Kinder zu bekommen, ist ein Lebensglück, das Paaren mit HIV-Infektion versagt schien. Heute ist der Traum von Familie längst Realität. Pietro Vernazza, Infektionsmediziner am Kantonsspital St. Gallen, betreut Paare mit Kinderwunsch.

Der Beitrag erschien zuerst in Swiss Aids News Nr. 1/März 2016 (Herausgeber: Aids-Hilfe Schweiz und Bundesamt für Gesundheit). Wir danken der Autorin, Dr. Andrea Six, und der Redaktion herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

Herr Vernazza, Sie sehen in Ihrer Klinik HIV-positive Paare, die sich ein Kind wünschen. Ist das ungewöhnlich?

Aus meiner Erfahrung taucht der Kinderwunsch dieser Paare aus genau den gleichen Gründen auf wie bei anderen Menschen. Einer davon ist das Alter: Etwa ein Drittel der HIV-Infizierten in der Schweiz sind zwischen 20 und 40 Jahren alt. Menschen befassen sich in dieser Lebensphase mit dem Thema Kinder. Warum auch nicht?

So hätten Ärzte zu Beginn der Aids-Epidemie wohl nicht geantwortet …

Nein, bis Mitte der 90er-Jahre waren HIV-Infizierte todgeweiht und das Kinderkriegen ein Tabuthema. Zu Beginn der Epidemie steckten positive Mütter, die keine Behandlung erhielten, in bis zu 25 Prozent der Fälle ihre Kinder mit dem Virus an. Das geschah während der Schwangerschaft oder unter der Geburt. Vom Stillen hat man konsequent abgeraten. Aber im Jahr 1994 begann eine wahre Erfolgsgeschichte.

Neue Möglichkeiten und sinkende Übertragungsraten

Was war passiert?

Man begann zu dieser Zeit, die werdenden Mütter und auch die Neugeborenen mit Medikamenten zu behandeln. Dies führte dazu, dass die Übertragungsrate von der Mutter zum Kind auf etwa 8 Prozent gesenkt werden konnte.

Aber 1 von 12 Kindern trug das Virus – das war immer noch ein sehr hohes Risiko.

Ja! Deshalb wurde weiter geforscht, und andere Möglichkeiten tauchten auf, wie eine HIV-positive Frau ein Kind austragen kann, ohne das Virus weiterzugeben. In den folgenden Jahren begann man, die Kinder ausschließlich mit Kaiserschnitt auf die Welt kommen zu lassen. Vom Stillen wurde abgeraten, und Mutter und Kind erhielten rund um die Geburt bestimmte Medikamentenkombinationen. So sank das Ansteckungsrisiko für das Kind weiter.

Das klingt, als seien Sie auch damit nicht zufrieden gewesen?

Knapp 2 Prozent waren uns immer noch eine zu hohe Übertragungsrate. Seit 1996 behandeln wir Mütter nun mit der hochaktiven Kombinationstherapie. Unter einer gut wirksamen, rechtzeitig eingeleiteten Therapie wurden dann gar keine Kinder mehr angesteckt. Entscheidend für dieses Ergebnis war aber auch das Jahr 2003.

„Die Kinder kommen einfach gesund zur Welt“

Warum war 2003 ein so wichtiges Jahr?

Ich erwähne das Jahr 2003, weil hier wiederum ein entscheidender Schritt passierte: Der HIV-Test für alle Schwangeren in der Schweiz wurde eingeführt. Mit dem Screening-Test erfuhr eine Schwangere rechtzeitig von ihrer Infektion, sodass sie mit einer Therapie beginnen konnte und gleichzeitig ihr Kind vor der Ansteckung schützte. Denn wenn die Virusmenge im Körper sinkt, nimmt auch das Infektionsrisiko für das Baby ab. Mittlerweile muss auch das Neugeborene nicht mehr vorbeugend gegen HIV behandelt werden. Dass nun die Behandlung der Kinder wegfällt, ist eine ganz neue Empfehlung der EKSG (Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit, Anm. d. Red.). Heute betrachten wir die Therapie der Neugeborenen als unnötig: Die Kinder kommen einfach gesund zur Welt.

Erfahren denn heute viele Frauen erst während der Schwangerschaft, dass sie HIV-positiv sind?

Tatsächlich ist es etwa ein Viertel aller HIV-positiven werdenden Mütter, die erst während der Schwangerschaft über die Infektion informiert werden. Darunter sind allerdings oft Frauen, die aus Ländern stammen, in denen die Aids-Epidemie andere Ausmaße hat als bei uns, wie etwa aus Afrika südlich der Sahara oder Osteuropa. Damit ist auch die Rate von HIV-Positiven, die nichts von ihrer Infektion wissen, in diesen Ländern höher.

Trotz der guten Entwicklung blieb aber ein Restrisiko, und es galten Kaiserschnitt und Stillverbot?

Das stimmt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Als neue Medikamente aufkamen und die Behandlungsstrategien schließlich das heutige Niveau erreichten, konnten wir die Viruslast bei einer infizierten Frau quasi gegen null niederzwingen. Seither sind weitere Tabus gefallen: Eine Spontangeburt bei einer gut behandelten Schwangeren ist heute kein Problem mehr. Derzeit gebären etwa 30 Prozent aller HIV-positiven Schwangeren auf natürlichem Wege. Das war früher undenkbar.

„Wo kein Virus ist, findet auch keine HIV-Infektion statt“

Aber eine Geburt ist doch eine eher blutige Angelegenheit. Ist das nicht etwas übertrieben, hier ein Risiko einzugehen?

Im Gegenteil – vielmehr sind es die Befürchtungen, die übertrieben sind. Wenn sich bei der Mutter unter der Therapie keine Viren nachweisen lassen, ist auch eine Geburt, bei der das Kind mit dem Blut der Mutter in Berührung kommt, kein Risiko. Früher sorgte man sich zudem, dass bei einer Zwillingsgeburt auf natürlichem Weg das Zweitgeborene ein noch höheres Infektionsrisiko beim Geburtsvorgang haben könnte. Aber auch hier gilt: Wo kein Virus ist, findet auch keine HIV-Infektion statt.

Dennoch raten Experten weiterhin vom Stillen ab?

Nun, das stimmte quasi bis gestern. Heute sind sich die Experten uneins, ob die Empfehlung zum Abstillen noch korrekt sei. Denn unter einer optimalen Therapie der Mutter hat noch nie jemand eine Übertragung durch Stillen dokumentiert. Kritiker werden sagen, dass dies nicht ausschließt, dass es passieren kann. Ich halte es aber für äußerst unwahrscheinlich, dass sich die Säuglinge beim Trinken der Muttermilch mit HIV infizieren, wenn die Mutter in einer stabilen Therapie ist.

Und die Medikamente? Schaden die dem Kind nicht, wenn es Muttermilch trinkt?

Auch das wird befürchtet: Medikamente in der Muttermilch könnten schädlich sein. Die Wahrheit ist: Ein Risiko, das gegen das Stillen spricht, ist nicht gesichert. Das Stillen hat auch zahlreiche positive Wirkungen für das Kind. Aber eine endgültige Beurteilung von Vor- und Nachteilen steht noch aus. Ich persönlich bin der Meinung, dass man das Stillen nicht verbieten sollte. Eine werdende Mutter soll informiert werden über den Nutzen des Stillens und die möglichen Risiken. Der Entscheid müsste meines Erachtens individuell erfolgen.

„Die Therapie der Mutter schützt das Kind vor einer Ansteckung“

Brechen Schwangere nicht häufig eine Therapie ab, weil sie fürchten, die Medikamente könnten dem Baby schaden?

Da sich eine HIV-positive Schwangere mit der Sicherheit ihres Kindes auseinandersetzt, kommt das glücklicherweise nicht vor. Denn schließlich schützt gerade die Therapie der Mutter das Kind vor einer Ansteckung. Befürchtungen, Kinder könnten durch die Medikamente geschädigt werden, können heute so nicht mehr gelten. Ein Teil der Substanzen ist zwar noch zu wenig erforscht, um beweisen zu können, dass sie komplett ungefährlich sind. Aber es gibt andere Medikamente, über die wir mehr wissen. Etwas anderes ist es bei infizierten Frauen, die generell eine Therapie ablehnen. Wer aus Unverständnis oder wegen einer ideologischen Überzeugung eine Behandlung verweigert, lässt sich selbst durch eine Schwangerschaft schwer zur Therapie motivieren.

Aber sicher werden HIV-positive Schwangere ganz anders behandelt als andere HIV-Patienten?

Kontrollen werden zwar etwas häufiger durchgeführt als bei einer Frau, die in einer stabilen Therapie und nicht schwanger ist. Aber unsere Erfahrung zeigt: Die Behandlung läuft genauso gut bei einer werdenden Mutter wie bei jedem anderen Patienten. Eine Schwangere ist vielleicht noch etwas motivierter in der Therapie. Es ist also wirklich nicht so kompliziert.

Wenn  nun der zukünftige Vater infiziert ist, die Frau aber nicht. Wie kann die Frau schwanger werden, ohne gleichzeitig das Virus aufzunehmen?

Da mussten wir anfangs ziemlich tüfteln, als wir dieses Problem lösen wollten. Wenn sich im Sperma des Mannes Viren befinden, wie sollten wir die dort herausbekommen? Die Lösung lag dann in einer Prozedur, bei der das Sperma gewaschen wurde.

Sperma waschen? Wie muss man sich das vorstellen?

Nun, der Mann gibt bei uns das Sperma ab. Wir mischen es mit bestimmten Flüssigkeiten und schleudern es so lange in einer Zentrifuge, bis sich die Samenzellen von den infizierten Blutkörperchen im Sperma getrennt haben. Danach werden die Samenzellen über einen feinen Katheter direkt in die Gebärmutter eingebracht.

„Wie schnell man dann schwanger wird, hat nichts mehr mit HIV zu tun“

Schleudern, trennen, spritzen? Vertragen die Samenzellen das?

Die Spermien haben diese Prozedur nicht wirklich gerne. Am Ende bleibt vielleicht noch ein Prozent beweglicher Spermien übrig. Trotz mehrerer Befruchtungsversuche wurde weniger als die Hälfte der Frauen schwanger. Das war frustrierend für die Paare.

Heute propagieren Sie ungeschützten Sex. Keine künstliche Befruchtung, kein Spermawaschen. Wie kann das sein?

Wenn ein HIV-infizierter Mann in einer stabilen Therapie ist, finden Sie auch kein Virus im Sperma. Seit 2008 stehen wir offen dazu, dass ungeschützter Verkehr in einer wirksamen Therapie okay ist. Das gilt genauso für Paare mit Kinderwunsch. Die meisten Paare überschätzen das Risiko deutlich.

Die werdenden Eltern halten Sex also für gefährlich?

Wir haben Paare befragt, bei denen der Mann positiv war, die Frau aber HIV-negativ: „Was meint ihr, wie hoch ist das Risiko, dass sich die Frau bei einem einmaligen Zeugungsakt ansteckt?“
Die Antworten waren überraschend: Die Paare schätzten, das Risiko liege bei 80 bis 100 Prozent. Tatsächlich aber ist das Risiko verschwindend gering. Es liegt bei 1:10 000 bis 1:100 000. Das brauchte am Anfang viel Beratungsaufwand. Heute wissen die meisten, dass eine infizierte Person unter Therapie nicht ansteckend ist. Nun ist das eigentlich kaum noch ein Problem. Wie schnell man dann schwanger wird, hat nichts mehr mit HIV zu tun, sondern unterliegt den gleichen Bedingungen wie bei allen anderen Paaren auch.

Prof. Dr. Pietro Vernazza ist Chefarzt an der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen. In den vergangenen 8 Jahren präsidierte er die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit, EKSG. Die unabhängige Kommission aus 16 Expert_innen berät den Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit bei allen Fragen, die mit HIV/Aids und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten zu tun haben.

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