Am 8. November 2012 wird der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker 70. Wir gratulieren herzlich mit der folgenden „Lobpreisung einer wortmächtigen Institution“ des Soziologen und Autors Michael Bochow, dem wir für seinen Text herzlich danken.

Martin Dannecker
Professor Martin Dannecker, 2011 (Foto: Richard Lemke)

Martin Dannecker ist 70 geworden und kein bisschen stiller. Nicht still zu sein, das war ihm schon fast in die Wiege gelegt. Wer in seiner Jugend feststellt, dass er schwul ist, und sich nicht mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung homosexueller Männer und Frauen abfinden will, kann nicht still bleiben. Erst recht nicht, wenn er nach einer Lehre zum Industriekaufmann auch eine Schauspielausbildung macht – keineswegs mit dem Ziel, „Staatsschauspieler“ zu werden, sondern mit der Absicht, sich einzumischen. Dann kann man keineswegs still bleiben: Stumme Schauspieler und wortkarge Aktivisten sind irgendwie fehl am Platz.

Gefördert wurde Martins intellektuelles und gesellschaftliches Engagement ganz maßgeblich durch sein Studium der Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt, im Umkreis der Frankfurter Schule – ein kritischem Denken wahrlich nicht abholdes Soziotop. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Frankfurt zu einem der Zentren der westdeutschen Studentenbewegung wurde.

Szene aus Nicht der Homosexuelle ist pervers Quelle Deutsches Film-Institut
Szene aus „Nicht der Homosexuelle ist pervers …“ (Quelle: Deutsches Film-Institut)

Frühzeitig versiert im gesellschaftskritischen Diskurs, schrieb Martin 1970/71 mit Rosa von Praunheim das Drehbuch zu „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Der Film war einer der Auslöser der westdeutschen Schwulenbewegung, die sich parallel zur Studentenbewegung entwickelte, von der viele Aktions- und Diskursformen übernommen wurden. Schwulengruppen gründeten sich quer durch die Bundesrepublik, und Martin beteiligte sich 1972 an vorderster Front an der ersten westdeutschen Schwulendemo in Münster, wo er lautstark den Slogan „Brüder und Schwestern, ob warm oder nicht, den Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht“ intonierte.

Eigensinnig, engagiert,
streitbar

Ob Martin heute noch immer frontal den Kapitalismus bekämpft, sei dahingestellt. Er gehört aber nicht zu den Leuten, die bei einer der studentisch-kommunistischen Aufbauorganisationen anfingen, um dann 20 Jahre später auf der Linie des Zentralorgans der westdeutschen Bourgeoisie, gemeinhin FAZ genannt, zu landen. Ganz im Gegenteil: Noch immer läuft Martin zu Hochform auf, wenn es gilt, den beflissenen Konformismus vieler Schwuler zu kritisieren, dem diese aufgrund ihrer Minderheitenstellung noch meinen huldigen zu müssen. In solchen Zusammenhängen kann es ihm im Eifer des Gefechts schon mal passieren, dass er staunenden Journalisten, die ihn übrigens gerne interviewen, an den Kopf schleudert, dass sie mit bestimmten bornierten Fragen doch wesentliche Probleme „eskamotieren“ (der Duden merkt hierzu an: „bildungssprachlich“); es ist verbürgt, dass keiner der anwesenden Journalisten sich zu fragen traute, was das denn wohl bedeutet (Anmerkung der Redaktion: laut Duden „durch einen Trick, durch ein Kunststück verschwinden lassen, wegzaubern, übertragen: durch gezwungene Erklärungen scheinbar zum Verschwinden bringen; weginterpretieren).

Das Angenehme an Martin aber ist, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen virtuos unterschiedlichste Soziolekte (Anm. d. Red.: Sprachgebrauch einer sozialen Gruppe) beherrscht: Er kann schwulenfeindliche orthodoxe Psychoanalytiker in ihrer Fachsprache streng zur Rede stellen, queertheoretisch sich vergaloppierende Studierende milde zur Räson rufen und in jeder schwulen Pinte überzeugend umgangssprachlich sein Bier bestellen.

Cover Der gewönliche Homosexuelle
Titel von „Der gewöhnliche Homosexuelle“

Bei so viel kommunikativer Kompetenz nimmt es nicht wunder, dass Martin viele inzwischen kanonisch gewordene Studien publiziert hat. Als ganz außergewöhnlicher Homosexueller hat er 1974 mit Reimut Reiche den Klassiker „Der gewöhnliche Homosexuelle“ veröffentlicht, die erste große empirische Untersuchung in Deutschland. In der Aids-Krise der 1980er Jahre war er umsichtig und engagiert genug, einen Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit anzunehmen und seine zweite große Schwulen-Befragung durchzuführen. Sektiererische Anwürfe, er liefere damit die Schwulen einer reaktionären Bundesregierung aus, ignorierte er souverän. So entstand mit „Homosexuelle Männer und AIDS“ (1990) eine Studie, die noch immer zu den reflektiertesten zum Thema gehört. Seitdem engagiert sich Martin immer wieder in Diskussionen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von Aids und zu angemessene(re)n Präventionsstrategien. Anfang der 2000er Jahre führte er die Unterscheidung zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Aids ein, mit der er den Bedeutungswandel einer HIV-Infektion vor und nach der Einführung antiretroviraler Therapien charakterisierte und Konsequenzen für die Prävention einforderte.[1]

Scharfsichtiger Denker und einfühlsamer Therapeut

Das auch hier wieder beeindruckende Reflexions- und Einfühlungsvermögen kommt nicht von ungefähr. Seit langem ist Martin als Therapeut und Gutachter tätig; so manchen Schwulen hat er vor dem Militärdienst gerettet, so manchem Mann geholfen, sein schwules Leben zu leben. Diese eminent praktische Tätigkeit war ihm wohl auch immer ein Korrektiv zu den zahlreichen Glasperlenspielen im Elfenbeinturm. Martin ist für intellektuelle Moden einfach unbegabt, unabhängig davon, welche(r) MeisterdenkerIn gerade angesagt ist, ob nun Foucault, Lacan, Sontag, Butler oder wie sie alle heißen. Martin ist einfach und im besten Sinne Danneckerist!

Martin Dannecker
Martin Dannecker bei der DAH-Präventionskonferenz 2011 (Foto: DAH)

Zu seinen großen sexualwissenschaftlichen und schwulenpolitischen Verdiensten gehört nicht zuletzt seine überzeugend begründete Skepsis gegenüber den Propheten der neuen schönen schwulen Welten, die da meinen, dass Schwule und Lesben in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien, nur weil es in liberalen und progressiven Kreisen politisch inkorrekt geworden ist, schwulenfeindliche Äußerungen von sich zu geben. Mit großer Beharrlichkeit erinnert Martin immer wieder daran, dass (fast) kein Elternpaar spontan glücklich auf Töchter oder Söhne reagiert, die sich als lesbisch oder schwul zu erkennen geben. Immer wieder betont er, dass die meisten heterosexuellen Väter mindestens mit Unbehagen, wenn nicht mit offener Abwehr auf „prähomosexuelle Söhne“ (ein wirklich erhellender Begriff!) reagieren, lange bevor diese überhaupt Daddy damit behelligen, dass sie schwul sind.

Mit seiner Beharrlichkeit ist Martin manchmal fast penetrant, mit seiner großen Energie manchmal ziemlich anstrengend. Martin, bleibe bitte penetrant und anstrengend!

Berlin, im November 2012                                                              Michael Bochow

Michael Bochow
Michael Bochow (Foto: WZB/David Ausserhofer)

 


[1] Mit dieser Unterscheidung hebt Dannecker hervor, dass in den 1980er Jahren eine unmittelbare Verknüpfung von Aids und nahem Tod gegeben war; diese werde seit der Einführung wirksamer Therapien Mitte der 1990er Jahre nicht mehr wahrgenommen. Nur die unmittelbare Verknüpfung von HIV-Infektion und Todesdrohung habe die weitgehende Einhaltung von Safer Sex unter schwulen Männern bewirkt, eine deutliche Zunahme von ungeschützten Sexualkontakten sei daher unausweichlich

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2 Kommentare

  1. Danke, sowohl an den Geehrten als auch an seinen Laudator. Ihr wisst, wie wichtig ihr für viele Erkenntnisprozesse ward und seid. An Martin dafür, dass er mir in existentiellen Krisen sein Ohr geöffnet und mir empathisch Beistand gab, wenn im Freundeskreis das Elend mal wieder kaum auszuhalten war – aber keine Alternative dazu bestand. Michael hat durch seine einordnende Schreibe bei Respekt vor jeglicher Identität viel zur Entdramatisierung beigetragen, Martin durch die Dekonstruktion von Bildern, und beide zu einem tieferen Verständnis, beigetragen, was in den Biografien und Gefühlen sich zu Wort melden kann. Zu erleben, dass die uns solidarisch Kritischen Wissenschaftler offensichtlich sich sehr wertschätzend zugetan sind, finde ich schön.
    Bernd Aretz

  2. Lieber Herr Bochow. Die sog. Homosexuelle sind nicht plötzlich aufgetaucht. Man weiß wohl in antiken Rom und auch in Griechenland solche Beziehungen zwischen den Männer gewesen. Nun haben wir mit der Politisierung der Homosexuellen Handlungen. Es war und meist auch heute eine private Sache gewesen.
    Wie es dazu kommen könne, dass eine private Sache wurde zu Beweis der Demokratie geworden. Mehr noch: plötzlich diese Sache wurde durch Zentralrat der Juden und sonstigen Holocaustbehörden zum anti-faschistischen Zeichen gekürt. Also Verfolgung der Homosexuelle wurde zum Teil der Politik der Rechtstaates geworden. Man will dabei nicht die „normalen“ Homosexuellen nicht von den bekannten pädophilen Männer unterscheiden, falls diese politisch korrekt sind. Also es wird immer wieder durch den Medien behauptet: es gehe um Diskrimination, die nah zu NS-Poilitik Diskrimination der Juden stünde. Ob das wirklich in unserem Land die sog. „Rechten“, „Neo-Faschisten“ bzw. „Extremisten“ die Homosexuellen verfolgen. Das ist ein Absurd.
    Die Abschaffung der Paragraphen nach denen diese Männer früher bestrafft wurden. Wäre es nicht nur zum Schutz unserer Kinder die Pädophilen doch bestrafen und zwar ganz unabhängig von ihrer politischen Welt-anschauen. Zum Schluß: solange die Männer mit solchen Neigungen mit einander was treiben – sollte es auch privat bleiben. Nur in der Öffentlichkeit sollten die Homosexuellen nicht ihre Liebe offen treiben… mit ihren Love-Paraden im Schutz der Demokratie.

    Mit freundlichen Grüßen
    Jurij Below, Frankfurt/M.

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