Kürzungen bei der HIV-Prävention haben die Epidemie in Rumänien neu aufleben lassen. Betroffen sind vor allem diejenigen, die am äußersten Rand der Gesellschaft leben: Drogengebraucher_innen auf der Straße. Tomaso Clavarino hat sie besucht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Englisch im britischen Online-Magazin Lacuna. Wir danken dem Autor und Lacuna für die Erlaubnis zur Übersetzung und Veröffentlichung von Text und Bildern. Übersetzung: Literaturtest. Fotografien: Tomaso Clavarino. Der Text wurde redaktionell leicht anhand der vorliegenden epidemiologischen Daten bearbeitet, entsprechende Links wurden eingefügt.

Florin liegt im Bett. Seine Arme sind unnatürlich dünn, die Beine fast nur Haut und Knochen. Seit ungefähr einem Monat ist er im Dr.-Victor-Babeș-Krankenhaus in Bukarest und wird von der Beatmungsmaschine am Leben gehalten. Ihm bleiben nur noch wenige Wochen, sagen die Ärzt_innen.

Er stirbt an den Folgen eines Virus, über das wir in Europa nicht mehr sprechen. Es scheint weit weg zu sein, vielleicht ist es ein afrikanisches oder asiatisches Problem, aber keines, über das wir uns hier Sorgen machen.

Florin hat sich vor zwei Jahren mit HIV infiziert, er war gerade einmal 15 Jahre alt. Er lebte damals schon seit fünf Jahren auf der Straße, zog von einem verlassenen Gebäude zum nächsten und manchmal auch in die Abwasserkanalisation. In Rumänien leben rund 14.000 Menschen mit HIV [Anm. d. Red.: im Original 25.000], die meisten in der Hauptstadt.

„Eine Epidemie, wie sie im Buche steht“

„Das hier ist eine Epidemie, wie sie im Buche steht. Eine Epidemie, die im Herzen Europas Tausende Menschen tötet, ohne dass irgendjemand ein Wort darüber verliert“, sagt Dan Popescu von der NGO Aras. Diese kümmert sich um die besonders Schutzlosen der Gesellschaft wie Drogenabhängige, Prostituierte und die LGBTQ-Community. Genau das sind die Gruppen, in denen sich HIV derzeit ausbreitet. Betrug der Anteil der Drogenabhängigen an den HIV-Neudiagnosen im Jahr 2007 noch ein Prozent, lag er 2013 bereits bei 30 Prozent [Anm. d. Red.: Im Original steht, dass 53% der Drogengebraucher_innen HIV-infiziert seien; dieses Zahl bezieht sich aber auf 221 von 417 getesteten Personen aus Bukarest]. Doch wie kommt es zu dieser Epidemie? Und warum ist es so schwer, sie einzudämmen – und das in einem Land, das mittlerweile Teil der Europäischen Union ist?

„Das hat vor allem zwei Gründe“, sagt Dr. Adrian Abagiu vom Matei-Balș-Krankenhaus in Bukarest. „Erstens hat der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria mit dem EU-Eintritt unseres Landes im Jahr 2007 die Gelder für HIV-Präventionsprogramme und für Maßnahmen gegen die Folgen von HIV und Aids gekürzt. Und zweitens gab es 2009 einen Boom der sogenannten Legal Highs. Diese Substanzen sind sehr viel billiger und leichter zu bekommen, und außerdem sind sie jetzt auch noch legalisiert worden. Das hat dazu beigetragen, dass mehr Drogengebraucher diese neuen synthetischen Drogen injizieren, und das bis zu 20 oder 30 Mal täglich. Dadurch vervielfacht sich natürlich das Risiko, sich mit einer ansteckenden Krankheit wie HIV zu infizieren.“

Im Winter schlafen sie in der Kanalisation

Florin hat vorher in der Community des Gara de Nord gelebt. Dazu gehören etwa 40 oder 50 Menschen aller Geschlechter und jeden Alters – ohne Wohnsitz, ohne Job, ohne Besitz. Sie alle versammeln sich rund um Bukarests Hauptbahnhof, um dort Unterschlupf zu finden. Im eiskalten rumänischen Winter schlafen sie in den Abwasserkanälen, um die Kälte zu überleben. Im Sommer kommen sie wieder an die Oberfläche. Dann sieht man sie wie Zombies durch die Straßen und Parks gehen und auf Parkplätzen betteln, um das Geld für die nächste Dosis zusammenzukratzen. Anschließend laufen sie schnell zurück zu ihren provisorischen Behausungen, winzigen Verschlägen hinter dem Krankenhaus und gegenüber dem Bahnhof. Dort, zwischen Stockbetten und den Gasflaschen, die sie zum Kochen brauchen, leben, essen und schlafen sie – und konsumieren unentwegt Drogen. Die Luft ist zum Schneiden dick und riecht nach Klebstoff, mit dem sich die Jüngeren berauschen. Überall auf dem Boden liegen Spritzen.

Anführer dieser Gruppe war, bis er im Juli 2015 wegen Drogenhandels verhaftet wurde, eine schillernde, charismatische Figur, die jeder nur als Bruce Lee kennt – den Namen hat er sich selbst ausgesucht. Zwischen 40 und 50 Jahre ist er alt, auf den Armen hat er jede Menge Tattoos und Narben, in die Haare schmiert er sich graues Gel. Wenn er durch die Straßen patrouilliert, klemmt ein 30 Zentimeter langes Messer unter seinem Gürtel, an seiner Jacke hängen Karabinerhaken und Schlüssel.

„Drogen sind das einzige Freizeitvergnügen, das ich habe“

„Ich versuche, diesen Leuten zu helfen, ihnen ein Zuhause zu geben“, sagt Bruce Lee, „denn genauso wie sie habe auch ich nie etwas besessen.“

Kein Wort über Drogen, und natürlich auch keine Erwähnung der Krankheiten, die in diesen Behausungen grassieren: Tuberkulose und Hepatitis C. Fast jede_r ist krank. Dreimal in der Woche kommen in der Nacht Ehrenamtliche von Aras mit einer mobilen Ambulanz vorbei und verteilen sterile Spritzen sowie Kondome und versuchen damit, die Ausbreitung von Infektionen einzudämmen. Laut ihren Angaben sind 80 Prozent der Leute aus dieser Community HIV-positiv.

„Ich wurde in einem Waisenhaus geboren, mehr als einmal missbraucht und bin dann mit 12 weggelaufen. Die Straße ist mein Zuhause, Drogen sind das einzige Freizeitvergnügen, das ich habe. Sie bieten mir Zerstreuung, sind mein einziger Weg, wie ich alles vergessen kann“, sagt Nico, 17 Jahre alt, HIV-positiv, während er Klebstoff aus einer schwarzen Plastiktüte schnüffelt.

Seit dem EU-Beitritt des Landes ist der massive wirtschaftliche Abschwung die Hauptsorge der staatlichen Einrichtungen. Die verzweifelten jungen Menschen am Gara de Nord, viele von ihnen Kinder des gestürzten Ceaușescu-Regimes, sind ein soziales Übel, das man lieber verbirgt. Nur eine Handvoll örtlicher Hilfseinrichtungen nehmen überhaupt Notiz von ihnen. Eine mutige Frau sticht hier besonders hervor: Raluca Pahomi. Vor vier Jahren beschloss sie, sich um die Obdachlosen in Bukarest zu kümmern. Seither bringt sie ihnen Essen, hilft bei Behördenangelegenheiten und bringt einige von ihnen bei sich zu Hause unter.

„Die Situation schreit zum Himmel“

„Die Situation schreit zum Himmel. Diese Menschen sterben auf der Straße, ohne dass irgendjemand davon Notiz nimmt. Die Zahl der HIV-Infektionen und der Drogenabhängigen steigt. Auch die Zahl der Tuberkulose- und Hepatitis-C-Fälle ist in den letzten Jahren explodiert. Und all diese Menschen, und das sind Abertausende, haben keine Rechte, keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und nicht einmal das Recht, in Würde zu sterben.“ Raluca hatte beantragt, Florin nach seinem Tod bestatten zu dürfen. Die Behörden haben abgelehnt.

Menschen mit HIV werden in der rumänischen Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert und diskriminiert. Sie werden von der Regierung und den lokalen Behörden zu einem Leben am Rand der städtischen Gesellschaft gezwungen. Dass soziale Inklusion und Prävention die einzigen Wege sind, um die Epidemie einzudämmen, haben die noch nicht begriffen. Im Zentrum von Bukarest mit seinen vollen Läden, trendigen Bars und teuren Restaurants ist die Epidemie unsichtbar. Sehen kann man sie aber, wenn man durch die Straßen von Bukarest-Ferentari geht, einem der größten Ghettos der Stadt, in dem hauptsächlich Roma leben.

Hoher Anteil junger Menschen an den HIV-Diagnosen

Hier stehen die luxuriösen Villen der Neureichen neben verwahrlosten und zum Teil völlig heruntergekommenen grauen Gebäuden aus der kommunistischen Ära. Sobald die mobile Aras-Ambulanz vorfährt, kommen aus allen Ecken Drogenabhängige und versammeln sich um den Kleinbus, um auf neue Spritzen zu warten. Manche bringen ganze Eimer voller gebrauchter Spritzen vorbei, damit sie möglichst viele sterile Spritzen mit nach Hause nehmen können. Drogen konsumieren fast alle im Viertel, und fast alle sind HIV-infiziert oder haben Tuberkulose. In Zeiten der Krise, wenn die Armen noch ärmer werden, steigen der Substanzkonsum und die Zahl der Krankheitsfälle. Die europäischen Sparauflagen und die arrogante Haltung der Regierung von Victor Ponta [bis November 2015 Ministerpräsident, Anm. d. Red.] riskieren den Ruin einer ganzen Generation. 45 Prozent der Rumän_innen mit HIV oder Aids sind zwischen 25 und 29 Jahren alt [Anm. d. Red.: im Original Eine_r von vier Rumän_innen zwischen 19 und 24 ist HIV-positiv getestet worden – die höchste Rate in der gesamten EU; fast ein Drittel der 2012 gemeldeten Neudiagnosen entfiel auf die Altersgruppe 15 bis 24 Jahre]. … Aber HIV kennt keine obere oder untere Altersgrenze, und in den meisten Fällen endet die Krankheit in Rumänien mit dem Tod.

Die Methadon-Ausgabe im Matei-Balș-Krankenhaus wird täglich von zwei- bis dreihundert Klient_innen aufgesucht, die meisten von ihnen sind Teenager. Genau wie Romeo, Nomi, Mona und Santo, die allesamt noch keine zwanzig sind. Nachts wandern sie durch die Straßen von Bukarest, schnüffeln Klebstoff und spritzen sich „Legal Highs“ in ihre Venen. Santo, seit drei Jahren HIV-positiv, habe nur noch einen Monat zu leben, sagen sie. Eigentlich könnte er, wie einige seiner Freunde, gut behandelt werden und dadurch überleben. Aber Obdachlosigkeit, soziale Marginalisierung und Schutzlosigkeit sowie die Vorurteile der rumänischen Gesellschaft und ihrer Institutionen haben ihn zu einem vorzeitigen Tod verurteilt.

„Die Politik hält das Problem lieber unter der Decke“

„Als der Globale Fonds damals die Fördermittel zusammenstrich, weil Rumänien der EU beigetreten war, hätte die Regierung ihre Stimme erheben und sagen müssen, dass die Bedrohung durch HIV noch nicht vorüber ist“, meint Dan Popescu. „Die Kombination aus wirtschaftlichem Abschwung und der breiten Verfügbarkeit neuer synthetischer Drogen, die zum großen Teil legal und leicht in einem ganz normalen Laden zu bekommen sind, haben dann zum völligen Zusammenbruch der Situation geführt. Studien zeigen, dass Maßnahmen zur Schadensminderung sehr wirksame Instrumente sind, um die weitere HIV-Ausbreitung einzudämmen, aber die Politiker scheinen das nicht zu begreifen. Sie halten das Problem lieber unter der Decke, sprechen nicht darüber und investieren die wenigen Mittel lieber in irgendein anderes soziales Problem.“

Es sterben immer noch diejenigen, die an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt werden, die am wenigsten wichtig erscheinen – und all das im Europa des Jahres 2016.

Anmerkung der Lacuna-Redaktion:

Rumänien ist einer der Hotspots der neuen HIV-Epidemie. Wirtschaftlicher Abschwung und Kürzungen bei den Mitteln für Prävention und Behandlung haben dazu geführt, dass sich HIV vor allem unter den besonders vulnerablen Gruppen rasant ausbreiten konnte, zum Beispiel unter Drogengebraucher_innen, Sexarbeiter_innen und Obdachlosen. Mit dem EU-Beitritt des Landes hat der Global Fund seine Fördermittel für die HIV-Prävention gestrichen, und auch die EU hat die finanzielle Unterstützung für die Vergabe von sterilen Spritzen und Nadeln eingestellt. Die rumänische Regierung hat darauf nur sehr zögerlich reagiert, obwohl Studien klar zeigen, dass die Zahl der Neuinfektionen um bis zu 80 Prozent sinkt, wenn Spritzentauschprogramme eingeführt werden. Der Anteil HIV-infizierter Drogenkonsument_innen in Bukarest stieg zwischen 2007 und 2012 von 1 auf 53 Prozent. Tausende – viele von ihnen junge, nach dem Sturz des Ceaușescu-Regimes geborene Erwachsene – leben in Bukarest auf der Straße.

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