Im Mai 1985 veröffentlichten in den USA zwei HIV-Patienten gemeinsam mit ihrem Arzt die erste Aufklärungsbroschüre über safer Sex und Lust in Zeiten der Epidemie. Ein Kalenderblatt von Axel Schock.

Cover der legendären Broschüre (Abb.: R. Berkowitz)
Cover der legendären Broschüre (Abb.: R. Berkowitz)

Ganz schön unsexy sah sie aus, dafür, dass sie eigentlich Lust auf Sex machen sollte. 40 bilderlose Seiten umfasste die recht dröge gestaltete Broschüre. Kein Vergleich zu den bunt bebilderten Hochglanzbroschüren, die in den 1990er Jahren hierzulande von der Deutschen AIDS-Hilfe an den Mann und die Frau gebracht wurden.

Gestalterische Details waren für den New Yorker Aids-Arzt Joseph Sonnabend und seine beiden Patienten Michael Callen und Richard Berkewitz damals auch nebensächlich. Mit ihrem Pamphlet „How to Have Sex in an Epidemic“ versuchten sie die bekannten Fakten zur Übertragung der damals noch kaum erforschten Krankheit zusammenzufassen und zugleich in kompakter Form Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Mann dennoch sicheren Sex haben kann.

Sex macht nicht krank, Krankheiten schon

„Sex macht nicht krank, Krankheiten schon… Wenn man erst einmal verstanden hat, wie Krankheiten übertragen werden, dann kann man anfangen, einen aus medizinischer Sicht geschützten Sex zu praktizieren“, heißt es gleich zu Beginn dieser Aufklärungsschrift, die im Mai 1983 in einer Startauflage von 5000 Exemplaren erschien.

Aus heutiger Perspektive ist dies eine simple, von niemandem mehr in Frage gestellte Erkenntnis. 1983 allerdings, zu einem Zeitpunkt, als HIV noch nicht einmal identifiziert war, sorgte diese Haltung für heftige Proteste. Weil bis dahin vor allem homosexuelle Männer von der mysteriösen Krankheit betroffen waren, galt mit einem Male jeder Schwule, zumal wenn er promisk lebte, als Risikofaktor.

Ärzte riefen zur Enthaltsamkeit auf, die Verfasser von „How to Have Sex in an Epidemic“ hingegen ging einen anderen, für sie realistischeren Weg: nämlich Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man der Gefahr trotzen und  Sex haben konnte. Zum Beispiel durch die Verwendung eines Kondoms, ein Utensil, das im schwulen Sexualleben bis dahin so gut wie keine Rolle gespielt hatte.

Proteste und Kritik

Der Sänger und Schauspieler Michael Callen verstarb 1993 (Foto: Wikipedia)
Der Sänger und Schauspieler Michael Callen verstarb 1993 (Foto: Wikipedia)

Der Sänger und Schauspieler Michael Callen machte ebenso wie Berkewitz, der seinerzeit sein Geld vor allem als Callboy in der S/M-Szene verdiente, keinerlei Geheimnis daraus, mit sehr vielen Männern Sex gehabt zu haben. Ihre These war, dass sich mit jedem neuen Sexkontakt das Risiko einer Infektion addiert. Wer viele sexuelle Kontakte mit ebenfalls promisken Personen hat, setze sich also einer potentiellen Infektionsgefahr aus.

„Was als sexuelle Freiheit begann, ist heute in den meisten urbanen Zentren zu einer Tyrannei der Geschlechtskrankheiten geworden“, schreiben Callen und Co. in ihrer Broschüre. „Wir glauben, dass der promiske schwule Lebensstil und die damit verbundene Anhäufung von Infektionsrisiken zum Zusammenbruch der Immunabwehr geführt haben, wie wir es nun gerade erleben.“

Promsiker Lebensstil als Krankheitsursache

Während andere Aids-Aktivisten wie der Schriftsteller Larry Kramer davon ausgingen, dass ein neuer Virus Auslöser der Krankheit sein müsse, vermuteten die Autoren der Broschüre das Zusammenspiel verschiedener Co-Faktoren wie Drogengebrauch und häufig wechselnde Sexpartner.

Für diese Erklärung mussten die Autoren viele Prügel einstecken. Lange genug hatte die schwule Bürgerrechtsbewegung für Akzeptanz in der Gesellschaft und die Möglichkeit gekämpft, die eigene Sexualität frei ausleben zu können. Dass Schwulenaktivisten ihren Lebenswandel als Ursache für ihre Erkrankung bezeichneten, erlebten andere als enormen Rückschlag für die Homosexuellenbewegung.

Sie befürchteten, dass politische wie religiöse Konservative diese Argumente nutzen könnten, um Aidserkrankte für ihr Schicksal selbst verantwortlich zu machen und verteufeln zu können. Was die Ursachenforschung angeht, so sollte die Fraktion um Larry Kramer Recht behalten. Noch im gleichen Jahr konnten Forscher das HI-Virus isolieren und bestimmen. Die von dem Autorenteam aufgestellten Safer-Sex-Regeln waren damit allerdings keineswegs hinfällig, sondern hatten sich ebenfalls als richtig erwiesen.

Kampf um Anerkennung

Ko-Autor Richard Berkowitz fühlt sich bis heute wenig gewürdigt. (Foto: ProjectOAtlanta)
Ko-Autor Richard Berkowitz fühlt sich bis heute wenig gewürdigt. (Foto: ProjectOAtlanta)

Während nach dem 1993 verstorbenen Callen mittlerweile ein lesbisch-schwules Gesundheitszentrum im Herzen New Yorks benannt wurde, fühlt sich Berkowitz bis heute um die Anerkennung seiner Lebensleistung betrogen. „Ich lag damals falsch, als ich die Theorie verwarf, dass ein einziger Virus für Aids verantwortlich sein könnte. Das haben mir viele Menschen bis heute nicht verziehen“, mutmaßt Richard Berkowitz in einem Interview.

Mit einem 2003 erschienenen Buch („Stayin’ Alive. The Invention of Safe Sex“) und einem Dokumentarfilm („Sex Positive“, 2008) versucht der heute mittellos in New York lebende Berkowitz seinen Platz in der Geschichte von Aids zu sichern.

Weiterführende Links

Link zur Internetseite von Richard Berkowitz

Die Originalausgabe von „How To Have Sex in an Epidemic“ als pdf-Datei (in englischer Sprache)

Interview mit Richard Berkowitz im „Nightcharm“-Blog

Trailer zum Film „Sex Positive“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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