Warum steigen die HIV-Infektionszahlen bei den Schwulen in Berlin und bei den Über-40-Jährigen? Und was bedeuten die neuen Zahlen des Robert-Koch-Instituts für die Prävention? Dr. Dirk Sander, DAH-Referent für MSM-Prävention, im Hintergrundgespräch über Sex, Irrtümer und Geld.

Das Robert-Koch-Institut meldet: Die Infektionen unter schwulen Männer steigen in Berlin weiter an, ebenso in der Gruppe der Über-40-Jährigen.

Dirk Sander: Das war klar, dass sich die Journalisten gleich wieder darauf stürzen! (lacht) Können wir bitte erstmal festhalten: Der Trend des allgemeinen Anstiegs der HIV-Infektionen in Deutschland ist gestoppt.

„Der Anstieg kann auch schnell wieder vorbei sein!“

Das war schon bei den Zahlen von 2007 klar.

Nicht so eindeutig. Jetzt ist bestätigt, dass es dauerhaft keinen Anstieg gibt – und keinen Grund zu dramatisieren.

Aber zwei Gründe, genau hinzugucken: Was ist mit Berlin?

Die Ursachen liegen auf verschiedenen Ebenen. Berlin hat eine riesige schwule Partyszene und ein größeres Angebot an sexuellen Begegnungsmöglichkeiten als andere Städte.

Aber das war doch schon immer so. Warum steigen die Zahlen?

Unter anderem weil die anderen sexuell übertragbaren Krankheiten in Berlin zunehmen, zum Beispiel die Syphilis. Die erleichtern es HIV, in den Körper einzudringen. Das ist ein wesentlicher Faktor. Hinzu kommt: Die Übertragungswahrscheinlichkeit bei HIV ist besonders hoch, wenn jemand frisch infiziert ist und noch gar nichts davon weiß. Wenn die Zahlen einmal steigen, potenziert sich das. Aber dieser Effekt kann auch relativ schnell wieder vorbei sein.

Können wir die These von der „Erosion des Safer Sex“ zu den Akten legen?

Ja, denn auf der Verhaltensebene hat sich seit vielen Jahren wenig geändert. Die Studien sagen immer das gleiche: 70 Prozent der Männer, die Sex mit Männern haben, machen nach eigenen Angaben immer Safer Sex, 20 Prozent gehen gelegentlich Risiken ein, 10 Prozent häufiger. Aber eine Veränderung gibt es tatsächlich: Die Leute haben häufiger Sex. Und diejenigen, die Risiken eingehen, tun das teilweise auch dementsprechend häufiger.

„Das Risiko-
verhalten ist stabil, aber die Leute haben jetzt mehr Sex.“

Woran liegt das?

Das hat etwas mit dem zu tun, was Martin Dannecker das „neue Aids“ nennt – mit dem Rückgang von Angst.

Ist das auch der Grund für den Anstieg bei den Älteren?

Zumindest teilweise. In den Altersgruppen, in denen die Leute sexuell besonders aktiv sind, gibt es die meisten Infektionen. Die sexuelle Aktivität hat sich offenbar etwas in die höheren Altersgruppen verschoben. Das Robert-Koch-Institut weist außerdem darauf hin, dass Ältere seltener zum Test gehen. Demnach tauchen jetzt verstärkt Infektionen in der Statistik auf, die schon länger bestehen.

Ein weiterer Grund könnte sein: Wenn man sowieso nie Lust auf Kondome hatte, dann fängt man vielleicht an, sie weniger zu benutzen, wenn die Folgen nicht mehr so gravierend sind. Anders formuliert: Das sind vielleicht Ermüdungserscheinungen.

Man könnte das auch ganz pragmatisch als Versuch der Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen beschreiben. Die können allerdings fehlerbehaftet sein. „Ausgehandelte Sicherheit“ in Paarbeziehungen ist sinnvoll; Serosorting als Partnerwahlstrategie ist nur sehr bedingt tauglich. Unser Programm war immer: Wenn man die Risiken genau abcheckt – wozu einiges gehört – und dann eine bewusste Entscheidung trifft, dann ist das durchaus im Sinne der Prävention.

Wenn du nicht Ermüdung sagen willst: Was führt dazu, dass Leute höhere Risiken in Kauf nehmen?

Ich teile die Beobachtung des Soziologen Michael Bochow. Früher war es so, dass die Leute, die HIV-Positive kennen, sich mehr geschützt haben, weil sie auch das Leid sehen konnten, das anderen verborgen blieb. Heute schützen sich diejenigen weniger, die HIV-Positive kennen, weil sie sehen, dass man mit HIV leben kann.

„Die Vor-Ort-Arbeit in Berlin ist unterirdisch schlecht finanziert!“


Das hieße überspitzt: Doch lieber keine positiven Rolemodels in der Primärprävention?

Doch, natürlich! Es geht heute darum ein realistisches Bild vom Leben mit HIV zu zeichnen. Der Sozialforscher Phil Langer hat in seiner Studie „Positives Begehren“ festgestellt: Wenn das in den Medien produzierte dramatische Bild nicht mit dem übereinstimmt, was man selber wahrnimmt, dann führt das zu „kognitiven Dissonanzen“. Die Leute kommen damit nicht klar. Sie verdrängen das Thema dann, verlieren das Vertrauen in das, was man ihnen sagt – und gehen häufiger Risiken ein.


Haben die neuen Zahlen Auswirkungen für eure Arbeit in der aktuellen Kampagne?

Man könnte jetzt natürlich sagen: Die „Ich weiß, was ich tu“-Kampagne hat 2007 angefangen – und plopp! – steigen die Zahlen nicht mehr (lacht). Aber im Ernst, wir sprechen alle Altersgruppen bereits sehr differenziert an, auch die Älteren. Bei den sexuell übertragbaren Krankheiten könnte noch mehr passieren. Die DAH fordert zum Beispiel, dass sich Angehörige sexuell besonders aktiver Gruppen kostenlos auf sexuell übertragbare Infektionen untersuchen lassen können. Ansonsten gilt immer: Dort wo viel Sex mit häufig wechselnden Partnern stattfindet, muss Prävention sich am stärksten engagieren.

Das ist auch die Aufgabe der Vor-Ort-Arbeit.

Und genau die ist zum Beispiel in Berlin unterirdisch schlecht ausgestattet! Das hat kürzlich eine Untersuchung des Wissenschaftszentrum Berlin gezeigt: Ausgerechnet Berlin – die Stadt mit den höchsten Infektionszahlen – steht im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten bei der personalkommunikativen Vor-Ort-Prävention am schlechtesten da.

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Über

Holger Wicht

Holger Wicht, Journalist und Moderator, ist seit 2011 Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe

1 Kommentar

  1. Wenn AIDS-Hilfen nicht ein realistisches Bild vom Leben mit HIV zeichnen würden, würden sie nicht nur in ihren Zielgruppen an Glaubwürdigkeit verlieren sondern gerade auch direkt bei Menschen mit HIV und AIDS selber.
    Lebensqualität von Menschen mit HIV und AIDS (und deren Entstigmatisierung) darf nicht gegen HIV-Prävention ausgespielt werden.
    Ich weiss nicht, ob der Satz von Dirk Sander so stimmt: „Heute schützen sich diejenigen weniger, die HIV-Positive kennen, weil sie sehen, dass man mit HIV leben kann.“ Klar kann man mit HIV heute leben, aber die ganzen verbleibenden besonderen Belastungen im Leben mit HIV bleiben den Freunden und Bekannten von HIV-Positiven auch nicht verborgen.
    Das Leben mit HIV ist relativ viel süßer geworden, aber ein Zuckerschlecken ist es immer noch nicht und wird es auch nie sein.

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