Der zehnjährigen Laure gefällt es, dass die Kinder in der neuen Nachbarschaft sie für einen Jungen halten – und so beginnt sie in dem subtil und lockerleicht inszenierten Coming-of-Age-Drama „Tomboy“ ein riskantes Spiel mit ihrer Geschlechtsidentität. Von Axel Schock

Laure alias Michaël: ein Junge fast wie jeder andere. Foto: Alamode Film

Wenn man tief in den eigenen Kindheitserinnerungen kramt, stößt sicher jeder auf eine solche Situation: wie man als Neuling schüchtern am Rand steht und darauf hofft, von den anderen Kindern zum Mitspielen eingeladen und in die Clique aufgenommen zu werden. Auch die zehnjährige Laure, die während der Sommerferien mit ihrer Familie umgezogen ist, erlebt diese Momente der Unsicherheit. Nun steht sie da am Bolzplatz ihres neuen Wohnorts und wartet auf die entscheidende Geste der dort spielenden Kinder.

Pimmel aus Knete und Spucken wie die Jungs

Als sie von der gleichaltrigen Lisa (Jeanne Disson) für einen Jungen gehalten wird, korrigiert Laure diesen Irrtum allerdings nicht, sondern freut sich darüber und nennt sich fortan Michaël. Was die französische Regisseurin Celine Sciamma nun im weiteren Verlauf entfaltet, ist nichts weniger als die Suche eines Kindes nach der eigenen, nicht zuletzt auch geschlechtlichen Identität.

Diese zutiefst existenzielle und menschliche Frage entfaltet Celine Sciamma mit derart leichter Hand und so viel Humor, dass es eine Freude ist.  Zugleich aber nähert sie sich diesem Konflikt mit der nötigen Ernsthaftigkeit, um das unweigerliche Drama, auf das dieser Sommer der Täuschungen und doppelten Identität hinführen muss, in seiner Wucht spürbar machen zu können.

„Tomboy“ wird konsequent aus der Perspektive der Kinder erzählt. Foto: Alamode Film

Damit dies gelingt, wird  die Geschichte konsequent aus der Perspektive der Kinder erzählt. Die Erwachsenen bleiben Randfiguren, die allenfalls beim Abendessen mit am Tisch sitzen und vor denen man Geheimnisse hat. Der Film gehört ganz den Kindern. Und das liegt nicht nur daran, dass Regisseurin Sciamma die vielen kleinen Dramen von ersten Küssen, Geschwisterzwist und Rivalitäten in der Clique wie auch die Verhaltensweisen unter den Kids genau beobachtet hat, sondern auch das Ensemble zu einem unverstellt authentischen und glaubwürdigen Spiel anleiten konnte.

Unterhaltsame Reflexion über Geschlechterzuschreibungen und Rollenklischees

Und obwohl wir als Zuschauer Laures Geheimnis kennen, ist dieses Geschlechterspiel so selbstverständlich und überzeugend, dass wir es nur zu gerne vergessen. Stattdessen amüsieren wir uns, wenn „Michaël“ vor dem heimischen Badezimmerspiegel das lässige Auf-den-Bodenspucken der Jungs übt und sich für den Ausflug zum Schwimmen aus Knete einen Penis für die Badehose bastelt.

„Tomboy“ ist allerdings nicht nur eine leichtfüßige, unterhaltsame Reflexion über Geschlechterzuschreibungen und Rollenklischees. Die wirklich großartige Darstellerin Zoé Héran vermag auch das ganze Chaos, das sich in Laures Kopf abspielt, greifbar zu machen: das Adrenalin, das sie bisweilen übermütig werden lässt, wie auch die wachsende Angst, aufzufliegen. Denn mit jedem Tag wird die Sache komplizierter, nicht zuletzt, seit die verliebte Lisa „Michaël“ einen Kuss abgerungen hat.

Ausgezeichnet mit dem Preis der Jury beim Teddy Award Berlin 2011

Was Laure letztlich zu diesem Geschlechterspiel treibt, lässt der Film erfreulicherweise offen. Er erinnert damit an Alain Berliners „Mein Leben in Rosarot“, gewissermaßen das Jungen-Gegenstück zu „Tomboy“. Und wie seinerzeit diese Komödie aus dem Jahr 1996, in welcher der siebenjährige Ludovic am liebsten mit Puppen spielt und Mädchenkleider trägt, ist nun auch „Tomboy“ gerade dabei, einen Filmpreis nach dem anderen einzusammeln.

Regisseurin Céline Sciamma. Foto: Alamode Film

Bei der Uraufführung auf den Berliner Filmfestspielen 2011 wurde Celine Sciamma beim queeren Teddy Award von der Jury für ihre gelungene Regiearbeit ausgezeichnet, und auch bei den lesbisch-schwulen Filmfestivals in Philadelphia, Turin und San Francisco durfte Celine bereits Preise in Empfang nehmen. Umso erfreulicher, dass dieser Film, der so unaufgeregt und unterhaltsam den Sinn der Geschlechterrollen hinterfragt, nun auch den Weg in die regulären Programme unserer Kinos gefunden hat.

„Tomboy“ F 2011. Regie und Drehbuch Céline Sciamma. Mit Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy. 82 Min. Kinostart 3. Mai

Hier geht’s zum deutschen Trailer des Films. Und hier zur internationalen Internetseite von „Tomboy“.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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