Der schlichte Veranstaltungstitel täuscht. Der „Fachtag Selbsthilfe“ war vielmehr eine kleine Ausgabe der „Positiven Begegnungen“: ein Mammut-Workshop mit Aktivistinnen und Aktivisten aus fast allen Bereichen der positiven Selbsthilfe.

Die Zweifel sind längst verflogen. Mehr noch: Das 2012 auf der Selbsthilfe-Konferenz Positive Begegnungen (PoBe) in Wolfsburg eingeführte Arbeitsprinzip bundesweiter, Community-übergreifender Themenwerkstätten erwies sich bereits im ersten Durchlauf als erfolgreicher als erwartet. Wie produktiv Männer und Frauen, Schwule und Heteros, Drogengebraucher und Migranten zusammenarbeiten können, das zeigen die zahlreichen, ganz handfesten Resultate der ersten Themenwerkstätten.

Doch die Positiven Begegnungen, auf der die Arbeitsergebnisse präsentiert und neue Arbeitsthemen bestimmt werden, finden nun mal nur alle zwei Jahre statt. Mit dem erstmals durchgeführten Fachtag Selbsthilfe sollte nicht nur die Zeitspanne verkürzt werden, die unterschiedlichen Arbeitsgruppen und Netzwerke sollten zudem die Möglichkeit bekommen, sich auszutauschen, Anregungen zu geben und Synergien zu nutzen.

Netzwerke und Synergien nutzen

Ob das funktionieren kann? Rund 45 Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen, aus Themenwerkstätten und Netzwerken, Einzelkämpfer, Neu- und Wiedereinsteiger in der HIV-Selbsthilfe – und zumeist in mehreren Projekten aktiv –, waren ins thüringische Bad Blankenburg gekommen, um den Versuch zu wagen, die eigene Arbeit mit Gruppen aus der Community zu diskutieren, die sich sonst vor allem mit anderen Themen der Selbsthilfe beschäftigen. Die zu Beginn von manchen geäußerte Skepsis, insbesondere was diese für alle neue Arbeitsweise anging, erwies sich schnell als unbegründet.

Acht Themenwerkstätten und Netzwerke hatten die Gelegenheit genutzt, im Rahmen des World-Cafés den aktuellen Stand ihrer Projekte vorzustellen und mit anderen Teilnehmern zu diskutieren. Nach jeweils einer halben Stunde wurden die Gesprächsrunden neu gemischt. An den vier wichtigsten Themen wurde anschließend noch einmal weitergearbeitet. Das bot die Möglichkeit, sich nacheinander sehr intensiv mit ausgewählten Themen zu beschäftigen und sich produktiv in bereits laufende Prozesse einzubringen.

Zum Beispiel in die Arbeit zum Umgang mit psychischen Erkrankungen bei HIV-Positiven. So sucht die Themenwerkstatt HIV und Psyche nach Wegen, wie Tabuisierung und Stigmatisierung gerade auch innerhalb der eigenen Community aufgebrochen werden können. Zudem gibt es auch in der psychosozialen Beratung und Behandlung Verbesserungsbedarf, wie in der Runde deutlich gemacht wurde.

Internetplattform rund um das  Leben mit HIV

Heike Gronski nutzte den Fachtag, um mit Teilnehmenden Ideen für eine geplante Internetseite zu entwickeln, deren inhaltlicher Fokus auf das Leben mit HIV und Selbsthilfeaktivitäten gerichtet sein wird. Die Informations- und Kommunikationsplattform soll partizipativ entwickelt werden und 2017 online gehen.

Für Carsten Schatz von Positiv e.V. wiederum war der Fachtag eine ideale Gelegenheit, um Anregungen für die Positiven-Uni im Januar 2016 in der Akademie Waldschlösschen zu sammeln. Dort soll unter anderem der Frage nachgegangen werden, ob und wie die Community der HIV-Positiven angesichts der aktuellen Entwicklungen neue politische Strategien entwickeln muss. Auch das Konzept der Strukturellen Prävention will man auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls den neuen Lebensrealitäten anpassen.

Die Themenwerkstatt Diversity fordert, das Leitbild der DAH ernst zu nehmen, die Vielfalt in der Community sichtbar zu machen und in allen Gremien, Angeboten und Orten zu spiegeln. Die Chancen und Ressourcen, die sich aus dieser Vielfalt ergeben, seien längst nicht genutzt.

Die Positiven Begegnungen 2016 sollen deshalb ganz im Zeichen der Vielfalt stehen, unter anderem, indem gezielt Räume und Anlässe für Austausch, Interaktion und bewusste Begegnungen der unterschiedlichen Gruppen innerhalb der HIV-Community geschaffen werden.

 Für mehr sichtbare Vielfalt in der HIV-Community

Inwieweit Diversity und ein gleichberechtigtes Miteinander nicht nur hehrer Wunsch, sondern bereits gelebte Praxis in Aidshilfen und anderen Beratungseinrichtungen sind, müsse eingehender untersucht werden, so der vielfach geäußerte Wunsch.

Das Stichwort Qualitätssicherung zog sich wie ein roter Faden durch mehrere Arbeitsgruppen und Diskussionsrunden. So konzipiert beispielsweise die Themenwerkstatt Diskriminierung im Gesundheitswesen mit „Praxis der Vielfalt“ ein Gütesiegel , das an Praxen, Pflegeinrichtungen und Kliniken verliehen werden soll, die im Sinne einer Selbstverpflichtung einen diskriminierungsfreien Umgang mit Patienten aus den unterschiedlichsten Lebenswelten nachweisen können. Denn viel zu oft müssen HIV-Positive, Drogengebraucher, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*- und Inter*-Menschen wie auch Migranten im Gesundheitswesen mit Diskriminierung rechnen.

Das Netzwerk Frauen und Aids wiederum entwickelt mit „FrauenCheck“ einen Kriterienkatalog, mit dem Beratungsstellen (und Aidshilfen im Besonderen) selbst überprüfen können, inwieweit ihre Angebote den Bedürfnissen HIV-positiver Frauen gerecht werden. Denn dass es eine strukturelle Benachteiligung gibt, sei nicht von der Hand zu weisen, so die Kritik. Frauen würden bewusst oder unbewusst innerhalb der HIV-Community, aber auch in den Beratungseinrichtungen ausgegrenzt oder stiefmütterlich behandelt.

„FrauenCheck“ für Aidshilfen und  Beratungseinrichtungen

So gebe es zum Beispiel immer noch Aidshilfen, die weder eine für Frauen offene, geschweige denn eine frauenspezifische Gruppe anbieten. Aber auch das HIV-Schnelltestangebot sei bei vielen Aidshilfen auf Männer beschränkt, die Sex mit Männern (MSM) haben. Und wenn mutige Frauen es dennoch zu fragen wagen, müssten sie damit rechnen, vor Ort ab- und an ihren Gynäkologen oder das Gesundheitsamt verwiesen zu werden.

Die sehr engagiert geführten Diskussionen um den Kriterienkatalog „FrauenCheck“ gingen recht schnell in die grundsätzliche Frage über, inwieweit es für die Beratung bei lokalen und regionalen Aidshilfen verlässliche Standards gibt und diese auch tatsächlich eingehalten werden.

Noch grundlegender verlief die Diskussion mit der Themenwerkstatt Politischer Aktivismus. Um wirkungsvolle Aktionen gegen die Stigmatisierung von Menschen mit HIV entwickeln zu können, will man hier zunächst nach deren Ursache fahnden.

HIV ist durch die Kombinationstherapie von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit geworden, und die lange als „Virenschleudern“ beschimpften Positiven sind, wenn sie erfolgreich behandelt werden, nicht mehr infektiös. Dennoch hat sich die Haltung der breiten Gesellschaft gegenüber HIV-Positiven nicht wesentlich verändert. Ist die Ursache womöglich ein unbewältigtes kollektives Trauma? Ausgelöst in den 1980er-Jahren, als man sich schutzlos einer damals unkontrollierbaren, rätselhaften und die Menschheit bedrohenden Krankheit ausgesetzt sah?

Die Aidskrise als unbewältigtes kollektives Trauma

Auch hier verlief die Diskussion überaus impulsiv und konzentriert. Vor allem zeigte sich, dass auch innerhalb der HIV-Community noch dringender Gesprächsbedarf besteht: nämlich zwischen jenen, die bereits vor 1996, der Einführung der antiretroviralen Therapie, mit dem Virus lebten, und jenen, die unter völlig anderen Voraussetzungen mit ihrem positiven Testergebnis zu leben gelernt haben.

Die Auseinandersetzung, das wurde schnell deutlich, steht erst am Anfang und trifft offenbar auch ein Tabu. Dass in den ersten Arbeitstreffen der Themenwerkstatt beziehungsweise in Bad Blankenburg nicht nur offen über die vielschichtigen Folgen dieser Traumatisierung gesprochen wurde, sondern auch über Geschichtsvergessenheit beziehungsweise über mangelnden Respekt vor dem, was die erste HIV-Generation erlitten und erkämpft hat, setzt ein Zeichen.

Mit ganz handfesten Ergebnissen endeten hingegen die Gesprächsrunden zum Thema Kriminalisierung. So ist nicht nur ein markant gestalteter Flyer in Arbeit, der Menschen dazu anregen soll, über die eigene, womöglich unbewusste Stigmatisierung von HIV-Positiven nachzudenken. Für die CSD-Kampagne 2016 soll es zudem eine bundesweit koordinierte Aktion geben.

Von den ersten Ideen bis zur Planung der Umsetzung brauchte es nur wenige Stunden, was ein gutes Beispiel dafür ist, welche besonderen Chancen und Möglichkeiten dieser Fachtag für die Arbeit innerhalb der Selbsthilfe bietet.

Weil von fast allen wichtigen Kooperationspartnern, wie beispielweise der NRW-Gruppe „Posithiv handeln“, Mitstreiter praktischerweise gleich vor Ort waren, konnten auf direktem und persönlichem Wege Kontakte geknüpft, Vereinbarungen getroffen und organisatorische Strukturen aufgebaut werden. „Kompetenzen bündeln“ und „netzwerken“ gehörten an diesem Wochenende denn auch zu den am häufigsten gebrauchten Wörtern.

„Wir haben es geschafft, zu einem Wir zu kommen“

„Wir haben es geschafft, zu einem Wir zu kommen“, resümierte denn auch ein Teilnehmer. Und mit diesem „Wir“ waren nicht nur die Netzwerke und Themenwerkstätten, sondern auch das Communityboard des Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongresses (DÖAK) und der DAH-Vorstand gemeint, die ebenfalls auf dem Fachtag vertreten waren.

Für die Mitglieder eines noch neuen Gremiums war die Veranstaltung zudem eine Gelegenheit, sich vorzustellen. Die „Posithiven Gesichter“ erklärten nicht nur, als Bindeglied innerhalb der Community wie auch in den Verband hinein wirken zu wollen, sondern haben sich auch zur Aufgabe gemacht, „Selbsthilfe zu fördern und herauszufordern“.

Das elfköpfige Gremium dürfte bei dieser „kleinen PoBe“ reichlich Impulse für die künftige Arbeit mitgenommen haben, ganz besonders aber das Vorbereitungsteam, welches vor kurzem mit den Planungen für die „großen“ Positiven Begegnungen begonnen hat.

Wie sich die verschiedenen Projekte bis dahin weiterentwickeln und wie die Diskussionen ins Konferenzprogramm einfließen werden, das wird sich dann bei den Positiven Begegnungen 2016 zeigen: vom 25. bis 28. August in Hamburg.

Von Axel Schock

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

1 Kommentar

  1. „Dennoch hat sich die Haltung der breiten Gesellschaft gegenüber HIV-Positiven nicht geändert…“

    Wieso sollte „die [bundesdeutsche] Gesellschaft“ eine Haltung gegenüber HIV-Positiven haben?

    HIV ist (in Deutschland) de facto eine seltene Erkrankung. Ich glaube, es ist eine sehr hohe Erwartung, dass eine Gesellschaft Haltung zu jedweder seltenen Erkrankung zu entwickeln in der Lage sein könnte.

    Die HIV-Community wird damit leben müssen, dass es immer nur individuelle Haltungen zu einer seltenen Erkrankung geben kann.

    Wenn die Gesellschaft ohne mit der Wimper zu zucken, p.a. 4.000 Verkehrstote und 250.000 Schwerverletzte hinzunehmen bereit ist, was für einen Anlass sollte es den für eine flächendeckende, nachhaltige Entwicklung einer „Haltung“ zu HIV geben?

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