Elio, fast 50 und seit 1985 HIV-positiv, und Charlotte, knapp über 40, HIV-negativ, haben hautnah erfahren, wie aus dem einst Unvorstellbaren Realität geworden ist: Menschen mit HIV können heute auf natürliche Weise Familien gründen.

Text: Lic. Phil. Stéphane Praz, Wissenschaftsjournalistin

Der Beitrag erschien zuerst in Swiss Aids News Nr. 1/März 2016 (Herausgeber:  Aids-Hilfe Schweiz und Bundesamt für Gesundheit). Wir danken der Autorin und der Redaktion herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

„Spiel doch mit Lubbi. Mami und Papi besprechen etwas mit dem Mann.“ Doch Sara* interessiert sich im Moment gerade überhaupt nicht für Lubbi. Lubbi, die Lieblingspuppe, kann warten. Ganz im Gegensatz zum fremden Mann, der da plötzlich am Familientisch sitzt. Während ihn die zweijährige Sara vom Schoß der Mutter aus einem genauen Augenschein unterzieht, beginnt er also, Fragen zu stellen. Wie ist das, mit HIV eine Familie zu planen? Ist es ein medizinischer Spießrutenlauf? Welche Vorabklärungen sind notwendig, welche Nachbetreuung?

Na ja, Kinder kriegen, das sei wohl für niemanden ganz alltäglich, gibt Elio zu bedenken. Elio geht gegen fünfzig, ist seit 1985 HIV-positiv, seit zwei Jahren Vater eines Kindes: Sara. Mutter Charlotte, knapp über vierzig, HIV-negativ, pflichtet ihm bei. Doch die HIV-Infektion sei dabei kein großes Thema gewesen. „Kinderwunsch, Sex, Schwangerschaft, Geburt, das ist bei uns nicht anders gelaufen als bei allen anderen auch“, sagt sie. Es ist der Punkt, an dem sich herausstellt, dass die meisten weiteren Fragen wohl hinfällig sind. Ob sie eine Spermienwaschung in Betracht gezogen haben. Welche Ängste sie geplagt haben in Bezug auf eine mögliche HIV-Übertragung. Alles Fragen, die nicht mehr aktuell sind? Kinderkriegen, eine Familie haben, das kann für Menschen mit HIV heute normal sein. Einfach ganz normal.

„Nie mehr ohne“ ist vorbei

Tatsächlich, gäbe es so etwas wie einfach ganz normal, dann wäre es wohl dieser Augenblick: Ein Mann, eine Frau, ein Mädchen – mittlerweile hat Sara den Besucher an der Hand gefasst und möchte ihm ihren Spielzeugkinderwagen zeigen – in einem schmucken Einfamilienhaus. Am Küchentisch sitzend, Tee trinkend. Durchs Fenster öffnet sich der Blick auf Dächer, Wald, Felder. Irgendwo im Schweizer Mittelland.

„Gut, das mit dem ungeschützten Sex, das war bei mir schon ein längerer Prozess“, wirft Elio ein, „schließlich habe ich als HIV-Positiver zwanzig Jahre lang verinnerlicht, dass ich nie, nie, nie mehr ohne Kondom Sex haben darf.“ Und dann verabredeten sie 2007 einen Termin in der HIV-Sprechstunde am Kantonsspital St. Gallen. Um sich zu informieren, wie das mit der Spermienwaschung läuft. Doch der Arzt stellte eine ganz andere Frage: Würden Sie denn nicht gerne natürlich schwanger werden? Das war kurz bevor einige Schweizer HIV-Spezialisten das berühmt gewordene «Swiss Statement» publizierten. Dieses hielt erstmals öffentlich fest, dass HIV-Patienten unter wirksamer Therapie sexuell nicht infektiös sind.

„Da gehen neue Türen auf“, lacht Charlotte. Allerdings war sie nicht mal besonders überrascht. Auch wenn sie sich bereits an den Gedanken gewöhnt hatte, ein Kind eher auf „technische“ Weise zu kriegen. Oder gar nicht. Aber immer habe der Optimismus überwogen. Denn sie vertraue auf den medizinischen Fortschritt ebenso wie auf Gott. „Ja, dein Grundvertrauen sollte man haben.“ Elio blickt über den Tisch hinweg zu Charlotte. Seines habe er zeitweise verloren. Der Gedanke an eine Familie sei früher, im Augenblick der HIV-Diagnose, gestorben. Genauso wie man damit rechnete, auch selber nicht mehr lange zu leben. „Ich habe deshalb den Schirm bereits zugemacht gehabt“, so Elio. Dabei hat es lange Zeit so ausgesehen, als könne ihm die Infektion nichts anhaben. „Als wir uns kennenlernten, da war Elio topfit“, erzählt Charlotte. „Ich konnte kaum glauben, dass er HIV-positiv sei. Er aber meinte bloß, er ernähre sich ausgewogen und habe einen gesunden Schlaf, deshalb greife ihn das Virus wohl nicht an. Medikamente nahm er keine.“ So war es auch noch im Jahr 2000, als die beiden heirateten. Elio lebte da seit fünfzehn Jahren mit HIV.

Und plötzlich stand eine Familie oben auf dem Wunschzettel

Doch der gesunde Lebenswandel reichte nicht. Bald nach der Hochzeit machten sich bei Elio die Folgen der HIV-Infektion bemerkbar. Besonders schlimm war eine Gehirnentzündung, die nicht mehr abklingen wollte. „Aber HIV-Medikamente nehmen? Das kam für mich nicht infrage.“ Elio hatte da seine Prinzipien. Die er über Bord warf, als klar wurde: Wenn es so weitergeht, dann nicht mehr lange. Also begann er doch noch mit der Therapie. Die sehr schnell sehr gut anschlug. „Die Veränderung, die ich spürte, war dermaßen groß, dass ich mir wieder alles vorstellen konnte. Und plötzlich stand eine Familie zuoberst auf der Wunschliste.“ Der Wunsch ging in Erfüllung, wie nicht zu überhören ist. Sara verfrachtet nebenan Lubbi in den Spielzeugkinderwagen, gibt ihr lautstark klare Anweisungen. Sie bleibt eben doch die Nummer eins.

Elios Viruslast sank schnell. Innert weniger Monate war sie nicht mehr nachweisbar, sodass die Ärzte dem Paar grünes Licht für ungeschützten Sex gaben. Erst ab da wird die Geschichte ganz normal: Charlotte und Elio übten fleißig, doch der ersehnte Kindersegen wollte sich nicht einstellen. Bis sie sich dazu entschieden, die Sache weniger streng anzugehen, stattdessen lieber den Augenblick zu genießen und eine kleine Reise zu unternehmen. „Bei unserer Rückkehr war ich schwanger“, sagt Charlotte, mit beinahe entschuldigendem Schulterzucken. Alles Weitere, was während Schwangerschaft und Geburt mit HIV zu tun hatte, war der Routinetest auf HIV, wie er bei allen Schwangeren gemacht wird.

Geteilte Freude wäre doppelte Freude

Charlottes und Elios Geschichte zeugt vor allem vom grundlegenden Wandel, den die Therapie für HIV-Patienten gebracht hat. Heute können sie nicht nur auf natürliche Weise eine Familie gründen, sie können für diese auch langfristige Pläne machen. Doch wenn das alles so normal geworden ist, weshalb noch darüber berichten? Elio sagt es so: „Wir haben hautnah erfahren, wie aus dem einst Unvorstellbaren eine Realität geworden ist. Doch die Freude darüber können wir kaum teilen. Die meisten Leute sind noch in alten Bildern von HIV und Aids verhaftet, sie würden uns im besten Fall mit großen Zweifeln betrachten.“ Auch viele Menschen mit HIV zögern weiterhin, wenn es um die Familienplanung geht. Vielleicht hilft ihnen das Beispiel von Charlotte und Elio, ihre Wünsche mit Zuversicht zu verfolgen. Der beste Beweis, dass es sich lohnen kann, trippelt eben wieder vergnügt an den Tisch heran, Lubbi im Schlepptau.

* Alle Namen von der Redaktion geändert

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