterstattung, die allerdings auch in der DDR wahrgenommen wurde.

Keine zielgruppenspezifische Prävention durch die Gesundheitsbehörden

Der Staatsapparat hatte zwar bereits 1986 auf die Bedrohung reagiert und der Minister für Gesundheitswesen eine AIDS-Beraterkommission unter Leitung von Prof. Dr. Niels Sönnichsen eingerichtet. Doch anders als in der Bundesrepublik hielt man eine zielgruppenorientierte Prävention nicht für notwendig.

Diese Lücke versuchten daher, soweit es ihnen möglich war, die kirchlichen Arbeitskreise Homosexualität zu füllen. So auch in Leipzig.

„Es ging in erster Linie um Aufklärung, um dem befürchteten ‚Einfall‘ des Virus mit Wissen und entsprechendem Verhalten der Schwulen zu begegnen“, erinnert sich Werner Stuber, einer der Mitbegründer der Leipziger AIDS-Hilfe. „Die Befürchtung, dass in Leipzig bereits Infizierte und Erkrankte leben könnten, war dagegen weitaus geringer.“

Im Gründungsjahr der AIDS-Hilfe Leipzig waren in der DDR 135 Menschen mit HIV und Aids bekannt. Doch man war sich sicher, dass mit der Öffnung der Grenze die Ausbreitung des HI-Virus eine größere Dynamik bekommen würde. Mit einer offensiven Präventionsarbeit, so die Ansicht der Vereinsgründer, konnte nicht länger gewartet werden.

Euphorie der Aufbauphase

Nach dem formalen Akt in der Studentenbibliothek begann die von Euphorie, breiter Unterstützung und Improvisationstalent begleitete Aufbauphase. Zu den eineinhalb Dutzend Gründungsvätern und -müttern stießen bald ausreichend weitere Freiwillige hinzu.

Die ersten Faltblätter wurden kurzerhand in der Uniklinik vervielfältigt – mit tatkräftiger Unterstützung der dortigen Sekretärin. Außerdem wurden von der Berliner AIDS-Hilfe (BAH) und der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) in großem Stil Aufklärungsbroschüren und Plakate zur Verfügung gestellt, auch wenn, wie Stuber zugibt, die „oftmals sehr offene Sprache in den Materialien häufig ungewohnt war“.

Sehr bald schon war es für die ehrenamtlichen Mitarbeiter der AIDS-Hilfe Leipzig möglich, an Weiterbildungsveranstaltungen etwa der BAH und DAH teilzunehmen. Die breit gefächerte Unterstützung und Förderung war willkommen und hilfreich, doch regte sich auch ein wenig Unbehagen. „Wir mussten damals überhaupt erst einmal mit dem Vereinswesen zurechtkommen und in dieser sehr bewegten Zeit eigene Strukturen aufbauen“, erzählt Werner Stuber. „Wir hatten aber manchmal das Gefühl, dass man uns – durchaus gut gemeinte – Strukturen überstülpen wollte, die zwar im Westen ihre Berechtigung gehabt haben mögen, aber für uns in Leipzig überhaupt nicht passend waren.“

Deutsch-deutsche Kooperationen

Im Nachhinein eher skurril erscheint ihm auch der Besuch des Filmregisseurs Rosa von Praunheim, der mit einem seiner Aids-Filme angereist war und vor der Vorstellung im Filmkunsttheater Casino die Vorstände der AIDS-Hilfe dazu nötigte, vor dem Kinovorhang Kondome aufzublasen – um, wie Stuber es formuliert, „an der dabei zutage tretenden Unsicherheit unsere Spießigkeit und Unfähigkeit, offen mit dem Thema HIV und Aids umzugehen, zu demonstrieren.“

Und es gab auch Unterstützung von ganz unverhoffter Seite, erzählt Stuber, nämlich von vielen der zuständigen Stellen in der Verwaltung und im öffentlichen Gesundheitswesen, die sich zu dieser Zeit selbst in einem großen Umbruch befanden. Problematisch war anfangs jedoch deren Haltung zum HIV-Test.

„Die staatliche AIDS-Politik war eine Verlängerung der Präventionspolitik der klassischen Geschlechtskrankheiten wie Syphilis oder Gonorrhoe. Es ging darum, Infektionsketten ausfindig zu machen“, erläuterte der Sozialwissenschaftler Rainer Herrn in einem Interview mit der Deutschen AIDS-Hilfe.

Kampf um anonyme HIV-Tests

Das hieß im Klartext: HIV-Positive und Aidskranke sollten ihre Sexualpartner benennen, um klären zu können, ob auch sie HIV-infiziert sind. Dem von der AIDS-Hilfe geforderten anonymen Test stimmten die Leipziger Behörden daher erst nach vielen Gesprächen zu und überwanden dadurch das alte Denken in den Köpfen.

Nicht minder schwierig war es in der Aufbauphase, ausreichend finanzielle Mittel zu beschaffen, um auch hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigen zu können. Zugleich stellte sich das Problem, geeignete Personen für die Besetzung der Stellen zu finden, „denn bis dahin hatte kaum jemand spezielle Kenntnisse auf diesem Gebiet beziehungsweise beherrschte geeignete Methoden zur Wissensvermittlung“, sagt Werner Stuber.

Doch auch dieses Problem wurde gelöst. Aus zunächst zwei ABM-Stellen wurden bald drei Sozialarbeiterstellen und eine Dreiviertel-Stelle für die Verwaltung. Und weil die öffentlichen Mittel naturgemäß für die Arbeit einer Aidshilfe nie ausreichen, wagte man in Leipzig eine eher ungewöhnliche Form des Fundraisings: Man veranstaltete eine Benefiz-Kunstauktion, und zwar äußerst erfolgreich. Fast alle angesprochenen Leipziger Maler und Grafiker stellten Werke für die Versteigerung zur Verfügung.

1992 allerdings zeigte sich, dass nicht alle Menschen in der Stadt so aufgeschlossen gegenüber ihrer Aidshilfe waren. Die Räume in der alten „FDJ-Villa“, die man sich unter anderem mit einer Krabbelgruppe und einer Punkband teilte, waren für die vielen Mitarbeiter längst zu klein geworden.

„Schmuddelverein“ AIDS-Hilfe

In der Salomonstraße hatte man bereits ein neues Domizil für die Beratungsstelle in Aussicht, und zuletzt waren auch die notwendigen Gelder vom Sächsischen Minister für Soziales, Gesundheit und Familie, Dr. Hans Geisler, bewilligt worden. Doch dann machte der Eigentümer unerwartet einen Rückzieher.

„Die AIDS-Hilfe war immer noch ein ‚Schmuddelverein‘, und der Vermieter wollte damit nichts zu tun haben“, erinnert sich das Gründungsmitglied Andreas Märten. So wurde dann innerhalb von drei Monaten und trotz einiger Rückschläge während der Umbauphase die ehemalige Röntgenabteilung der Poliklinik in den neuen Sitz der Leipziger AIDS-Hilfe verwandelt.

25 Jahre nach ihrer Gründung ist aus dem kleinen Verein eine mitgliederstarke Aidshilfe erwachsen, die mit zu den größten Ostdeutschlands gehört und auch innerhalb des Bundesverbands eine wichtige Stelle einnimmt. Und sie war, nicht zu vergessen, 2006 ein hervorragender Gastgeber der „Positiven Begegnungen“, der bundesweiten Konferenz zum Leben mit HIV/Aids.

Und im Jahr darauf würdigte das Staatsministeriums für Soziales des Freistaates Sachsen die Arbeit der Leipziger AIDS-Hilfe mit einer ganz besonderen Auszeichnung, der erstmals verliehenen Ehrenmedaille „Für herausragende Leistungen im Kampf gegen HIV und AIDS“.

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„Wir hatten das gemeinsame Interesse, die Aidspolitik zu verändern“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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