Der 17. Mai ist der Internationale Tag gegen Homo- und Transphobie. Martin Reichert über das Engagement für die Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*- und Inter*-Menschen (LGBTI) – und die christlich-konservativen Gegenkräfte.

Es gehört zu den Aufgaben einer demokratisch verfassten Gesellschaft, für den Schutz von Minderheiten zu sorgen. Die Politik kommt dieser Aufgabe in Hinsicht auf LGBTI mehr oder weniger – und man muss sagen: immer mehr – nach. Ein Beispiel ist der „Bildungsplan Baden-Württemberg“: Er will Kinder und Jugendliche im Schulunterricht unter anderem „zum diskriminierungsfreien Umgang mit Vielfalt in personaler, religiöser, geschlechtlicher, kultureller, ethnischer und sozialer Hinsicht zu befähigen“, so die Formulierung in einem 2013 veröffentlichten Arbeitspapier zu den Leitprinzipien, und sieht dafür auch Aufklärung über die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten vor.

Ein Leben ohne Beschädigungen ermöglichen

Dies dient auch und gerade dem Schutz sexueller Minderheiten: Europäische und anglo-amerikanische Studien belegen, dass Homophobie und verinnerlichte Homophobie das Hauptgesundheitsrisiko für LGBTI darstellen. Ausgrenzung, Beschimpfungen, Selbsthass – diese Erfahrungen sind es, die das Leben von LGBTI nachweislich entscheidend beeinflussen, Angststörungen, Depressionen und ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko sind die Folgen. Bei den meisten LGBTI, die ihr Coming-out mehr oder weniger glücklich überstanden haben, handelt es sich um Überlebende. Und wer diesen Zustand verändern will, kommt nicht umhin, an die Schulen zu gehen und das Übel an der Wurzel zu packen. Es geht um Prävention: „Die meisten Schwulen und Lesben sind auf sich alleine gestellt – je nach individueller Situation hat das später massive Auswirkungen. Wir brauchen daher schon in der Schule positive Vorbilder und vor allem die Vermittlung eines gleichberechtigten, selbstverständlichen und auch positiven Selbstverständnisses“, erklärt Dr. Dirk Sander von der Deutschen AIDS-Hilfe.

Es geht also darum, einer Minderheit ein Leben ohne größere Beschädigungen zu ermöglichen. Und es geht darum, der Mehrheit der heterosexuell empfindenden Jugendlichen Empathie gegenüber einer Minderheit nahezulegen. Doch gegen einen solchen zivilisierten Umgang in einem demokratischen Land wird aus dessen „bürgerlicher Mitte“ zum offenen Widerstand aufgerufen. „Widerstand ist Pflicht“ skandierte zum Beispiel die AfD-Politikerin Beatrix von Storch, die gegen das „Eindringen des Gender-Gifts“ in Deutschland agitiert. Bei den Großdemonstrationen gegen den Bildungsplan Baden-Württemberg in Stuttgart hatte sie ebenso die Finger im Spiel wie die Publizistin und Kampfmutter Birgit Kelle („Frau 2000 Plus“) und das „Bündnis Rettet die Familie“ – eine breite, etwas seltsam formierte Front aus radikalen Christen, Euro-Gegnern und Teilen der CDU.

Hier wird bewusst falsch verstanden und in Hetze verwandelt

Das war im letzten Jahr – derzeit sind es die „Besorgten Eltern“, die bundesweit gegen den Sexualkundeunterricht in Schulen protestieren. Bei diesen Protesten sind auch Rechtsradikale und Verschwörungstheoretiker wie Jürgen Elsässer im Boot, dessen Argumentation dann ungefähr so lautet: Die Europäische Union und die UNO zwingen Deutschland die „Gender-Ideologie“ auf, um die hier lebenden frommen Muslime aufzuhetzen – mit dem Ziel, einen Bürgerkrieg zu entfachen.

Ob nun Bildungsplan oder „Gender-Ideologie“: Hier wird mehr oder weniger intelligent bewusst etwas falsch verstanden und in Hetze verwandelt. Der Ansatz des Bildungsplans Baden-Württemberg, einer gestressten Minderheit zur Emanzipation zu verhelfen, wird zum Versuch einer Minderheit umgedeutet, die Mehrheit umzupolen. Kinder sollen angeblich zur Homosexualität ermutigt, gar erzogen werden. Das Gleiche bei der „Gender-Ideologie“: Die Gender-Theorie, ein kritisches Instrumentarium, das der Bewältigung von gesellschaftlichen Ungleichbehandlungen dienen kann und das in Form des „Gender-Mainstreamings“ und „Diversity-Managements“ Einzug in Politik und Wirtschaft gefunden hat, wird zu einer bedrohlichen, totalitären Ideologie stilisiert, die die Abschaffung von Mann und Frau zum Endziel hat.

Schlichtes, christlich-konservatives Welt- und Familienbild

So wie die wenigsten besorgten Eltern und christlichen Mütter und Väter Jürgen Elsässer verstehen dürften, so haben die wenigsten von ihnen wohl Judith Butler gelesen und verstanden, die Königin der Gender-Theory und der Queer Studies. Es geht ihnen auch gar nicht um ein tieferes Verständnis, sondern in vorderster Linie um die Beibehaltung oder Wiederherstellung eines christlich-konservativen Welt- und Familienbildes gemäß vatikanischer oder evangelikaler Auslegung. Mann-Vater, Frau-Mutter, zielgerichtete Fortpflanzung, Kind. So weit, so schlicht.

In Frankreich sorgten vor zwei Jahren die Demonstrationen unter dem Motto „Manif pour tous“ („Demonstration für alle“) für Aufsehen: Über 300.000 Bürgerinnen und Bürger waren auf der Straße, um gegen die Homo-Ehe zu demonstrieren. Hier agitierten vor allem Katholiken – ein Protest, der sich auch gegen den französischen Laizismus an sich richtete. Der Front National unter Marine Le Pen versucht hingegen neuerdings, die Homosexuellen (und auch die Juden) als Bündnispartner zu gewinnen: Für die Sache der Nation und gegen den Islam.

Über religiöse Befindlichkeiten hinaus geht es in den Kreisen der Homo-Gegner um diffuse Bedrohungsszenarien, in deren Zentrum die Angst vor der Zerstörung der gesamten Existenz steht. Die Existenz ist in dieser Lesart die klassische Kleinfamilie, die zugleich als Keimzelle und Grundbaustein des Staates verstanden wird. Es geht also um nichts weniger als alles. Und das ist so viel, dass um jeden Zentimeter gerungen wird, etwa um den Artikel 6 des Grundgesetzes, der die Besonderheit und den besonderen Schutz der Ehe garantiert. Die Ehe von Mann und Frau soll an erster Stelle kommen. Eine Öffnung der Ehe, die Gleichstellung von Homosexuellen würde die Ehe dieser Lesart zufolge „beschädigen“, also entwerten. Am Ende: zerstören.

Die Angst der Mittelschicht kennt keine Grenzen

Es geht um den Bestand der Nation, die durch „Homo-Ehe“ und Gleichstellung von Homosexuellen gefährdet sei. Im Inneren. Denn von außen drohen ja noch ganz andere Dinge: Der Euro etwa, aber auch der Islam. Die USA. Die Globalisierung. China. Die Angst der Mittelschicht, stets in doppelter Frontstellung gegen die sozialen Kräfte von oben und von unten, kennt keine Grenzen – und doch ist man in der Regel geschickt genug, nicht offen gegen Homosexuelle zu hetzen. Birgit Kelle betont, dass sie schwule Freunde hat. Die AfD betont, nicht gegen Schwule zu sein, aber für die Familie. Professionelle Medienarbeit.

In Russland dagegen hört man eindeutige Worte, wenngleich auch sie dem Muster „Wir haben nichts gegen, aber…“ folgen. Originalzitat Wladimir Putin im Vorfeld der Spiele von Sotschi: „Wir haben nichts gegen Homosexuelle, aber bitte lasst unsere Kinder in Ruhe“. In der Tat ist in Russland ja nicht die Homosexualität strafbar, sondern die „Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“. Über gleichgeschlechtliche Liebe soll nicht vor Kindern und Jugendlichen gesprochen werden, damit Kinder und Jugendliche nicht zu ihr „verführt“ oder „erzogen“ werden können. Diese staatlich geförderte Homosexuellenfeindlichkeit hat aber sicher noch andere Gründe. So braucht der mit der orthodoxen Kirche kooperierende russische Machtapparat einen Feind im Inneren, und es sind in der Regel Minderheiten, die dafür herhalten müssen. Außerdem werden LGBTI als identitätsstiftende Geiseln missbraucht, die der nationalistischen Abgrenzung zum Westen dienen: Homosexuelle gibt es nur in „Gayeurope“ und den USA.

Am Ende steht immer: homosexuell = pädosexuell

Den Protest gegen den Bildungsplan Baden-Württemberg und das Gesetz gegen homosexuelle Propaganda in Russland unterscheidet bei genauem Hinsehen: nichts. Beide Formationen gehen von der längst überholten Annahme aus, dass Homosexualität anerzogen werden könne – und darunter liegt das Ressentiment homosexuell = pädosexuell. Wie ressentimentbeladen und verrückt die Einwände gegen eine Aufklärung von Jugendlichen in Fragen sexueller Vielfalt auch immer sein mögen, so ist dies am Ende der gemeinsame Nenner aller Akteure.

Es geht also um nichts weniger als Gegenaufklärung. Und damit wiederum um alles für die Minderheit der LGBTI, die auf eine liberale, demokratische Gesellschaft angewiesen ist, wenn sie unbehelligt leben möchte. Und auch wenn die radikalen Gegner des Bildungsplans Umfragen in Baden-Württemberg zufolge selbst eine Minderheit sind – Dirk Sander von der AIDS-Hilfe spricht von ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung –, so sind sie dank sozialen Medien und öffentlich-rechtlichen Talk-Shows doch eine ziemlich lautstarke Minderheit.

 

Martin Reichert ist Journalist und Autor und arbeitet als sonntaz-Redakteur.

 

Weitere Informationen

Die Stimme gegen Homo- und Transphobie erheben kann man rund um den 17.5. auf vielen Veranstaltungen; eine Übersicht findet sich zum Beispiel hier: http://www.queer.de/detail.php?article_id=23769

„Voll schwul!“ … Was kann Schule tun, um Homo- und Transphobie abzubauen? (Beitrag in schulmanagement-online.de, 2/2014; PDF-Datei)

Andreas Kemper: „Keimzelle der Nation – Teil 2: Wie sich in Europa Parteien und Bewegungen für konservative Familienwerte, gegen Toleranz und Vielfalt und gegen eine progressive Geschlechterpolitik radikalisieren“ (Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung, PDF-Datei)

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