Am 21. Mai 1989 verabschiedete die Deutsche Aidshilfe das Positionspapier Schwule und Aids – mit seinem aufgeklärten Verhältnis zu schwuler Sexualität und Lebensweisen Basis für die Präventionsarbeit. Wie aktuell sind diese Thesen heute? HIV-Präventionist_innen haben sie neu gelesen.

Was ein halbes Dutzend schwuler Männer aus dem Aidshilfe-Umfeld am ersten Mai-Wochenende des Jahres 1989 entwickelt und auf Papier gebracht hatten, hatte Sprengkraft:

Das siebenseitige Positionspapier Schwule und Aids stellte ein Präventionskonzept vor, das weit über das Vermitteln von Safer-Sex-Praktiken hinausging.

In den Kampagnen sollte beispielsweise der schwule Lebensstil nicht in Frage gestellt, sondern bestärkt, Präventionsbotschaften sollten klar, unverblümt und in der Sprache der Szene vermittelt werden.

Das Positionspapier ist bis heute ein wichtiges Grundlagenpapier der Deutschen Aidshilfe. Doch wie aktuell ist es? Anlässlich des 30. Jahrestags der Verabschiedung des Positionspapiers haben wir Stimmen von heute aktiven Präventionist_innen einfangen:

„Präventionsangebote sind immer ein Eingriff in einen sensiblen Bereich. Wir müssen die störenden Wirkungen unserer Angebote daher permanent überdenken.“ Positionspapier Schwule und Aids, 1989

„Das Positionspapier gehört für mich zur DNA der Deutschen Aidshilfe und des Fachbereichs, der sich mit der Gesundheit von MSM* auseinandersetzt.

Es erinnert daran, dass wir es in der Prävention mit echten Menschen, mit deren echten Sorgen, Nöten und berechtigten sexuellen Lüsten zu tun haben – und nicht etwa mit Risikopopulationen, deren Verhalten im Sinne normativer Vorstellungen von Gesundheit beeinflusst werden muss.

Ein Satz aus dem Papier bringt diese Haltung auf den Punkt: Prävention darf sich nicht nur auf ‚individualmedizinische Vorbeugungsmaßnahmen‘ beschränken, sondern muss ‚in einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit sämtliche menschliche Lebensbereiche und deren krankmachende Faktoren berücksichtigen‘.“

Dirk Sander,  DAH-Referent für schwule, bisexuelle und andere Männer, die Sex mit Männern haben

„AIDS-Arbeit muss normabweichendes Verhalten, das zur HIV-Infektion führen kann, akzeptieren. AIDS-Politik und Schwulenpolitik sind ursächlich miteinander verknüpft. AIDS-Arbeit in all ihren Aspekten muss zugleich Emanzipationsarbeit sein.“ Positionspapier Schwule und Aids, 1989

„‚Schwul leben, heißt Leben mit HIV/AIDS: es gibt keine AIDS-freien Nischen‘ gilt heute noch wie damals. Das Positionspapier Schwule und Aids war ein wegweisender Schritt zu einer erfolgreichen Prävention in Deutschland, die den Menschen mit all seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt gestellt hat.

Als schwuler Mann kann man sich vor HIV nicht verstecken; wir alle leben mit HIV, jeder Griff nach einem Kondom beinhaltet den Gedanken an die Infektion.

Nur mit einer differenzierten Auseinandersetzung und Information kann man der Angst vor HIV sinnvoll und erfolgreich begegnen, denn Angst ist niemals ein guter Ratgeber.

Angst führt zu Ausgrenzung und Diskriminierung, zu Verstecken und so zu mehr Infektionen.

Mit diesem Positionspapier hat sich die Deutsche Aidshilfe für den Kampf gegen die Ausgrenzung und die sachliche Aufklärung entschieden. Das war eine mutige und weitsichtige Entscheidung.“

Björn Beck, Vorstand der Deutschen Aidshilfe und Kampagnenkoordinator von HESSEN IST GEIL

„Die Akzeptanz der schwulen Lebensformen in ihrer Vielfalt als Grundvoraussetzung präventiver Arbeit für Schwule beinhaltet selbstverständlich die Bejahung der (Homo-)Sexualität und die Bejahung, dass Sexualität in den verschiedenen Gestaltungsformen gelebt wird. … Jeder hat das Recht zu wählen, was, wo und mit wem es für ihn selbst befriedigend, lustvoll, geil, schön und richtig ist.“ Positionspapier Schwule und Aids, 1989

„Wie aktuell, modern oder überholt ist das Papier? Erfreulicherweise haben wir durch den medizinischen Fortschritt heute mit Kondom, PrEP, PEP und Schutz durch Therapie mehr Möglichkeiten zum Schutz vor HIV/Aids als 1989.

Dennoch ist das Papier in den Grundsätzen und in der Haltung absolut aktuell, allerdings haben sich die Themen in der HIV/STI-Prävention etwas verschoben [Anm. d. Red.: STI steht für sexually transmitted infections = sexuell übertragbare Infektionen/Geschlechtskrankheiten]. Durch die medizinischen Möglichkeiten wie PrEP, PEP und N=N erleben wir neue Unsicherheiten und Diskussionen über Verantwortlichkeiten.

Auch durch die HIV/STI-Testmöglichkeiten laufen wir Gefahr, Prävention hierauf zu verkürzen und eine Norm zu setzten: ‚Jeder schwule Mann sollte einen HIV/STI-Test machen.‘

Dieses würde dann jeden schwulen Mann als potenziellen Patienten bezeichnen. Gerade dieses wollte das Papier aber verhindern. Deshalb ist das Papier so aktuell und eine Besinnung darauf notwendig.

Unsere HIV-Präventionsarbeit ist weiterhin einer ganzheitlichen, diskriminierungsfreien, selbstbestimmten und individuellen Gesundheitsförderung verpflichtet. Dieser Präventionsansatz im Einklang von Verhaltensprävention und Verhältnisprävention ist nicht obsolet oder veraltet, benötigt aber neue Aufmerksamkeit.“

Marc Grenz, Geschäftsführer des Hamburger Präventionsprojektes Hein & Fiete

„Der Test von systemlosen Personen ist beim derzeitigen Stand der Therapiemöglichkeiten nicht angezeigt. Der Test birgt die große Gefahr, gesunde Menschen zu Patienten zu machen und gerade dadurch den Ausbruch der Krankheit, infolge von Stress, Angst und Depressionen, zu beschleunigen.“ Positionspapier Schwule und Aids, 1989

„Auch wenn mich die unbedingt sexualitätspositive Haltung des Papiers und sein Respekt vor der selbstbestimmten Lust des Einzelnen in dunklen Zeiten – die es waren – stark beeindruckt, besonders berührt hat mich jedoch die stark ablehnende Haltung zum Thema Test.

Dass die Aidshilfen traditionell eine testkritische Haltung hatten, haben wir vor zwölf Jahren noch zu spüren bekommen, als wir in München als erste Aidshilfe ein Schnelltestangebot etabliert hatten – und uns viel Gegenwind gerade von Aidshilfe-Kollegen entgegenwehte.

Heute, nach den ganzen Erfolgen der Medizin und den Fortschritten in der Behandlung von HIV, wirkt die Ablehnung des Tests völlig unsinnig. Aber diese Haltung ist eben ein Dokument der Zeit, in der man nicht wirklich etwas gegen HIV unternehmen konnte und ein positives Testergebnis auch ein (Todes-)Urteil war.

Es ist aber auch ein Dokument der Zeit, in der wir Schwule noch wirklich in der Bedrohung durch Aids vereint waren – und der Test von uns als Instrument der Ausgrenzung und Symbol von Ausgrenzungsphantasien erlebt wurde.

Der Paragraf 5 des Positionspapiers – ‚Noch ein Wort zum Test‘ – zeigt diese Not in aller Deutlichkeit. Er zeigt, dass der Test als Bedrohung der Solidarität erlebt wurde, als Machtinstrument in dunkelsten Zeiten, in denen Schwule und Positive um Anerkennung und Überleben kämpften.“

Christopher Knoll, Psychosoziale Beratungsstelle der Münchner Aids-Hilfe e.V.

„Nur wenn Sexualität wieder lebbar gemacht wird und die Ängste gemindert werden, wird solidarisches Verhalten möglich und der Ausgrenzung von Menschen mit HIV und Aids ursächlich entgegengewirkt.“ Positionspapier Schwule und Aids, 1989

„Das (alte) Positionspapier hat nichts an Aktualität verloren. Schien es vor ein paar Jahren so, als würden Lebensweisen von Menschen, die sich nicht als heterosexuell bezeichnen, akzeptiert, spüren wir heute einen Roll-Back. Einzig die Behandelbarkeit der HIV-Infektion hat sich verändert – zum Glück.“

Mara Wiebe, Beratungsteam der Aids-Hilfe Hamburg

„Nach dem Lesen des Positionspapiers kann ich den Verfassern nur meine Hochachtung ausdrücken, wie nachhaltig und bis heute aktuell ihre Bestandsaufnahme und Perspektivbeschreibung der Situation schwuler Männer im Zeitalter von Aids und den Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung der strukturellen Prävention doch war und ist!

Das „Trauma Aids“, das vor allem uns schwule Männer betrifft, und seine Auswirkungen auf unsere gelebte Sexualität bis heute findet sich ebenso im Kontext „Leben mit Aids“ wieder wie die Beschreibung des Phänomens der heute viel diskutierten Selbstdiskriminierung (internalisierte Homonegativität) bei schwulen Männern und dessen Auswirkungen.

Die Beschreibung schwuler Lebenswelten und Sexualitäten und ihrer Protagonisten ist so herrlich klar und deftig beschrieben wie in den wunderbaren Comix von Ralf König, noch vor dem neuen Zeitalter von political correctness mit gelegentlich übers Ziel hinausschießenden Sprach- und Darstellungsverboten (siehe die aktuelle Auseinandersetzung um Ralfs Brüsseler Wandbild).

„Aidshilfe ist Selbsthilfe – auch im Sinn des englischen ‚self-defence‘ [Selbstverteidigung] – von Schwulen, Fixern, Prostituierten, AusländerInnen, Frauen und anderen, die in dieser Gesellschaft mittels und durch Aids bedroht werden.“ Positionspapier Schwule und Aids, 1989

Safer Sex wurde in seiner Ambivalenz als notwendiges Übel, ggf. mit der Gefahr der Fremdbestimmung begriffen und nicht, wie später von manchen Präventionist_innen, als mit Lust zu besetzende neue Variante von schwulem Sex. Ein Freund nannte es damals höchst drastisch aber auch lebensnah „Scheiße für Schokocreme verkaufen“.

Die Notwendigkeit und Bedeutung personalkommunikativer Angebote, wie sie unter anderem im Waldschlösschen zusammen mit der DAH entwickelt wurden, finden sich ebenfalls im Positionspapier wieder. Heute können wir feststellen, dass sie unzähligen schwulen Männern Wege aus der Aids-Krise eröffnet haben.

Und zum Schluss: Wer hätte damals gedacht, dass der HIV-Test heute von Präventionist_innen zu Recht beworben wird – auch wenn die Diskriminierung von HIV-Positiven weiterhin ein zentrales Thema in der Arbeit von Aidshilfen sein wird!“

Wolfgang Vorhagen, Pädagogischer Mitarbeiter der Stiftung Akademie Waldschlösschen

Positionspapier Schwule und Aids (1989)

Kalenderblatt zum Positionspapier aus dem Jahr 2014:

Wegmarken für erfolgreiche HIV-Prävention bei Schwulen

„Wir können nicht mehr an Sex denken, ohne an Krankheit zu denken“

„Politisch war alles“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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