Martine de Schutter war auf dem Weg zur Aids-Konferenz in Melbourne, als die Maschine MH 17 über der Ukraine abstürzte und sie mit in den Tod riss. Das Netzwerk AIDS Action Europe, für das sie fast 10 Jahre gearbeitet hat, erinnert an sie.

Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie erinnern wir uns an Menschen, die etwas im Umfeld von HIV und Aids bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Diese und andere Fragen zum Gedenken stehen in unserer Reihe mit Porträts von Verstorbenen.

 

Ferenc Bagyinszky, Hungarian Civil Liberties Union, Mitglied im AAE-Steuerungsgremium:

„Als ich 2008 im europäischen und internationalen Bereich zu arbeiten anfing, war Martine eine der Ersten, die mich begrüßten und in die Arbeit einführten – und was für eine angenehme Einführung das war! Abgesehen davon, dass sie sehr professionell arbeitete, war sie auch einer der nettesten Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Sie hatte ein Händchen dafür, dass man sich als Teil des Teams fühlte. Fünf Jahre lang haben wir gemeinsam für AIDS Action Europe gearbeitet, haben an Treffen, Konferenzen und Telekonferenzen teilgenommen, berufliche und private Gespräche geführt. Wir lernten uns als Kollegen kennen, aber am Ende wurden wir Freunde.

Martine war immer für dich da, egal, ob du einen Rat in beruflichen Fragen brauchtest oder ein offenes Ohr für deine persönlichen Probleme. Ich erinnere mich an unsere Gespräche über unsere Söhne, die Schwierigkeiten, aber auch die schönen Seiten daran, einen Sohn als alleinerziehende Mutter oder schwuler Vater großzuziehen. Ich erinnere mich an ihre Abenteuer, nachdem ihr Gepäck in Minsk verschollen war, oder wie das halbe AAE-Steuerungsgremium und -Personal wegen der Aschewolke über Island in Kiew festsaß. Ich erinnere mich an die Konferenz in Ljubljana, wo Martine Schmerztabletten an das gesamte Podium verteilte, das nach einer durchzechten Nacht unter massiven Kopfschmerzen litt. Ich erinnere mich …

Als Martine AIDS Action Europe Ende 2013 verließ, war das ein bittersüßer Abschied. Wir wussten, dass das Team sie vermissen würde, aber wir wussten auch, dass das nur ein beruflicher Abschied war. Jetzt müssen wir ihr ein letztes Lebewohl sagen. Ruhe in Frieden, Martine.“

 

Silke Klumb, Deutsche AIDS-Hilfe, Mitglied im AAE-Steuerungsgremium:

„Das erste Mal getroffen habe ich Martine 2009, bei meinem ersten Civil Society Forum (CSF). Ich war ziemlich aufgeregt, weil ich keine Ahnung hatte, was ich von dem Treffen erwarten konnte, und Martine wirkte damals ziemlich reserviert. Ich war zu schüchtern, um sie anzusprechen, aber ihr Lachen war unglaublich ansteckend. Damals lernte ich sie als Projektkoordinatorin von AAE und über ihr Engagement in der IQhiv-Initiative kennen. Wahrscheinlich hatte sie vorher noch nichts von mir gehört, und ich brauchte einige Zeit, bis ich meine Schüchternheit überwinden konnte. Ich erinnere mich sehr gut daran: Ich lief ihr auf dem Flughafen in Amsterdam über den Weg, weil wir beide nach Luxemburg zum CSF-Meeting wollten. Während wir auf das Flugzeug warteten, fingen wir zu plaudern an, als hätten wir uns schon immer über persönliche Dinge, unsere Gedanken oder lustige Anekdoten unterhalten. Ich hatte das Gefühl, wir würden uns schon seit vielen Jahren kennen.

Seither erinnere ich mich vor allem an ihr ansteckendes Lachen. Nach anstrengenden CSF-Sitzungen tranken wir abends zusammen mit anderen Kollegen noch ein paar Gläser Wein. Das war im Dezember 2013. Diese gemeinsamen Augenblicke voller Lachen und voller Warmherzigkeit werde ich nie vergessen.“

 

Lella Cosmaro, LILA Milano Onlus, Mitglied im AAE-Steuerungsgremium:

„Martine hat ganz klar mein berufliches und persönliches Leben verändert. Kennengelernt habe ich sie 2009, bei meinem ersten Treffen des Civil Society Forums. Kurz danach ermutigte sie mich, mich als Mitglied des AAE-Steuerungsgremiums und dann als Ko-Vorsitzende des CSF zu bewerben. Ohne sie hätte ich diese Herausforderungen nicht bestehen können. Sie war meine Mentorin, war immer an meiner Seite und hat ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit mir geteilt.

Martine war eine der Schlüsselfiguren beim Aufbau von AIDS Action Europe und des HIV/AIDS Civil Society Forums. Und sie war das institutionelle Gedächtnis der zurückliegenden zehn Jahre Interessenvertretung auf europäischer Ebene. Ohne ihr unermüdliches Engagement wären wir heute nicht da, wo wir sind. Wir werden uns niemals von diesem Verlust erholen, aber auch wenn wir ohne sie schwächer sind, müssen wir uns weiterhin für eine bessere Welt ohne Ungleichheiten, ohne Stigmatisierung und ohne Diskriminierung einsetzen, denn ich bin mir sicher, dass sie sehr traurig und enttäuscht wäre, wenn wir jetzt aufgäben.

Ich vermisse Martine vor allem als geschätzte Freundin und werde die vielen schönen Augenblicke in so vielen verschiedenen Städten in Erinnerung behalten. Ich erinnere mich daran, dass sie gerne kleine Hotels mit freundlichem Management aussuchte, daran, wie wir nach Meetings noch ein Glas Wein zusammen tranken oder wie wir durch Washington flanierten, die Stadt, die sie so gut kannte. Sie war immer für mich und viele andere Freunde da, und ich hoffe, dass ich ihr zumindest einen Teil dieser Zuneigung, Freundschaft und Unterstützung zurückgeben konnte, die sie mir zuteilwerden ließ. Ich werde sie für immer in meinem Herzen und in meinem Gedächtnis behalten.“

 

Anke van Dam, AIDS Foundation East-West (AFEW), Mitglied und seit 2014 Vorsitzende des AAE-Steuerungsgremiums

2012 organisierte Martine als Projektkoordinatorin von AIDS Action Europe die Sitzung des Steuerungsgremiums in Minsk in Weißrussland. Martine lag viel daran, das Treffen in einem osteuropäischen Land zu veranstalten, um das Netzwerk bekannt zu machen und den Vorsitzenden des Steuerungsgremiums dabei zu unterstützen, für die Bedürfnisse der Menschen mit HIV in Belarus zu sensibilisieren. 2012 gab es große Probleme bei der Versorgung mit HIV-Medikamenten in Weißrussland. Die Reise fing nicht gerade gut an: Martines Gepäck kam nicht an. Sie war traurig, weil die Geschenke für die gastgebende Organisation in ihrem Koffer waren, sodass sie sich nicht gleich bei den Leuten bedanken konnte. Sie fragte jeden Tag am Flughafen nach, bekam den Koffer aber erst zurück, als sie das Land schon verlassen hatte.

Das Meeting erregte sehr viel Aufmerksamkeit, und das nicht nur bei der Zivilgesellschaft vor Ort: Wir wurden von den nationalen Sicherheitsbehörden beobachtet. Jeden Tag standen zwei Männer im Flur des Veranstaltungsortes, am ersten Tag noch hinter Säulen versteckt, aber schon bald beobachteten sie uns und unsere Aktivitäten ganz offen. Wir hatten das Gefühl, dass wir sogar auf dem Weg in Restaurants oder bei Ausflügen in die Stadt verfolgt wurden. Das war unangenehm, aber irgendwie mussten wir auch darüber lachen. Vor allem Martine aber war sich über die möglichen Konsequenzen für AAE und für unseren Gastgeber im Klaren. Als sie von einem lokalen Medium um ein Interview gebeten wurde, war sie deshalb sehr vorsichtig. Auf der anderen Seite sah sie aber auch, dass die Weißrussinnen und Weißrussen mit HIV und die örtlichen NGOs die Unterstützung durch AIDS Action Europe brauchten. Und so stellte sie sich vor die Kamera und sprach

darüber, wie wichtig es ist, die Leute zu behandeln und Medikamenten-Engpässe zu vermeiden. Sie sorgte sich also mehr um die Menschen in Not als um ihre eigene Sicherheit.“

 

Harry Witzthum, Schweizerischer Gehörlosenbund, ehemaliges Mitglied im AAE-Steuerungsgremium:

„Martine war für mich eine Kollegin, eine Freundin und in vielerlei Hinsicht eine Mentorin, insbesondere bei meinen ersten Schritten auf der europäischen Ebene der HIV-Arbeit, vor vielen Jahren. Sie war von Beginn an bei AIDS Action Europe dabei und nahm an zentraler Stelle Einfluss auf die Entwicklung des Netzwerks, seine Strategien und seine Arbeit. Mit ihrer Ausdauer, ihrem Engagement und ohne Zweifel manchmal auch mit ihrer Sturheit trieb sie die Agenda innerhalb von AAE und auf europäischer Ebene voran – dieser Aussage dürften viele Kolleginnen und Kollegen zustimmen.

Doch abgesehen von ihren professionellen Fähigkeiten wurde sie mir auch zu einer Freundin. Bei zahllosen Meetings mit den Mitarbeitern und auch bei vielen Treffen außerhalb der Arbeit konnten wir zusammen lachen und in Erinnerungen schwelgen. Alle vermissen sie sehr. Und ich hoffe, dass sich viele von uns ein Beispiel an ihrer Haltung nehmen. Sie hat uns gezeigt, dass man mit Engagement und Leidenschaft auf persönlicher Ebene etwas verändern kann. Das zumindest nehme ich mit von Martine, und für all das möchte ich mich bei ihr bedanken.“

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