Coming-out beim Arzt? Das finden viele Männer überflüssig. Ein manchmal fataler Irrtum. Denn Offenheit kann helfen, Fehldiagnosen zu vermeiden. Von Philip Eicker

Hand mit Spritze
Ein vertrauensvolles Arzt-Patient-Verhältnis ermöglicht offenere Gespräche (Foto: T. Spiepmann/pixelio.de)

Manchmal wird man erst durch ein Coming-out gesund. So war es bei einem Hamburger, der sich im vergangenen Jahr sechs Monate mit einer Darmentzündung herumschlug. Alle Behandlungsversuche seines Hausarztes schlugen fehl. Mit dem Verdacht auf Colitis ulcerosa, eine seltene chronische Erkrankung, versuchte er es schließlich bei Axel Adam. Ein Freund hatte ihm den Allgemeinmediziner empfohlen.

Der 47-jährige Arzt arbeitet seit 19 Jahren im Infektionsmedizinischen Zentrum Hamburg (ICH), einer HIV-Schwerpunktpraxis mit mehreren Standorten. Deshalb ist Adam immer auf dem neusten Stand darüber, welche sexuell übertragbaren Infektionen gerade häufig vorkommen. Sein erster Tipp: Chlamydien, eine Bakterienart, die auch beim Analverkehr übertragen wird. Der Patient meinte, ja, da könnte er sich angesteckt haben. Ein Rektalabstrich bestätigte den Verdacht. Adam verschrieb ein Antibiotikum, und nach einer Woche war der Patient beschwerdefrei.

Weder der Hausarzt noch der Proktologe, den der Patient konsuliert hatte, war auf diese Idee gekommen. Doch über das Entscheidende, den Analverkehr, hatte der Kranke erst mit einem schwulen Arzt gesprochen. „Wenn ich als Arzt Analverkehr überhaupt nicht auf dem Zettel habe, dann mache ich bei meinen Patienten eben keinen Abstrich“, stellt Adam nüchtern fest. Deshalb lautet sein Rat: „Jeder Schwule sollte sich bei seinem Arzt des Vertrauens outen.“ Nur so habe der die Chance, voll informiert die richtige Diagnose zu stellen.

 Es kostet enorme Kraft, einen so wichtigen Teil der eigenen Identität zu verbergen

Doch in vielen Arztpraxen ist die Befangenheit groß – auf beiden Seiten. „Der Arzt fühlt sich im Umgang mit schwulen Männern unsicher, und der Patient ist ganz froh, dass er nicht auf sein Privatleben angesprochen wird“, fasst Steffen Taubert zusammen. Er ist bei der Deutschen AIDS-Hilfe für das Projekt „Prävention in der Arztpraxis“ zuständig. Taubert ermuntert sowohl Ärzte als auch Patienten dazu, möglichst offen miteinander zu sprechen, auch über das Schwulsein. Es gehe dabei nicht allein darum, mögliche sexuelle Übertragungswege zu erkennen, sondern dem Patienten die Chance zu geben, entspannt seine gesamte Identität in den Behandlungsprozess einzubringen. „Es kostet enorme Kraft, einen so wichtigen Teil der eigenen Identität zu verbergen“, so Taubert. „Offenheit in diesem Bereich kann die gesamte Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessern.“

Es reicht schon, wenn der Arzt seine Aufgeschlossenheit gegenüber verschiedenen Lebensweisen signalisiert. Zum Beispiel, indem er bei Fragen zur Partnerschaft beide Geschlechter anbietet: „Haben Sie eine Freundin oder einen Freund?“ Der Patient kann dann selbst entscheiden, ob er auf das Gesprächsangebot eingehen möchte. Kein einfühlsamer Mediziner wird mit der Tür ins Haus fallen. „Ich frage meine Patienten mit Sicherheit nicht als Erstes, ob sie schwul sind“, stellt Axel Adam klar. „Wenn, dann ergeben sich solche Fragen im Lauf der Anamnese.“ Bei dieser ersten Bestandsaufnahme stelle jeder Arzt auch persönliche Fragen, zum Beispiel nach Stress im Beruf, weil der die Gesundheit stark beeinträchtigen kann.

Heikle Fragen müssen nicht mehr umständlich umschifft werden

Eine Studie der Universität Bayreuth von 2009 bestätigt Adams Erfahrungen. Im Auftrag der Deutschen AIDS-Hilfe befragten die Forscher 30 schwule Männer zu ihren Erfahrungen mit Ärzten. Das Ergebnis: Der Austausch zwischen Arzt und Patient wird nach einem Coming-out intensiver, weil beide Seiten Vertrauen fassen und heikle Fragen nicht mehr zu umschiffen brauchen. So waren die geouteten Patienten zum Beispiel eher bereit einzuräumen, dass sie Medikamente nicht wie vereinbart eingenommen hatten. „Wenn ich einen guten Draht zu meinem Arzt habe, kann ich mit ihm auch über Risiken meiner Lebensführung offener reden“, betont Steffen Taubert.

Jan kann dieser wissenschaftlichen Beobachtung nur zustimmen. Seit er HIV-positiv ist, besucht der 25-Jährige eine Schwerpunktpraxis in Hamburg. Schwule Patienten sind dort Alltag. „Du fühlst dich einfach besser“, erzählt der Hotelfachmann. „Dort wissen alle, worum’s geht, und ich kann offener über Sex reden.“

Ganz anders die Situation in jenem Ostsee-Ort, wo Jan im Frühjahr 2010 von seiner HIV-Infektion erfuhr. „Das ist ein Dorf, man kennt sich. Da habe ich mich lieber nicht beim Arzt geoutet.“ In Hamburg sei das anders: „Hier sind ja alle verrückt. Da ist auch das Schwulsein normaler.“

*Name von der Redaktion geändert

 

Wer sich bei Arztwahl beraten lassen möchte, kann sich jederzeit an die örtliche Aidshilfe wenden, auch die Schwulenberatung hilft hier gerne weiter.

Links mit weiteren Informationen zum Thema:

Ärztliche Fortbildungen zum Umgang mit schwulen Patienten

Eine französische Broschüre für Ärzte zum Umgang mit homosexuellen Patienten, herausgegeben im Januar 2011 von der Aids-Organisation AIDES:

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„Mehr Sensibilität in den eigenen Reihen entwickeln“

2 Kommentare

  1. „Arzt des Vertrauens“ – das aber ist der springende Punkt. In der heutigen hektischen „Guten Tag-Auf Wiedersehen“-Medizin – wo soll da ein Vertrauensbildungsprozess gelingen? Wie soll er gar Menschen gelingen, die beruflich bedingt viel unterwegs sind oder häufiger umziehen? Auch im vorliegenden Fall ging es eher um eine Empfehlung, die von vornherein Vertrauen genas, weil der Empfehlunfgsgeber den Arzt bereits kannte. Daher: mehr Listen von Vertrauensärzten, statt dass jeder selbst herumprobiert.

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