Mark* erlebt, wie Crystal Meth in den 90er-Jahren mehr und mehr Opfer in der schwulen Partyszene New Yorks fordert. Nach seinem letzten Absturz zieht er nach Berlin – und hat dort ein Déjà-vu-Erlebnis …

Alles hinter sich lassen und endlich ganz man selbst sein können  ohne sich für sein Schwulsein rechtfertigen zu müssen, ohne jeden Tag an die großen und kleinen Verletzungen erinnert zu werden, die man während der Pubertät und Jugend erleiden musste –, endlich Abschied nehmen vom Gefühl, immerzu anders und Außenseiter zu sein: Generationen von jungen schwulen Männern haben in diesem Hochgefühl ihr Elternhaus verlassen und sind in die Großstädte aufgebrochen.

Für Mark, geboren und aufgewachsen in Washington, hieß das Ziel seiner Träume New York City. Und für eine ganze Weile lief es richtig gut, ja geradezu perfekt. An der renommierten Parson School hatte der Sohn brasilianisch-guatemaltekischer Eltern mit seinem Designstudium begonnen, nachts hatte er die schwule Szene erobert.

Ohne Drogen ging in der Partyzene gar nichts

Drogen gehörten da wie selbstverständlich dazu: Alkohol, Marihuana, Acid, LSD und später dann auch Ecstasy, die Modedroge der 90er-Jahre, ohne die in der Partyszene anscheinend gar nichts mehr ging. Das Studium brach er recht schnell ab, stattdessen war er nun Fulltime im Nachtleben aktiv.

„Ich war jung, ich war in New York, ich hatte einen gut bezahlten Job. Die Zeit war einfach unglaublich toll“, erinnert sich Mark, heute Mitte vierzig. Doch dann fingen mit einem Male die Probleme an. Nicht nur die Beziehung ging in die Brüche, sein ganzes Leben schien zu zerbrechen und außer Kontrolle zu geraten.

Nach einer Überdosis erlitt Mark einen Nervenzusammenbruch und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Erst dort, im Gespräch mit einem Psychologen, ist ihm einiges bewusst geworden. Zum einen, dass er ein echtes Drogenproblem hatte. Zum anderen, dass sein Drogenproblem nicht allein etwas mit seinem Schwulsein oder mit seinem Gefühl von Minderwertigkeit zu tun hatte, sondern viel tiefer in seiner Vergangenheit verwurzelt war.

Da war das Gefühl der Heimatlosigkeit aufgrund familiär bedingter Umzüge, Verlustangst, ausgelöst durch den Vater, der früh die Familie verlassen hatte, Suizidversuche seiner Mutter und nicht zuletzt sexueller Missbrauch, den Mark als Kind erlitten hat.

Als er von seinem Freund verlassen wurde, brach dieses komplexe Kindheitstrauma wieder auf und wurde durch die Drogen noch verstärkt.

Crystal Meth lässt sich kaum kontrollieren

Doch noch war die Sucht zu stark für Mark. „Wer ein-, zweimal zu viel Alkohol getrunken hat, lernt daraus, sich zu kontrollieren und weiß beim dritten Mal, wann er aufhören muss.“ Bei Crystal Meth scheint das viel schwerer zu funktionieren, erklärt Mark. Er hat in seinem Leben schon viele Drogen versucht, aber keine habe eine so große Macht über ihn gehabt. „Wer es einmal ausprobiert hat, den wird man schwer davon überzeugen, es nicht wieder zu nehmen. Der Spaß, den man unter Meth zum Beispiel beim Sex hat, ist so enorm, dass einem danach Sex ohne Meth einfach nur noch langweilig vorkommt.“

Crystal Meth unterdrückt Müdigkeit, Hungergefühl und Schmerz, es verleiht auch kurzzeitig Selbstvertrauen und ein Gefühl der Stärke. „Alkohol, Drogen und insbesondere Meth hatten mir geholfen, diese Leere in mir auszufüllen und mich dadurch endlich perfekt und vollständig zu fühlen“, erklärt Mark die Wirkung.

Doch Meth hat auch heftige Nebenwirkungen wie Persönlichkeitsveränderungen, Psychosen und Paranoia aufgrund von Schlafentzug. Um den gleichen Effekt zu erzielen, sind mit der Zeit immer größere Mengen erforderlich. Bald dreht sich alles nur noch um die Droge. „Ich habe wichtige Geschäftstermine platzen lassen. Es war mir einfach egal. Ich habe tagelang nicht geschlafen und stattdessen immer neue Sexsessions besucht.“

Persönlichkeitsveränderungen, Psychosen, Paranoia

Vor allem aber, und das bedauert Mark am meisten: „Ich habe durch den Drogenkonsum meine Werte verloren und viele falsche Entscheidungen getroffen.“ Er hat dadurch nicht nur viele Freunde verloren, sondern – ganz schleichend, wie er sagt – seine Gesundheit und Ernährung und die Sicherheit beim Sex vernachlässigt. Irgendwann infizierte er sich mit Hepatitis B und schließlich auch mit HIV. Das Testergebnis war ein Schock, aber dennoch hat es weitere vier Jahre gedauert, bis Mark von sich behaupten konnte, clean zu sein.

Geholfen hat ihm schließlich das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (AA). In New York City gab es auch rein queere Abstinenzgruppen dieser Selbsthilfe-Organisation. Jeder muss die für sich passende Form der Hilfe finden, weiß Mark aus eigener Erfahrung.

Die klassische Gesprächstherapie bei einem Psychologen wie auch eine Gruppentherapie zur Schadensminiminierung dagegen waren für ihn nicht das Beste. Er wollte lernen, ganz ohne Rauschmittel zu leben, und diesen Weg zusammen mit anderen gehen, die das Problem selbst kennen, sich daher gegenseitig besser verstehen und die einander unterstützen.

Mark suchte sich einen Job außerhalb der Nachtclubszene und trennte sich von seinem damaligen Lebenspartner, der die Drogen- und Partyszene nicht aufgeben wollte. Nach vielen Jahren lebte Mark nun erstmals wieder allein  keine einfache Zeit, aber es ging bergauf. „Ich begann nach langer Zeit wieder zu zeichnen und nahm auch mein Studium wieder auf.“

Sucht bleibt ein Leben lang

Doch eine Sucht verschwindet niemals ganz, sie bleibt ein Leben lang. Der Abhängige lernt lediglich, sie in den Griff zu bekommen. Im Sommer 2007 hat Mark einen Rückfall. Während eines Urlaubs in Berlin raucht er zum ersten Mal nach Jahren wieder Marihuana und trinkt Bier. Und es kommt noch schlimmer: Im Zuge der Wirtschaftskrise verliert er seinen Job. Die Firmenweihnachtsfeier, zugleich der Abschied von seinen Arbeitskollegen, endet in einem Besäufnis und schließlich mit Meth. Und alles beginnt wieder von vorn. Er versetzt Freunde, sagt Besuche bei der Familie ab, jobbt in einem Nachtclub und ist wieder mitten in der Szene. Eine ganze Weile geht das so, dann rafft sich Mark wieder auf und besucht erneut Sitzungen des Zwölf-Schritte-Programms. Seither lebt er ohne jegliche Drogen. Die Gefahr eines neuerlichen Rückfalls aber bleibt, das weiß Mark.

Sie bleibt für immer. Doch die Versuchung ist für ihn längst nicht mehr so groß. „Natürlich könnte ich für ein paar Stunden besonders tollen Spaß mit Crystal Meth haben, aber ich weiß um die Konsequenzen, die das haben würde, und die sind einfach zu heftig. Ich habe in den zurückliegenden Jahren viel in meine körperliche, aber auch meine emotionale und spirituelle Gesundheit investiert. Ich habe Freunde gefunden, die mir sehr wichtig sind. Es lohnt sich nicht, für ein bisschen Spaß das alles wieder aufs Spiel zu setzen.“

„Es lohnt sich nicht, für ein bisschen Spaß alles aufs Spiel zu setzen“

Wenn er heute an die Zeit mit Crystal zurückdenkt, wird ihm bewusst, dass die Droge letztlich keinen Spaß, sondern nur Probleme gebracht hat. „Ich hatte Sex mit Leuten, die ich absolut nicht attraktiv fand; ich war drei, vier Tage am Stück wach und ging einfach nicht mehr zur Arbeit. Niemand hält das lange durch.“

Nach seinem letzten Absturz ist Mark nach Berlin gezogen, weg aus New York, das schon lange nicht mehr die Stadt war, in die er sich in den neunziger Jahren verliebt hatte. Zu vieles hatte sich mittlerweile verändert, nicht nur die Party- und Schwulenszene. Zudem hatten viele Freunde und Bekannte die Metropole bereits vor ihm verlassen, und zwei enge Freunde, ebenfalls drogenabhängig, hatten sich das Leben genommen.

Berlin versprach nicht nur bessere berufliche Perspektiven, hier schien auch ein Neuanfang möglich, ohne wieder in alte Fahrwasser zu geraten. Im vergangenen Jahr aber schien es ihm, als holte ihn in Berlin alles wieder ein. Was er mit einem Male in der Schwulenszene beobachte, kam ihm vor wie ein Déja-vu. „Eigentlich habe ich die Entwicklung auf die Stadt zukommen sehen“, sagt Mark. Diese schier grenzenlose Partyszene, in der Sex und Drogen so selbstverständlich zusammenzugehören scheinen und in der der Konsum von Drogen so gut wie gar nicht thematisiert oder gar problematisiert wird – das konnte nicht ohne Folgen bleiben. In seiner Berliner Anonyme-Alkoholiker-Selbsthilfegruppe, die er regelmäßig besucht, berichteten die ersten von ihren Problemen mit Crystal Meth.

Crystal Meth hat auch die Berliner Schwulenszene im Griff

In den Profiltexte bei Planetromeo und anderen schwulen Datingseiten tauchten immer häufiger kaum verschlüsselte Codewörter wie „AussTrahlung“, „ParTyTime“ oder „TinaTurner“ auf – das große T steht für Crystal Meth. Noch mehr aber schockten ihn ganz ungehemmt gepostete Fotos, die Männer beim Rauchen von Crack und Meth zeigen. „Letztes Silvester wurde ich dann geradezu überhäuft mit Einladungen zu Chemsex-Partys. Da wusste ich: Jetzt ist es soweit. Nach New York und London hat Crystal Meth nun auch die Berliner Schwulenszene im Griff.“

Gemeinsam mit anderen betroffenen Freunden hat Mark deshalb eine (zunächst englischsprachige) queere Crystal-Meth-Anonymous-Gruppe gegründet. Ausgerechnet an jenen Tag, als in den Medien die Verhaftung von Volker Beck die Runde machte, fand in den Räumen der Berliner Aids-Hilfe das erste Treffen statt. Es ist nicht nur die erste Gruppe dieser Art in Berlin, sondern in Kontinentaleuropa überhaupt. Angesichts der großen Verbreitung von Crystal Meth in der Schwulenszene ist das für Mark immer noch überraschend. Aber er weiß aus seiner New Yorker Zeit, dass die Welle der Hilfesuchenden nicht ausbleiben wird.

„Als ich 2001 erstmals eine solche Gruppe besuchte, war dies die einzige in der ganzen Stadt. Als ich sieben Jahre später aus New York wegzog, gab es 31 Gruppentermine – wöchentlich! Und zu manchen Treffen kamen über 100 Leute.“ Eine Beobachtung, die Mark in Berlin gemacht hat, war ihm allerdings doch neu und hat ihn entsetzt. Als ich mit Crystal anfing, hat man die Droge gesnieft. Wer sie rauchte, galt schon als ziemlich hardcore. In Deutschland aber fangen viele Schwule gleich damit an, Meth spritzen. Das ist wirklich krass.“

Wie bei eigentlich allen Drogen muss auch der Konsum von Crystal Meth nicht automatisch zu Problemen führen, aber das Risiko ist hoch. Je früher man sich über die möglichen Gefahren informiert, desto besser können die Leute lernen, das Risiko selbst einzuschätzen, rät Mark. Vor allem aber muss seiner Ansicht nach die Szene selbst sich dem Problem stellen. „Je mehr man es verschweigt, desto mehr wächst die Scham jener, die von Crystal Meth abhängig sind.“

* Name redaktionell geändert

Narcotic Anonymous Meetings, also Selbsthilfegruppen für Drogen- und Alkoholabhängige, gibt es inzwischen auch in vielen deutschen Städten. Informationen und Adressen bietet die Seite www.narcotics-anonymous.de

In den Räumen der Berliner Aids-Hilfe trifft sich einmal wöchentlich die bislang deutschlandweit erste Crystal-Meth-Anonymous-Gruppe. Nähere Informationen unter 030-885 6400.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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