Zwei Gefängnisärzte haben ihre Erfahrungen zu Papier gebracht. Sie blicken auf mehr als 20 Jahre Praxis „hinter Gittern“ und darauf, was die Haft mit ihren Patient_innen macht.

Bei jedem Ausbruch aus einer Haftanstalt werden reflexartig neben dem Rücktritt der zuständigen Minister_innen unüberwindbare Mauern verlangt, bei jeder abscheulichen Straftat höhere und strengere Strafen. Es gibt einen Überbietungswettbewerb, der darin besteht, die Bedingungen der Haft möglichst unerfreulich zu gestalten. Überließe man es dem Mob der Straße, hätten wir längst wieder die Todesstrafe eingeführt und könnten uns bei Ländern wie den USA und Saudi-Arabien einreihen.

Dabei wird grundlegend verkannt, dass Strafe kein Selbstzweck ist, sondern einen Ausgleich zwischen Schuld und Sühne schaffen soll, möglichst in dem Bestreben, dem_der Verurteilten hinterher ein straffreies Leben zu ermöglichen. Die Strafe ist hierbei der Freiheitsentzug, es sind nicht besonders miese Haftbedingungen.

Mit Einführung des Strafvollzuggesetzes Mitte der Siebzigerjahre sollte der Justizvollzug bundesweit einheitlich geregelt werden. Leitgedanken waren damals, kurze Freiheitsstrafen zu vermeiden und psychisch Kranke im Maßregelvollzug zu behandeln. Weil dieser unbefristet ist, versuchen ihn Straftäter_innen mithilfe ihrer Anwält_innen zu verhindern – mit der Konsequenz, dass seelische und psychiatrische Krankheiten im Vollzug gehäuft auftreten.

„Das Betäubungsmittelgesetz gehört in den Müll“

Es gab immer einen Bodensatz gefährlicher Menschen, die wegen ihrer Straftaten weggesperrt werden mussten, bei denen jedes therapeutische Konzept versagte. Den Rest galt es, möglichst in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu bringen und als Freigänger_innen für ein Leben in Freiheit „nachzusozialisieren“.

Diese Vorhaben jedoch scheiterten am Widerstand der Länder, die im Zuge der Föderalismusreform die Strafvollzugsgesetzgebung übertragen bekommen haben. Und somit haben wir in Deutschland einen bunten Flickenteppich von Zuständigkeiten und Regelungen: In Bayern ist der geschlossene Vollzug die Regel, der Freigang die mühsam zu erwerbende Ausnahme. Substitution gibt es dort ebenfalls nur selten. In Baden-Württemberg hingegen ist sogar die Diamorphinsubstitution, die Originalstoffvergabe, in Haft erlaubt.

Etwa ein Drittel der in Männerhaftanstalten Inhaftierten ist suchtkrank, während es in den Frauengefängnissen, wo übrigens auch Inter*- und Trans*-Personen aufgenommen werden, etwa die Hälfte ist. Der Gefängnisarzt und Autor Karlheinz Keppler, dessen geistiger Mentor, wie er mir mal erzählte, Dr. Michael Lutz-Dettinger aus Kassel ist, ist sich sicher: „Das Betäubungsmittelgesetz gehört in den Müll.“ Die Erfahrungen aus seiner langjährigen Tätigkeit in der Frauenjustizvollzugsanstalt Vechta hat er in dem Buch „Frauenknast. Welt mit eigenen Regeln – ein Gefängnisarzt packt aus“ aufgeschrieben.

Ein familienfreundlicher Beruf

Im Knast sitzen viel zu viele, die dort nicht hingehören, aber die viel zu geringen Kapazitäten der Haft blockieren. Dazu gehören auch die Schwarzfahrer_innen, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Zu diesem Thema und zu möglichen Auswegen für die Justiz aus diesem Dilemma ist übrigens auch in dem Handbuch „Gesundheit und Haft“ einiges zu finden.

Keppler ist ein politischer Autor, der schnörkellos und direkt die Arbeitswirklichkeit im Frauenknast beschreibt, die Menschen, die ihm begegnen, die Probleme – individuell und strukturell. Aber auch das Erfreuliche der Arbeit. Gefängnismediziner zu sein, bedeutet, einen zeitlich planbaren, familienfreundlichen Beruf zu haben, ein Privileg, das Assistenzärzt_innen in Kliniken mit Überstunden und Nachtschichten ohne Ende nicht kennen. Darüber ist sich auch Joe Bausch im Klaren: Der Anstaltsarzt der Männer-JVA Werl, im Nebenberuf Schauspieler und aus dem Kölner „Tatort“ bekannt, blickt in seinem Buch „Knast“ auf 25 Jahre Gefängnismedizin zurück.

Abbildung des BuchcoversDennoch hat so eine Arbeit hinter Mauern und vielfach verschlossenen Türen ihre Tücken, erfordert Ausgleich, sei es die Schauspielerei oder die Musik. Ganz einfach ist die Kundschaft nicht: Suchtkranke aus verschiedenen Kulturen, misshandelte und missbrauchte Menschen, Schläger_innen und Betrüger_innen. Darunter jede Menge Kleinstbetrüger_innen – für den Steuerzahler ist das ziemlich teuer. Beide beschreiben sie aber, dass nach einer kurzen Zeit der Neugier die Taten irrelevant werden, es sei denn, sie haben bei der Behandlung eine Rolle zu spielen.

Knast verändert, macht erst mal alle gleich. Das fängt bei der Wäsche an und endet beim Einschluss. Getöse wird man sich als Inhaftierte_r nicht lange leisten, weil das sofortige Sanktionen nach sich zieht. Auch wenn es der „Tatort“ immer anders zeigt: Für Besucher_innen ist die unheimliche Stille in deutschen Haftanstalten befremdlich.

Bausch beschreibt über Seiten hinweg den Vorgang des Auf- und Zuschließens, und was das mit Menschen macht – jahrelang eigenhändig keine Tür öffnen zu können. Dass man sein Gegenüber mit seiner Sucht und seinen sozialen Schieflagen an- und nicht nur hinnehmen muss, ist bei Keppler raumgreifendes Thema. Für ihn ist es daher nur folgerichtig, auch außerhalb der Gefängnismauern eine Substitutionspraxis zu unterhalten. So kann er seinen substituierten Patient_innen nach der Entlassung einen nahtlosen Übergang ermöglichen.

Eine wohnortnahe Unterbringung ist gerade bei Frauen kaum möglich

Beide beschreiben die latente Bedrohung der Gefangenen durch Mithäftlinge, Gewalt und Missbrauch und natürlich Drogenkonsum. Dazu der notorische Personalmangel, insbesondere in den medizinischen Abteilungen. Natürlich sind auch Gefängnisärzt_innen den medizinischen Leitlinien unterworfen und nicht weisungsgebunden. Zu den bayerischen Haftmediziner_innen – der Einschub muss sein – hat sich das noch nicht herumgesprochen, sonst führte die Suchtmedizin dort nicht so ein stiefmütterliches Dasein.

Doch befinden sie sich auch in einer Zwitterrolle: Sie sind diejenigen, die Arbeitserleichterungen verordnen können, Zusatzkost oder gar eigene Wäsche. Statt endloser Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen gibt es andererseits im Knast schlicht das, was notwendig ist, sei es eine Brille oder die schon lange fällige grundlegende Sanierung des Gebisses.

Cover des Buches "Knast" von Joe BauschEs ist schon bemerkenswert: Im Gefängnis sollen Menschen geschult werden, damit sie anschließend wieder in Freiheit straffrei leben können. Der Weg dahin soll allerdings darüber führen, ihnen die Kleidung abzunehmen, Außenkontakte einzuschränken und sie gegebenenfalls mit Sanktionen auf ein pflegeleichtes Maß zurechtzustutzen. Und wenn sie wieder draußen sind, ist die Altersarmut schon vorprogrammiert, da im Gefängnis zwar eine Arbeitspflicht besteht, nicht jedoch eine Versicherungspflicht. Tragen müssen es dann die Kommunen.

Die Inhaftierten und Delikte unterscheiden sich bei Keppler und Bausch. Der zentrale Unterschied zwischen Frauen und Männern in Haft ist jedoch, dass es sehr viel weniger weibliche Gefangene und deshalb auch sehr viel weniger Frauengefängnisse gibt. Eine Ausdifferenzierung nach Jugendarrest, Jugend- und Erwachsenenvollzug ist bei den Frauen daher kaum möglich – von einer wohnortnahen Unterbringung ganz zu schweigen, was die Familien noch zusätzlich belastet.

Umdenken in der Justizpolitik gefordert

Während man bei den Männern bei kurzen Freiheitsstrafen vielleicht noch auf die Ausrede, er sei auf Montage im Ausland, zurückgreifen kann, geht das bei Frauen kaum. Haft heißt gleichzeitig, die sozialen Bezüge zu zertrümmern, und das in den meisten Fällen aufgrund einer Suchterkrankung oder der Unfähigkeit, kleine Geldstrafen abzuzahlen.

Und so fordert Keppler ein Umdenken in der Justizpolitik: weg davon, Ersatzfreiheitsstrafen zu verhängen, Suchtkranke zu bestrafen und den Strafvollzug für Symbolpolitik zu missbrauchen. Bausch und Keppler sind sich einig, dass ein am Wohl der Gefangenen orientiertes Umdenken erfolgen muss. Wer jenseits der Stammtische über Vollzug und die Notwendigkeit von Reformen mitreden will, sollte diese beiden Bücher gelesen haben.

Man kann nicht oft genug Tucholskys Merkblatt für Geschworene zitieren, das mit den Worten beginnt: „Wenn du Geschworener bist, dann glaube nicht, du seist der liebe Gott. Daß du neben dem Richter sitzt und der Angeklagte vor euch steht, ist Zufall – es könnte ebensogut umgekehrt sein.“ Und mit dem Satz endet: „Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.“

Von Bernd Aretz

Dr. med. Karlheinz Keppler: „Frauenknast. Welt mit eigenen Regeln – Ein Gefängnisarzt packt aus“, Taschenbuch, Heyne 2014, 304 S.

Joe Bausch: „Knast“, Hardcover, Ullstein 2012, 288 S.

 

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Bernd Aretz

langjähriger Mitstreiter und Wegbegleiter der Deutschen Aidshilfe, Enfant terrible und Hundeliebhaber (06.07.1948 – 23.10.2018)

2 Kommentare

  1. Bitte an Bernd Aretz weiter leiten!
    Lieber Bernd Aretz, nun bin ich leider spät auf Deinen schönen Artikel über den Justizvollzug gestoßen.
    Danke für diesen schönen tief gehenden Artikel. Bisher habe ich nichts besseres gelesen.
    Kompliment und Danke
    Karlheinz Keppler

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