In seinem neuen Roman „Manchmal ist das Leben“ schildert Matthias Frings das Lebensgefühl im Berlin Mitte der 90er-Jahre – und wie eine Männerfreundschaft durch eine HIV-Infektion auf die Probe gestellt wird. Von Axel Schock

Kaum eine andere Sentenz über die Spreemetropole wurde so häufig zitiert wie das 1910 vom Kunstkritiker Karl Scheffler gefällte Diktum, Berlin sei dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“. Mitte der 1990er-Jahre geriet es zum Bonmot der Stunde: Die nunmehr wiedervereinten Stadthälften waren heftigst damit beschäftigt, nicht nur die verbliebenen Wunden aus Krieg und Teilung zu schließen, sondern auch eine neue Identität zu finden.

Ein Sommer im Banne von Christo und Jeanne-Claude

Geradezu symbolisch und als Geschenk der Stunde erscheint da im Nachhinein die Verhüllung des Reichtags durch das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude. Einen Sommer lang verschwand 1995 das historische Parlamentsgebäude unter einer weiß und silbern glänzenden Hülle, bevor es umgebaut und zum neuen Regierungssitz des wiedervereinten Deutschlands werden sollte.

Der „Wrapped Reichstag Berlin 1971–95“ ziert nun nicht nur das Cover von Matthias Frings’ Roman „Manchmal ist das Leben“, sondern ist auch im Leben und Treiben des Figurenpersonals immer wieder gegenwärtig.

Ein Stück Stoff (Foto: joho3)
Fünf Quadratzentimeter der silbrigen Reichstagshülle (Foto: joho3)

Gleich im Eingangskapitel schildert Frings die Arbeit jener Berufskletterer, die den metallischen Stoff an den Fassaden des Gebäudes befestigten. Später wird eine ostdeutsche Künstlerin und Bundestagsabgeordnete, die gegen die Verhüllung votiert hatte, einen großen Auftritt haben und ein Radioreporter namens Hahn ihr im Interview eine Neubewertung der Kunstaktion abringen.

Ein Kaleidoskop der sich wandelnden Stadt

Matthias Frings, der selbst jahrelang als Rundfunkjournalist in Berlin tätig war und in den 1990er-Jahren als Moderator der Fernsehsendung „Liebe Sünde“ einem bundesweiten Publikum bekannt wurde, versucht mit seinem Roman nicht weniger als ein kaleidoskopisch sich auffächerndes Zeitbild der werdenden Hauptstadt.

Nebenfiguren wie ein flaschenpfandsammelnder Überlebenskünstler, die bereits erwähnte Abgeordnete und eine Sexparty-Veranstalterin erhalten jeweils ein Kapitel lang einen Soloauftritt für ein tief in die Biografie eindringendes und mit journalistischer Genauigkeit sezierendes Porträt. Nicht weniger detailgenau schildert Frings die Zustände, Lebenswirklichkeiten und Veränderungen beiderseits der ehemaligen Mauer.

Urbaner Abenteuerspielplatz

Ein Strom junger Neuberliner hat sich die Stadt als Abenteuerspielplatz zur Erfüllung ihrer Träume auserkoren: In Abbruchhäusern entstehen illegale Kneipen und Technoclubs, Raver sind die neuen Punks, und die alteingesessene Kreuzberger und Charlottenburger Künstlerbohème sieht mit einem Mal ziemlich vorgestrig aus.

Autor Matthias Frings (Foto: Andreas Fux)
Der Berliner Autor Matthias Frings (Foto: Andreas Fux)

Aha-Erlebnisse können bei diesen akribisch ausgemalten Milieu- und Zeitgeistschilderungen freilich nicht mehr so recht entstehen. Dafür haben sich bereits zu viele Romanciers, Kolumnisten und Journalisten über die Fakten, Fiktionen und Klischees zum Hype um die einstige Inselstadt hergemacht.

Umso mehr geraten bei der Lektüre die beiden Hauptfiguren Hahn und Fex in den Fokus. Sie verbindet seit Jugendtagen eine enge, scheinbar durch nichts zu irritierende Freundschaft. Auch dadurch nicht, dass der Diplomatensohn und ruhelose Job-Hopper Felix von Oertzen, genannt Fex, über all die langen Jahre hinweg latent und unerfüllt in Hahn verliebt geblieben ist: „Begehren ließ sich nicht vereisen wie eine lästige Warze.“

Sex im Rausch

Hahn aber ist ein strammer Hetero, erfolgreich bei den Frauen, wenn auch unfähig zu langfristigen Beziehungen. Einmal nur, als eine Art besonderes Geburtstagsgeschenk, sind die beiden miteinander im Bett gelandet. Das letztlich unspektakuläre, im Alkoholrausch vernebelte Erlebnis ist längst vergessen – bis es sich unweigerlich in Hahns Erinnerung zurückdrängt. Dann nämlich, als bei ihm im Verlauf einer Lungenentzündung überraschend eine HIV-Infektion festgestellt wird.

Als ihm sein Arzt die Diagnose mitteilt, hat Hahn nur eine Frage: „Wie lange?“ Der verweist auf AZT, das bis dato einzige zur Verfügung stehende Medikament, und vermag ansonsten nur auf eine hilflose Floskel auszuweichen: „Vielleicht findet die medizinische Forschung ja… .“ Dieser Zeitpunkt, die lebensverlängernde hochaktive antiretrovirale Therapie, wird erst ein knappes Jahr später gekommen sein.

AZT und hilflose Floskeln

An sich selbst hat Hahn jedoch noch weit mehr Fragen. Hat er womöglich unwissentlich seine derzeitige Freundin infiziert? Und wie oder bei wem könnte er sich angesteckt haben? Welche der Ex-Freundinnen und Sexpartnerinnen waren „Flittchen“ und „freizügig“ genug, um dafür in Frage zu kommen? Hahn ertappt sich schließlich selbst dabei, in welche vorverurteilenden Denkkategorien er sich hineinmanövriert: „Keine dieser Frauen war… ja was? … Auffällig? Aussätzig?“

Der Diagnose begegnet Hahn zum einen mit explosiver Wut gegenüber Fex, dem vermutlichen oder auch nur vermeintlichen Virusüberträger. Zum anderen hilft sich Hahn mit der Routine des Journalisten, indem er sich zu einem Recherchebesuch auf die Aidsstation eines Krankenhauses aufmacht, um das auch ihm drohende Schicksal in Augenschein zu nehmen.

 Plötzlich war die Zukunft auf eine verlängerte Gegenwart geschrumpft

„Er war einundvierzig Jahre alt, hatte, wenn überhaupt, an seinen Tod nur als Schuldschein gedacht, in einer fernen Zukunft einzulösen, Konditionen offen. Und plötzlich war seine Zukunft auf eine verlängerte Gegenwart geschrumpft.“ Sein Sterben, entscheidet Hahn für sich, will er nicht dahinsiechend in einem Hospitalbett abwarten, sondern er selbst will über den Zeitpunkt und die Form des Endes bestimmen.

Cover des Romans
Cover des Romans

So wie sich die zahlreichen, mal mehr, mal weniger markanten oder beiläufig eingeflochtenen Detailbeobachtungen zu einem Panoramabild der sich im Umbruch befindlichen Stadt summieren, durchläuft auch das Personal dieses Romans die ganze Palette an schmerzhaften, überraschenden oder auch schlicht folgerichtigen Veränderungen.

Für Hahn und Fex wie auch ihr direktes Umfeld bleibt nach der HIV-Diagnose nichts mehr wie es war. Ihre Erfahrungen, Reaktionen und Entwicklungen mögen fiktiv sein, in ihrer Gesamtheit decken sie gleichwohl eine weite Bandbreite dessen ab, wie anno 1995 mit HIV und Aids in einer deutschen Metropole umgegangen wurde.

Auf seine eigene Weise ist „Manchmal ist das Leben“ somit auch als Historienroman zu lesen, der sich in eine Reihe aktueller Auseinandersetzungen mit der ersten Dekade der Aidsepidemie einfügt. Man denke nur an Jan Stressenreuters Roman „Wie Jakob die Zeit verlor“ oder neuere Filmproduktionen wie „Dallas Buyers Club“ und „The Normal Heart“. Die Wut und Trauer, die Angst und die Verzweiflung jener Zeit sind abgeklungen.

Distanzierter Blick auf die HIV-Epidemie

Mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten ist nun – anders als in den von der direkten Betroffenheit geprägten künstlerischen Auseinandersetzungen in den 1990er-Jahren – ein distanzierterer, abgeklärterer Blick möglich. Die Fragen und Nöte, mit denen sich die Menschen damals durch HIV konfrontiert sahen, sind freilich auch heute noch universell und existenziell.

Matthias Frings „Manchmal ist das Leben“, Querverlag, 285 Seiten, Broschur, 14,90 Euro.
Buchpremiere am 4. April, 20.30 Uhr im Eisenherz Buchladen, Motzstraße 23, 10777 Berlin. Moderation: Holger Wicht

 

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Über

Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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