Als Marcus am 22. Februar 2016 mit 36 Jahren an einer Überdosis Heroin starb, war er alleine. Zu seiner Beerdigung kamen gerade mal zehn Personen. Das passte gar nicht zu ihm, denn er liebte es, unter Menschen zu sein. Aber wie so viele Drogengebraucher_innen hatte er fast sein ganzes soziales Netzwerk verloren. Zum Internationalen Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher 2018 erinnert sein Freund Mathias Förster an ihn

Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit Marcus. Im Sommer 2004 wurde ich, damals schwerstabhängig, in einem Übergangswohnheim für substituierte und aktiv süchtige Menschen aufgenommen. Marcus lebte bereits dort und blieb innerhalb dieses Kollektivs mein einziger näherer Kontakt.

Nähe in einer Welt emotionaler Verarmung und sozialer Isolation

In dieser Welt aus „kontrolliertem“ Drogenkonsum, gescheiterter Existenz und fehlenden Zukunftsperspektiven sind emotionale Verarmung und soziale Isolation der ganz normale Alltag.

Niemand ist an der Geschichte oder den Geschichten des Nachbarn interessiert. An erster Stelle kamen immer das eigene Überleben und der nächste Rausch. Danach kam dann nicht mehr viel.

Marcus war anders. Seine aufgeschlossene und warmherzige Art, beeindruckend optimistisch, menschlich und ehrlich nah, berührte mich.

Optimismus und positive Einstellung trotz widriger Umstände

Trotz seiner persönlichen Geschichte, einer durch Gewalt geprägten Kindheit mit Heimaufenthalten, trotz Kriminalität, mehreren Gefängnisstrafen und einer schweren Drogenabhängigkeit strahlte er so unglaublich viel positive Energie aus, die anstecken konnte.

Marcus war wie ein großer Bruder, der immer nach dem kleinen schaute

„Nimm das Leben nicht so schwer, irgendwo ist doch immer ein Weg“.

Gesagt hat er es nie, aber fühlen konnte ich es in jeder unserer Begegnungen. Wie ein großer Bruder, der zwar seine eigenen Sorgen und Probleme hatte, aber immer nach dem kleinen schaute. Seine Anwesenheit und die eher zufälligen Treffen machten das Leben dort auf jeden Fall erträglicher.

Getrennte Wege gemeinsam gehen

Dann trennten sich unsere Wege.

Erst 2008 trafen wir uns zufällig bei einem Fußballturnier für abstinente Menschen wieder. Ich war bereits knapp zwei Jahre clean, Marcus gerade in einer Therapieeinrichtung. Wir begegneten uns also das erste Mal ganz nüchtern. Und haben uns seitdem nie wieder aus den Augen verloren. Auch nicht, als Marcus der Liebe wegen nach Hannover zog.

Wir telefonierten beinah täglich, trafen uns regelmäßig, erlebten Urlaube zusammen. Alles ganz neu und alles ganz besonders. Besonders, weil wir nicht hätten verschiedener sein können und dennoch immer zueinanderstanden.

Flucht aus der täglichen Routine

Irgendwann jedoch verlor Marcus die Kontrolle. Er hatte mittlerweile einen festen Arbeitsplatz, eine intakte Beziehung mit einer liebevollen Partnerin, ein sicheres soziales Umfeld und Hobbies.

Nichts am Alltag ließ ihn seine Grenzen spüren

Im Nachhinein glaube ich, dass es genau das war, was ihn immer wieder zur Flucht und in den Rückfall trieb. Diese Routine, die ständig wiederkehrenden Tagesabläufe, dieser Alltag, all das unterforderte ihn.

Nichts von dem ließ ihn seine Grenzen spüren, nichts von all dem konnte ihn langfristig erfüllen. Er muss sich immer wieder so leer gefühlt haben.

Beginn einer Abwärtsspirale

Erst schlingerte er nur, dann zog ihn der Strudel nach unten.

Und dann verlor er alles. Erst den Job, dann die Freunde, dann die Partnerin. Er manövrierte sich wieder in einen Kreislauf aus Kriminalität und Konsum. Den Kontakt zu mir hielt er jedoch immer aufrecht.

Als er sich in Hannover sämtliche Perspektiven genommen hatte, als es weder Lichtblicke noch lebenswerte Momente gab, holte ich ihn zurück nach Berlin, in der Hoffnung, durch den engeren Kontakt mehr Nähe geben und positiven Einfluss nehmen zu können. Das war 2014.

Neue Energie, neue Zukunftspläne

Marcus schaffte es, wieder aufzustehen, machte eine Entgiftung, begann anschließend sogar eine Langzeittherapie, schmiedete Zukunftspläne, war wieder voller Energie.

Unsere Beziehung wurde enger, durch jeden Stein, den wir gemeinsam aus dem Weg räumten.

Ich spürte, dass er verzweifelt nach etwas suchte

Er fand wieder Arbeit, eine Freundin, spielte Fußball, hatte mich und Freunde.

Ich begleitete ihn die ganze Zeit, mal mehr, mal weniger, immer so, wie er es zulassen konnte. Dass ihm etwas fehlte, dass er die ganze Zeit verzweifelt nach etwas suchte, es aber nicht finden konnte, das spürte ich.

Diese besondere Leichtigkeit, die wir beide so sehr liebten, mit der wir uns gegenseitig stärkten und mitrissen, dieses „Heute die Stadt und morgen die Welt“ – das war nicht mehr da.

Wir redeten nie darüber, aber spürten diese Machtlosigkeit deutlich. Und konnten nichts daran ändern. Ich konnte ihm nicht helfen.

Irgendwann war Marcus weg

Irgendwann war sein Handy aus. Und Marcus weg, von einem Tag auf den anderen.

Niemand konnte sagen, wo er sich aufhielt, nirgends tauchte er auf. Sein WG-Zimmer im Betreuten Wohnen blieb leer.

Drei Wochen lang suchte ich nach ihm, auf der Szene, in Krankenhäusern, in Notübernachtungen. Nichts, keine Spur. Das war im Februar 2016.

Und dann kam der Anruf mit der Mitteilung, dass sie Marcus gefunden hatten. Allein in einem Pensionszimmer. Gestoben am 22.02.2016, mit nur 36 Jahren, an einer Überdosis Heroin.

Der Verlust schmerzt bis heute

Die Gedanken daran, dass er friedlich eingeschlafen ist, dass alles ganz schnell ging, halfen mir über meinen Verlust hinweg, ließen mich weiter funktionieren.

Er hätte es so verdient, dieses Leben

Die Gedanken daran, wie einsam und verloren er sich die letzten Tage vor seinem Tod gefühlt haben muss, lassen mich bis heute, auch zweieinhalb Jahre nach seinem Tod, nicht los.

Ich bin bis heute keinem anderen Menschen begegnet, der sich so sehr nach dem Leben sehnte. Der immer wieder so tief fiel und der trotzdem immer wieder aufstand.

Er hätte es so verdient, dieses Leben.

Eigentlich wollte er doch nur irgendwo ankommen, ein Zuhause und ein kleines bisschen Glück finden. Vielleicht kann er sich ja dort, wo er jetzt ist, endlich frei fühlen.

Doch wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es, dass uns der Himmel noch eine Chance gegeben hätte.

Weitere Informationen

Informationen zum Gedenktag am 21. Juli bietet ein Faltblatt der Deutschen AIDS-Hilfe.

Die Veranstaltungen zum Gedenktag 2017 dokumentiert der Drogenkurier Nr. 111 vom September 2017.

Das Statement „20 Jahre Gedenktag – ein erfolgreiches Bündnis für akzeptierende Drogenpolitik“ des JES-Bundesverbandes zum Gedenktag 2018 findet sich hier.

Weitere Beiträge zum Thema Leben mit Drogen, Prävention und Drogenpolitik bietet magazin.hiv.

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