Vor Jahren aus Afghanistan geflüchtet, ist Nadia Qani heute eine angesehene Unternehmerin. In Frankfurt am Main betreibt sie einen Pflegedienst und zählt auch Homosexuelle und HIV-Positive zu ihren Kunden. Von Bernd Aretz

1980 kam Nadia Qani nach Deutschland. Ein Jahr vorher war schon ihr Mann aus Afghanistan geflüchtet, weil seine Verhaftung drohte. Über Frankreich kam er nach Frankfurt am Main. „Ich weiß bis heute nicht, wie er das ohne Visum geschafft hat“, erzählt sie. „Wir haben nie wirklich über unsere Fluchterlebnisse gesprochen – allenfalls in Andeutungen. Man will den anderen nicht belasten, selbst nicht erinnert werden, das Erlebnis aus der Seele verbannen.“

Denn die Flucht sei wie ein Trauma: „Man zahlt an korrupte Beamte, Menschen, die man als Freunde ansah, plündern einen aus, angebliche Beschützer bieten sich jungen Frauen an. Damals gab es schon eine regelrechte Fluchthelferindustrie. Eine Flucht ist teuer, man braucht Geld für Bestechungen, Transportmittel, Unterkunft, die Bezahlung von Helfern und Helfershelfern, für gefälschte Dokumente und die Zeit nach der Ankunft. Denn wenn man es tatsächlich schafft und dort ankommt, wo man hin will, steht man vor dem Nichts: keine Familie, keine Freunde, kein Netzwerk, keine gewachsenen Strukturen, gar nichts.“

„Wenn man dort ankommt, wo man hin will, steht man vor dem Nichts“

Mit Unterstützung der Familie gelingt Nadia Qani die Flucht. Auf verschlungenen Wegen mit einer langen Busreise, tage- und nächtelanger Wanderung durch die Berge und einem Grenzübertritt nach Pakistan, in einem Lastwagen mit Schmuggelwaren versteckt, nähert sie sich über London dem Ziel an, nach Deutschland und dort nach Frankfurt zu ihrem Mann zu kommen.

Der will zwar weiter nach Amerika, sie aber sieht in Europa die wahren Werte. Haben die beiden in der Heimat doch Victor Hugo, Goethe und Schiller gelesen. Ihr Mann hat das Trauma der Flucht nie verwunden, sich nicht auf eine neue Heimat einlassen können. Später scheitert die Ehe.

Als Islamisten und Taliban 1998, nachdem sie erst Bücher verbrannt hatten, nun auch das Gesicht der kleineren Buddha-Statue in Bamiyan zerstörten, war ihr klar, dass sie nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren würde. 1999 nahm sie die Staatsangehörigkeit des Landes an, in dem ihre beiden Söhne geboren und aufgewachsen sind. Sie engagiert sich politisch in der SPD und mit ihrem Verein ZAN e.V. für die Rechte afghanischer Frauen.

Mitarbeiter aus 23 Nationen betreuen Kunden aus aller Welt

Nachdem sie glücklicherweise sehr schnell als politisch Verfolgte anerkannt wurde, ernährte die Lehrerin sich und die Familie unter anderem als Putzfrau, Kassiererin, Sekretärin und mit Arbeit in der Altenhilfe. Seit 1993 hat sie einen eigenen Dienst für kultursensible Pflege und ist mittlerweile vielfach ausgezeichnete Unternehmerin. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen aus 23 Nationen, beherrschen 37 Sprachen und betreuen in Frankfurt Kunden aus aller Welt.

Dass zu denen auch schwule Männer, lesbische Frauen und mit HIV infizierte oder an Aids erkrankte Menschen gehören, ist für Nadia Qani selbstverständlich. Auf die Frage, ob denn nicht in vielen Kulturen, denen auch ihre Mitarbeiter angehören, sowohl gleichgeschlechtliche Sexualität als auch HIV ein Tabu seien, sagt sie: „Das ist auch in Afghanistan der Fall, aber das sind Vorurteile, die man abbauen muss.“

Als Frau mit einer wahrlich nicht gradlinig verlaufenen Biografie hat sie sich Bewertungen abgewöhnt: „Ich bin glücklich, in Deutschland in einer offenen Gesellschaft leben zu können, auch wenn es in manchen Bereichen immer noch keine Gleichstellung gibt. Wir haben unter unseren Kundinnen und Kunden Biodeutsche und Menschen aus aller Welt, Muslime, Atheisten, Christen und Juden. Ich möchte, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Kunden vorurteilsfrei und respektvoll begegnen. Pflege ist etwas sehr Sensibles. Das kann nicht jeder.“

Die Belegschaft ist die Seele des Betriebs

Die Belegschaft ist die Seele des Betriebs, weshalb sie viel Energie auf die Auswahl der Angestellten verwendet. Und jeder, der sich bei Nadia Qani bewirbt, bekommt vor einem Zweitgespräch zwei Ordner mit der Philosophie ihres Pflegedienstes und den Anforderungen der täglichen Arbeit mit nach Hause. Darin ist zum Beispiel vom Respekt vor dem einzelnen Menschen und seiner Biografie die Rede, zu der selbstverständlich auch die gleichgeschlechtliche Liebe gehören kann. Wer nach dem Lesen dieser beiden Handbücher keine Fragen hat, sondern alles ganz einfach findet, ist für sie ungeeignet.

Lückenlose Erwerbsbiografien oder Alter sind für sie kein Einstellungskriterium. Freude am Menschen und der Wunsch, in der Pflege zu arbeiten, sich fortwährend fortzubilden, wenn nötig, auch sofort mit einem Deutschkurs zu beginnen, sind hingegen Voraussetzung. Dafür arbeiten die Angestellten in einem familienfreundlichen Betrieb, der Aus- und Weiterbildung unterstützt.

Dabei würde sich Nadia Qani mehr staatliche Unterstützung wünschen. Sie kennt die Niederungen des Pflegealltags, der sich zwischen Dokumentationspflichten und einem strengen Zeittakt abspielt: „In Frankfurt leben siebzig Prozent der älteren Menschen in Singlehaushalten. Die wesentlichen sozialen Kontakte von Alten und Kranken finden häufig über die Besuche der Ärzte und des Pflegedienstes statt. Und wir wiederum müssen ganz engen zeitlichen Vorgaben folgen, sonst können wir wirtschaftlich nicht überleben. Unsere Patienten sind teilweise verwirrt, misstrauisch, alte Traumata der Flucht brechen wieder auf. Unter einer Demenz gehen mitunter auch später erworbene Sprachkenntnisse verloren“, erzählt sie. Deswegen ist es für sie wichtig, dass möglichst in der Heimatsprache kommuniziert werden kann und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne mit Menschen zu tun haben.

Kommunikation möglichst in der Heimatsprache

Eine Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Angeboten wie etwa den Rosa Paten und dem Café Karussell für schwule Männer ab 60 im Switchboard der AIDS-Hilfe Frankfurt hält sie für sinnvoll, sagt aber auch: „Meine Kunden müssen das wünschen.“ Und da wird es schwierig, denn wer sein Leben lang seine Sexualität versteckt ausgelebt hat, ist für solche Angebote im Grunde nicht erreichbar. Da kann man schon froh sein, wenn es ihren Mitarbeitern gelingt, dem Kunden das Gefühl zu geben, er dürfe sein, wie er ist. Aber natürlich kennt sie die Hilfsangebote, und in geeigneten Fällen greift sie gerne darauf zurück.

Die ambulante Pflege durch Selbstständige wie Nadia Qani ist ein relativ neues Phänomen. Früher wurde das im Wesentlichen in den Familien, vielleicht mit Unterstützung der Gemeindeschwester erledigt und war in ein soziales Leben eingebettet. Statt für Pflegedienste immer nur die Dokumentationspflichten weiter auszuweiten, müssten sie mehr Zeit für die Pflege bekommen, sagt Nadia Qani, müsste dem Bedürfnis der Kunden nach menschlicher Zuwendung mehr Raum gegeben werden: „Was soll denn der Pflegende machen, wenn er spürt, dass es dem anderen nicht gut geht, dass er schwermütig ist, sich einsam fühlt oder ihn die Angst vor dem Sterben plagt? Nebenher lässt sich so etwas nicht bereden. Und selbstverständlich verbietet es sich für jeden mitfühlenden Menschen, dem Gegenüber ein routiniert aufmunterndes ‚wird schon werden‘ hinzuwerfen.“

 

Nadia Qanis Autobiografie „Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan – Von der Drachenläuferin zur Unternehmerin“ ist 2010 im Krüger Verlag erschienen. Ihr Pflegedienst ist zu finden unter www.ahp-Qani.de, die Rosa Paten und das Café Karussell sind erreichbar über die AIDS-Hilfe Frankfurt.

 

 

 

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Bernd Aretz

langjähriger Mitstreiter und Wegbegleiter der Deutschen Aidshilfe, Enfant terrible und Hundeliebhaber (06.07.1948 – 23.10.2018)

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