Viele HIV-Positive haben das Gefühl, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen: Nach Sex ohne Kondom kann ihnen eine Anzeige wegen (versuchter) Körperverletzung drohen. Tipps gab eine Veranstaltung zur Kriminalisierung auf den Positiven Begegnungen 2016

Dem Richter ist an diesem Augusttag so heiß, dass er unter seiner schwarzen Robe kurze Hosen trägt, die nackten Füße stecken in Badelatschen. Das Outfit ist dem hohen Gericht nicht angemessen, aber das ist auch keine echte Verhandlung, sondern ein Rollenspiel: Das „PoBe-Gericht“, eine Veranstaltung im Rahmen der Positiven Begegnungen, tagt in einem saunawarmen Seminarraum der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaft. Der Hammer des Richters ist aus Gummi, der Fall erfunden, aber der Inhalt sehr realistisch: „Frau Tugend“ hat ihren Ex-Freund „Herrn Wild“ angezeigt. Der Vorwurf: versuchte Körperverletzung. Die beiden haben ohne Kondom miteinander geschlafen, oft und gern. Die Anklage lautet auf „versuchte gefährliche Körperverletzung“ in mindestens 500 Fällen. Frau Tugend wusste nicht, dass ihr Freund HIV hat. Als sie es erfährt, fühlt sie sich hintergangen. Nachdem die Beziehung zerbrochen ist, geht Frau Tugend zur Polizei und beschreitet den Rechtsweg.

Juristisch ist das Thema HIV eine Randerscheinung, aber emotional trifft es ins Herz.

Das Rosenkriegsszenario ist nicht abwegig. Wenn HIV vor Gericht verhandelt wird, dann immer wieder als Streit zwischen zwei Menschen, die sich einst geliebt haben. Knapp 50 Fälle in rund 30 Jahren hat die Deutsche AIDS-Hilfe dokumentiert. Juristisch ist das Thema HIV eine Randerscheinung, aber emotional trifft es ins Herz. „Wir stehen immer mit einem Fuß im Gefängnis“, sagt Gerd aus Stuttgart, selbst positiv und regelmäßig Gast bei den Positiven Begegnungen. Dieses Jahr besucht er den Themenstrang „Was tun gegen die Kriminalisierung der (potenziellen) HIV-Übertragung“. Bernd spielt einen Schöffen. „Das Schlimme ist, dass bei manchen Urteilen nicht einmal berücksichtigt wird, dass der Verurteilte nicht infektiös war“, kritisiert Gerd.

Das Thema bewegt nicht nur ihn. Die rund 70 Teilnehmenden des Themenstrangs sind trotz schweißtreibender Hitze voll dabei. Das liegt auch daran, dass das komplexe Thema so unterhaltsam inszeniert ist. Die Teilnehmenden haben das Rollenspiel gemeinsam vorbereitet. Aufgeteilt in Arbeitsgruppen haben sie sich jeweils in eine_n Prozessbeteiligte_n hineinversetzt. „Wegsperren, die Sau!“, brüllt einer der Zuschauer plötzlich während der Verhandlung – er spielt einen Vertreter der „Besorgten Eltern“. Die religiös-fundamentalistische Gruppe nutzt den Prozess für eine Demo. Die Gruppe „Aktivist_innen der Aidshilfe“ hält dagegen: „Keine Rechenschaft für Leidenschaft!“, ruft ein Vertreter in Wiener Mundart.

Bei manchen Urteilen wird nicht einmal berücksichtigt, dass der Verurteilte nicht infektiös war

Der Richter lässt alle Zwischenrufer_innen hinausauswerfen. Der Saalordner kommt kaum hinterher, so oft muss er Störer_innen aus den Stuhlreihen ziehen. Im echten Leben arbeitet der Saalordner als Rechtsanwalt: Jacob Hösl hat schon in vielen Verfahren Angeklagte mit HIV verteidigt. „In manchen Momenten war ich mir nicht sicher, ob sich das Thema Kriminalisierung für die Vermittlung in Form eines Rollenspiels eignet“, sagt er nach der Veranstaltung. „Zum Zuschauen war es sehr lustig. Aber für die Betroffenen sind solche Verfahren eine todernste Sache.“

Nach dem turbulenten „PoBe-Gericht“ stellt Sebastian aus Düsseldorf die Frage, die viele PoBe-Besucher_innen umtreibt: „Ich bin positiv – wie kann ich mich vor einer Anzeige schützen?“ Die eindeutige Antwort gibt Bernd Aretz, ebenfalls Jurist und seit Jahren in der Aidshilfe aktiv: „Niemand ist davor gefeit, beschuldigt zu werden. Wovor du dich schützen kannst, ist eine Verurteilung.“

Für die Betroffenen sind solche Verfahren eine todernste Sache

Es folgt ein Grundkurs in Rechtswissenschaft. Erste Lektion: Anzeigen kann man nicht verbieten. Wer den Rechtsweg beschreiten will, darf das tun, auch wenn es in Sachen HIV nicht der beste Weg sein mag. Zweite Lektion: Für Jurist_innen ist jede HIV-Infektion erst einmal eine Körperverletzung – aber das heißt nicht, dass sie bestraft werden muss. Auch eine Blutentnahme beim Arzt oder bei der Ärztin verletzt den Körper. Sie wird aber nicht verfolgt, weil der oder die Gestochene zugestimmt hat. Ähnlich deuten Richter_innen und Staatsanwält_innen eine HIV-Übertragung beim Sex: Wenn beide Seiten wissen, dass eine_r positiv ist, ist die Infektion kein Straftatbestand. „Der sicherste Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung ist die Aufklärung des Partners beziehungsweise der Partnerin über die HIV-Infektion“, fasst Jacob Hösl die aktuelle Rechtslage zusammen.

Das Problem daran: Im Strafverfahren steht oft Aussage gegen Aussage. Bernd Aretz empfiehlt daher auch Offenheit gegenüber Freund_innen und Bekannten. Sei die HIV-Infektion im gemeinsamen Freundeskreis bekannt, könnten Freund_innen dies als Zeug_innen bestätigen. „Dann ist der oder die Angezeigte aus dem Schneider“, erklärt Bernd Aretz, „unabhängig davon, ob es zu einer Infektion kam oder nicht.“

Im Strafverfahren steht oft Aussage gegen Aussage

Nach vorherrschender Rechtsprechung sind HIV-Positive immer in der Pflicht, ihre Sexpartner_innen über die Infektion zu informieren – oder müssen konsequent Kondome verwenden. „Das ist lebensfremd“, kritisiert das ehemalige DAH-Vorstandsmitglied Carsten Schatz auf der Podiumsdiskussion nach dem „PoBe-Gericht“. „Gerade bei der Anbahnung von Sex wird viel gelogen. Wir sollten nicht eine Fantasiewelt beschwören, in der sich alle immer die Wahrheit sagen.“

Wenn HIV zum Streitfall wird, verlangen deutsche Gerichte trotzdem bedingungslose Wahrheit. „Die Aidshilfen sollten zumindest Empfehlungen für Leute bereithalten, die wegen ihrer HIV-Infektion in ein Strafverfahren verwickelt werden“, fordert Bernd Aretz. Laien hätten oft einen naiven Eindruck von einem Strafverfahren. „Man sollte sich die Vorstellung abschminken, dass man nach einer Anzeige dem netten Polizisten oder der netten Polizistin erzählt, wie es wirklich gelaufen ist – und dass das dann genauso in der Akte steht.“ Auf diese Anregung hin trugen die versammelten Fachleute die wichtigsten Fakten in Sachen Rechtsschutz zusammen:

Rechtstipp: Angezeigt wegen HIV? So verhalte ich mich richtig

  • Gegenüber der Polizei ist man nur verpflichtet, die Personalien zu nennen.
  • Sich bei der örtlichen Aidshilfe nach fachkompetenten Anwält_innen erkundigen, die die Verteidigung übernehmen könnten. Es lohnt sich, auch lange Wege in Kauf zu nehmen, um einen guten Rechtsbeistand zu finden.
  • Unbedingt mit der Aussage warten, bis ein juristischer Beistand gefunden ist und dieser die Verfahrensakten eingesehen hat.

Die Hoffnung der PoBe-Teilnehmenden, das Justizsystem von innen reformieren zu können, teilten die anwesenden Jurist_innen nicht. „Richter_innen geraten in ihrem ganzen Berufsleben maximal an einen HIV-Fall“, rechnet Jacob Hösl vor. „Aus ihrer Sicht ist eine Fortbildung zu dem Thema irrelevant.“ Dennoch ist Hösl optimistisch, denn er beobachtet ein Umdenken in der Justiz: „Anders als noch vor wenigen Jahren wurde in einigen Strafverfahren inzwischen der aktuelle medizinische Kenntnisstand berücksichtigt“, berichtet er. Dies meine vor allem die Tatsache, dass eine erfolgreiche Therapie vor einer HIV-Übertragung schützt. „Wenn sich dieses Wissen auch dank der Positiven Begegnungen weiter verbreitet, haben wir im Kampf gegen Kriminalisierung von HIV-Infektionen schon viel erreicht.“ Bisher sei er als Strafverteidiger in Sachen HIV vor allem damit beschäftigt, die anderen Prozessbeteiligten auf den aktuellen medizinischen Stand zu bringen. „Mit mehr Vorwissen könnten die Verfahren viel zügiger verhandelt werden, zum Wohle aller Beteiligten.“

Jede Tablette erinnert an die enttäuschte Liebe

Von Versachlichung würden auch die Menschen profitieren, die ihr Heil in einer Strafanzeige gegen den oder die Ex suchen, davon ist Jacob Hösl überzeugt. „Ich kenne eine Reihe von Leuten, die wegen HIV Strafanzeigen erstattet haben und die inzwischen sagen: ‚Heute würde ich das nicht mehr tun.‘ Anfangs verbinden sie mit ihrer Klage die Hoffnung, die erlittene Verletzung verarbeiten zu können. Bei HIV funktioniert das nicht“, sagt Jacob Hösl, „die vitale Bedrohung bleibt erhalten.“ Dazu komme das belastende Ermittlungsverfahren. Beide Seiten müssen den Behörden Einblick ins Intimleben gewähren. „Aber irgendwann ist das Verfahren abgeschlossen, das öffentliche Interesse erlischt, und die geschädigte Person bleibt mit der HIV-Infektion alleine zurück“, berichtet Jacob Hösl. Jede Tablette erinnere dann an die enttäuschte Liebe. Ein Strafprozess sei keine gute Methode, um mit dieser psychischen Verletzung umzugehen, betont er: „Eine moderierte Mediation zwischen den Parteien wäre die größte Hilfe – allerdings nur, wenn sich alle Beteiligten darauf einlassen.“

Weitere Informationen:

Position der Deutschen AIDS-Hilfe zur HIV-Kriminalisierung

Dossier HIV und Kriminalisierung (2014)

Interviews zur Strafbarkeit der HIV-Übertragung (2012)

Dossier HIV und Strafrecht (2012)

Votum des Nationalen AIDS-Beirats

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