Sexarbeit (Foto: DAH)
Verboten und riskant: Sexarbeit in Russland   (Foto: DAH)

In Russland steht es schlecht um die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern. Die St. Petersburger Selbsthilfeorganisation „Silberne Rose“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, hier umfassende Unterstützung anzubieten. Worum es dabei geht, hat Christine Höpfner im Gespräch mit Irina Maslova und Olga Vasiljeva erkundet.

Wie ist die Situation der Prostituierten im heutigen Russland?

Irina Maslova: Die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert. Nicht nur, weil der Global Fund sich aus Russland zurückgezogen hat und deshalb auch keine Projekte im Bereich Sexarbeit mehr finanziert. Auch politisch weht ein schärferer Wind: Die Demokratie wird demontiert und das gesellschaftliche Klima aggressiver. Das Moralisieren nimmt zu, der kirchliche Einfluss wächst, der Staat attackiert gemeinnützige Vereine. Bei Anlässen wie internationalen Gipfeltreffen oder den Olympischen Winterspielen in Sotschi versuchen die Staatsorgane, die Prostitution aus den betreffenden Städten zu verdrängen. Die Sexarbeiterinnen stehen dann noch mehr unter Druck – es gab sogar Mordfälle.

„Das Gewerbe steht unter der Fuchtel der Sicherheitsorgane“

Dazu muss man wissen, dass die Sexarbeit in Russland illegal ist, aber unter der Fuchtel der staatlichen Sicherheitsorgane steht. Die bekämpfen sich gegenseitig: Jeder will die Kontrolle über das Gewerbe erlangen, um davon zu profitieren.

Ich nehme an, dass Sexarbeit genauso tabuisiert ist wie Homosexualität oder Drogengebrauch.

Irina Maslova ist Vor-Ort-Arbeiterin der Silbernen Rose
Irina Maslova ist Vor-Ort-Arbeiterin der Silbernen Rose (Foto: DAH)

Irina: Über Homosexualität wird jetzt wenigstens öffentlich geredet, und im Drogenbereich arbeiten heute viele Vereine und Organisationen. Die Sexarbeit dagegen ist ziemlich aus dem Blickfeld geraten. Die Medien interessieren sich zwar für das Thema, aber sie desinformieren statt zu informieren. Bei Live-Sendungen beispielsweise wird einem oft bewusst das Wort im Mund umgedreht, sodass ein falsches oder negatives Bild entsteht.

Wie sieht das Verhältnis zwischen Sexarbeiterinnen und Polizei aus?

Irina: Für die Polizisten bringen Sexarbeiterinnen immer zusätzliches Geld. Straßenprostituierte werden oft schikaniert und festgenommen, aber nicht wegen Prostitution, sondern wegen Drogengebrauchs oder Drogenhandels, weil sie auf die Straße gepinkelt haben oder bei Rot über die Ampel sind.

„Im Knast sitzen Prostituierte meist wegen Drogendelikten“

Ein Polizist in Russland muss pro Tag zehn Vergehen melden; wenn er das nicht schafft, greift er sich eben Sexarbeiterinnen und schreibt irgendwelche Vergehen auf. Im Knast sitzen sie dann meist wegen Drogendelikten.

Gibt es Zahlen dazu, an welchen Orten Prostitution stattfindet?

Irina: Nur etwa 10 % aller Prostituierten gehen auf dem Straßenstrich anschaffen – die meisten von ihnen spritzen sich Drogen. Mehr als 80 % arbeiten in – natürlich inoffiziell betriebenen – Bordellen, in Saunen, Hotels, Salons und so weiter. Um die 3 % sind Selbstständige, darunter auch Männer, die Sex mit Männern haben.

Ist auch bekannt, wie viele Migrantinnen und Migranten in der Sexarbeit tätig sind?

Der Rote Regenschirm als internationales Symol für die Solidarität mit Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern (Foto: DAH)
Roter Regenschirm: Symbol für die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern (Foto: DAH)

Olga Vasiljeva: Dazu muss man wissen, dass zwischen Migranten aus der russischen Föderation und solchen aus anderen Ländern, also zwischen interner und externer Migration unterschieden wird. Wie viele Leute derzeit illegal in Russland leben, ist nicht öffentlich bekannt. Vor der Verschärfung des Migrationsgesetzes konnten sich Zugewanderte aus den ehemaligen Sowjetrepubliken lange Zeit in Russland aufhalten, jetzt nur noch für maximal 90 Tage. Danach müssen sie zurück ins Herkunftsland und dürfen erst nach 180 Tagen wieder nach Russland einreisen.

Die wenigsten Sexarbeiterinnen in St. Petersburg leben dort legal

Zu Migrantinnen in der Sexarbeit nehme ich als Beispiel St. Petersburg, weil die Situation dort auch für viele andere Städte Russlands typisch ist. Die legal in der Stadt lebenden Sexarbeiterinnen machen nur 20 bis 30 % aller Prostituierten aus. 70 % sind Zugezogene, davon die eine Hälfte aus verschiedenen Regionen Russlands, die andere Hälfte aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und aus Afrika. Seit einigen Jahren gibt es einen starken Zuwachs von Frauen aus Usbekistan und Tadschikistan. Jetzt erwarten wir vermehrt Migrantinnen aus dem Krisenland Ukraine, aus dem Russischstämmige wahrscheinlich auswandern werden.

Wie gelangen Migrantinnen aus Afrika nach Russland – mit einem Touristenvisum?

Olga: Nein, meist mit einem Studienvisum. Tatsächlich arbeiten sie dann aber in Bordellen. Es handelt sich also um Menschenhandel und nicht um wirkliche Studenten. Meist reisen sie nach einem Jahr wieder aus, wenn sie ein wenig Geld für ihre Familie verdient haben – bis auf die kleine Zahl jener, die einen festen Arbeitsplatz und eine Wohnung haben und, sofern sie nicht HIV-positiv sind, legalisiert werden. Alle anderen werden illegal; Männer arbeiten dann oft auf dem Bau, Frauen werden entweder in die Pflege oder in die Sexarbeit gedrängt. Diese Leute haben keinen Zugang zur medizinischen Versorgung.

HIV-Positive haben demnach keine Chance auf Legalisierung.

Olga: Wer in Russland eine Aufenthaltserlaubnis will, muss erst mal einen HIV-Test machen. Fällt er positiv aus, wird man abgeschoben, was übrigens auch bei Tuberkulose und anderen Krankheiten der Fall ist.

„Fällt der HIV-Test positiv aus, wird man abgeschoben“

Kann man sich als Migrantin oder Migrant krankenversichern?

Irina Maslova (Foto: Sascha Gurinova)
Irina Maslova stellt die Arbeit der Silbernen Rose vor (Foto: DAH)

Irina: Alle Migranten, ob in der Sexarbeit oder nicht, dürfen sich nur privat krankenversichern. Aber für die meisten kommt das wegen Armut gar nicht in Frage. Nur eine Minderheit – meist Migranten mit Verwandten in Russland – hat einen offiziellen Arbeitsplatz und eine Wohnung und kann sich dann auch krankenversichern. Bedingung ist, dass die Verwandten eine Eigentumswohnung haben und ihre Angehörigen dort wohnen lassen. Wer diese Bedingungen nicht erfüllen kann, wird illegalisiert und kann dann auch keine medizinischen Leistungen nutzen.

Wo bekommen illegal in Russland lebende Sexarbeiterinnen dann Hilfe, wenn sie krank oder schwanger werden?

Olga: In Russland gibt es sieben Organisationen, die mit Prostituierten arbeiten. Die einzige Selbsthilfeorganisation von und für Sexarbeiterinnen ist die Silberne Rose mit Sitz in St. Petersburg. Wir arbeiten hauptsächlich auf ehrenamtlicher Basis, nur einige wenige Kollegen – Rechtsanwalt, Psychologe,  Projektkoordinator und Assistent – sind angestellt. Rund 100 Freiwillige sind in St. Petersburg und etwa 230 in 28 weiteren Städten tätig.

„Uns ist egal, woher jemand kommt“

Irina: Wir fragen nicht nach dem Aufenthaltsstatus unserer Klienten, uns ist egal, ob jemand aus St. Petersburg, Mittelasien oder dem Kongo kommt. Wir machen unter anderem auch Präventionsarbeit und sind daher auch für HIV-positive Frauen da. Die Silberne Rose hat gute Beziehungen zu Ärzten, auch zu HIV-Ärzten und einzelnen Mitarbeitern in Krankenhäusern, die HIV-positive oder schwangere Sexarbeiterinnen vertraulich behandeln und begleiten. Und wir versuchen – immer auf individueller Basis –, diese Frauen in einen gesetzlichen Rahmen zu bringen.

Wenn ich richtig verstanden habe, ist HIV-Prävention nur ein Aspekt eurer Arbeit. Wo liegen die Schwerpunkte, und wer finanziert eure Projekte?

Olga: Unsere Hauptziele sind Empowerment und Selbstaktivierung von vulnerablen Frauen, und dafür werden wir gefördert. Wir stellen für unsere Projekte Anträge bei internationalen NGOs wie „Mama Cash“ und dem „Urgent Action Fund for Women’s Rights“ und erhalten dann entsprechende Fördermittel.

„Unsere Ziele sind Empowerment und Selbstaktivierung“

Die Silberne Rose fungiert quasi als Motor beim Aufbau von Sexarbeiter-Selbsthilfeprojekten in Russland, aber auch in Tadschikistan, Kirgisistan und der Ukraine. Dort unterstützen wir Initiativen darin, Community-basierte HIV-Prävention zu leisten, Selbsthilfe-Ressourcen zu mobilisieren und für Rechtsbeistand zu sorgen. Derzeit haben wir nur noch ein vom Global Fund unterstütztes Projekt, weil wir mit unseren Partnern 2013 mehrere Projekte erfolgreich abgeschlossen haben. Nun hoffen wir auf weitere Förderung.

Wie arbeiten die Freiwilligen der „Silbernen Rose“?

(Foto: Karin Jung)
Mit solidarischen Partnern lässt sich etwas bewegen (Foto: Karin Jung)

Olga: Unsere Freiwilligen sind „Community leaders“, die meist tageweise an Orten der Prostitution unterwegs sind und „Peers“ wie auch Freier beraten. Sie verteilen Kondome, halten beide Seiten zum Kondomgebrauch an und geben Tipps, wie man auf dem Straßenstrich oder im Bordell an Kondome kommt und sie „an den Mann bringt“. Sie verteilen Infomaterialien zum sicheren Anschaffen und vermitteln bei Bedarf an Rechtsanwälte.

Helfen diese Rechtsanwälte unentgeltlich?

Olga: Neben unserem hauptamtlichen Kollegen gibt es noch zwölf Rechtsanwälte, die die Silberne Rose ehrenamtlich unterstützen, und als weiteren Kooperationspartner das Kanadische Netzwerk für die Rechte von Menschen mit HIV/Aids. Im Blickpunkt steht dabei Gewalt gegen Sexarbeiterinnen durch Polizei, Behörden, Freier und Intimpartner, wie man sich in solchen Situation verhalten soll und was man selbst tun kann, um sich vor Willkür und Übergriffen zu schützen.

Die Rechte von Prostituierten sind der Schlüssel

Mithilfe der juristischen Partner können wir unserer Arbeit eine umfassende Menschenrechtsperspektive geben – ein Ansatz, den die meisten Organisationen nicht haben. Der Einsatz für die Rechte von Prostituierten ist überhaupt der Schlüssel zur Lösung ihrer gesundheitlichen Probleme. Durch unsere Beratung lernen sie zu verstehen, dass sie selbst für ihre Gesundheit sorgen müssen, weil das sonst niemand macht.

Was sind die häufigsten Anliegen, mit denen sich Sexarbeiterinnen an die Silberne Rose wenden?

Irina: An erster Stelle stehen Verhütungsmittel, an zweiter Stelle rangiert der HIV-Test. Manche möchten den Gynäkologen konsultieren, der für uns ehrenamtlich tätig ist – allein im Februar haben wir 72 Frauen an ihn überwiesen! Und manche suchen uns einfach nur auf, um mit uns über Alltägliches zu reden. Oder auch, um von ihren sozialen und psychischen Problemen oder ihren Erlebnissen zu erzählen – davon, was man ihnen angetan hat oder wie es ist, als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden.

Unter unseren Klienten finden sich übrigens auch männliche Prostituierte – unsere Türen stehen für Männer wie auch Trans*-Menschen offen. Außerdem kooperieren wir mit Projekten, die speziell im Bereich der mann-männlichen Prostitution tätig sind. Wir haben verstanden, dass wir etwas bewegen können, wenn wir zusammenarbeiten.

(Foto: Gisela Peter)
Nicht nur in Russland ein Thema (Foto: Gisela Peter)

Und wenn man, wie deutlich geworden ist, HIV-Prävention in einen größeren gesundheitlichen Kontext stellt.

Olga: Das eigentliche Problem ist ja nicht, dass die Leute zu wenig über den Schutz vor HIV wissen, sondern dass die Sexarbeit kriminalisiert wird! Hinzu kommt das Problem sexueller Gewalt, die bei der HIV-Übertragung eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Die vom Global Fund finanzierten Projekte arbeiten nicht mit dem Konzept von Kriminalisierung und Gewalt – sie sehen das Problem einfach nicht.

Irina: Dazu möchte ich noch ein paar Zahlen nennen. Die Mittel des Global Fund für den Bereich Sexarbeit sind an sieben Organisationen mit rund 3.000 Mitarbeitern geflossen. Nach offiziellen Angaben verteilen sie pro Jahr und Sexarbeiterin 115 Kondome. Tatsächlich aber braucht eine Sexarbeiterin monatlich 100 bis 150 Kondome! Letztes Jahr hat die Silberne Rose pro Frau alle zwei bis drei Monate eine Packung mit 155 Kondomen vergeben und damit 30 bis 50 % des Bedarfs gedeckt; doch um effektiv zu sein, müssten wir 50 bis 70 % des Bedarfs decken.

Die sieben genannten Organisationen müssen mindestens 60 bis 70 % aller Sexarbeiterinnen erreichen. Sie arbeiten aber nur mit Straßenprostituierten, und die machen bloß 10 % aller Sexarbeiterinnen aus. Außerdem bieten sie weder medizinische Behandlung noch psychosoziale und rechtliche Unterstützung an. Wer so arbeitet, ist schlicht ineffektiv und ineffizient.

Website des Global Network of Sexwork Projects (in Englisch) mit Zugang zur Website der Silbernen Rose (Russisch)

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Gesundheit in Haft: „Es hakt immer dann, wenn's teuer wird“

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Christine Höpfner

Christine Höpfner war langjährige Mitarbeiterin der Deutschen AIDS-Hilfe. Sie ist feste freie Redakteurin von magazin.hiv.

1 Kommentar

  1. Da habt ihr jetzt ein Thema angefangen, wo ich gar nicht schweigen darf.Seit 2006 arbeite ich zunehmend mit Menschen mit Behinderung; absolute beginners; Männer nach Prostata und ganz allgemein mit Gästen, die bei üblicher Prostitution meist mit zu viel Zeitdruck; zu wenig Einfühlungsvermögen; zu hoher Zielorientiertheit und zu wenig Menschlichkeit und Wärme hadern.Ich habe keine Ausbildung als Sexualbegleiterin, aber in einer privaten Liebesbeziehung Zugang zumThema Sexualität und Behinderung gefunden und sehr viel dadurch über mich selbst und die wichtigen Dinge im Leben gelernt. Wheelman sagt oben: Nicht so toll, eher absurd und unmöglich finde ich diese Sexualbegleiterinnen.Diese Personen tun so, als würden sie einem Schwerbehinderten etwas Gutes tun.Mag sein, dass es in einigen Fällen so ist, aber es kann niemals das sein, was der Behinderte wirklich will. Dem gebe ich aus meiner Perspektive Recht. Etwas Gutes tun ist in meinen Augen der falsche Ansatz – hierum sollte es nicht gehen. Menschen mit Behinderung brauchen weder Opfer, noch Mitleid.Nina de Vries hat sinngemäß einmal in einem ihrer Interviews gesagt, sie mache ihre Arbeit aus rein egoistischen Gründen. SIE lerne sehr viel von ihren Gästen.SIE habe große Freude daran.SIE fühlt sich emotional und geistig dadurch bereichert. Und dies stimmt mit meinen eigenen Erfahrungen absolut überein.Ich mache heute viel Öffentlichkeitsarbeit; gebe Seminare für MmB und Heilerziehungspfleger; versuche aufzuklären und bin erfüllt und zufrieden durch und mit meiner Arbeit.Ich durfte lernen, wie vielseitig und vielfältig Sexualität sein kann und wie viele gute Gefühle auch ohne Geschlechtsverkehr austauschbar sind.Ich bin dankbar für die wertvollen und schönen Erfahrungen, die ich machen durfte und auch zukünftig noch machen werde.Karin

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