Rund 340 Filme werden bei den 70. Berliner Filmfestspielen, der Berlinale 2020, gezeigt. Zu entdecken gibt es auch spannende Beiträge zum Thema Queerness, Genderidentität, Sexarbeit und Migration. Ein Überblick über einige Berlinale-Highlights.

Unter geografischen Gesichtspunkten trennen Schweden und Tschetschenien rund 3000 Kilometer. Einmal quer durch Europa, nicht weiter als bis zu den Badestränden im türkischen Antalya. Was allerdings das Leben für queere Menschen angeht, liegen Welten dazwischen.

Während sich in Stockholm Jugendliche recht frei ihrer eigenen, auch wechselnden Geschlechtsindentität vergewissern und das neu geschaffene geschlechtsneutrale schwedische Pronomen „hen“ für sich wählen können, müssen in Grosny Schwule, Lesben und trans* Menschen Verfolgung, Folter und sogar Ermordung fürchten.

In diesem Spannungsfeld bewegen sich die rund zwei Dutzend Spiel- und Dokumentarfilme, die bei der diesjährigen Berlinale – dem traditionell wohl LGBT-freundlichsten der bedeutenden internationalen Filmfestivals – gezeigt werden. Diese Produktionen sind zudem auch Anwärterinnen auf einen queeren TEDDY Award.

Zwei Dutzend Filme haben Chancen auf einen TEDDY Award

Schwule Lieben und Beziehungen unter besonderen Bedingungen oder ungewöhnlichen Umständen stehen gleich mehrfach im Zentrum von diesjährigen Berlinale-Beiträgen.

Der taiwanesische Regisseur Tsai Ming-liang zum Beispiel schildert in „Rizi“ (Days) ohne jegliche Dialoge die erotische Begegnung zweier Männer aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die sich für eine Nacht in einem Hotelzimmer aus ihrer Einsamkeit befreien.

„Suk Suk“ (Foto: © New Voice Film Productions)

Ray Yeung aus Honkong lässt in „Suk Suk“ zwei Großväter eine späte schwule Liebe erleben, mit der sie gegen die christlich-konservativen Wertvorstellungen der eigenen Familien und der Gesellschaft verstoßen. Zugleich handelt der Film vom Kampf um ein queeres Senioren-Pflegeheim.

Gleich mehrere bemerkenswerte Produktionen, die ab dem 20. Februar auf der 70. Berlinale ihre Premiere erleben, widmen sich dem Thema Transidentität.

Luca Ferri porträtiert in „La Casa Dell’Amore“ (House of Love) die transidente Sexarbeiter_in Bianca. In ihrer Mailänder Wohnung hält die 39-Jährige Hof, empfängt Freier und Freund_innen, erzählt aus ihrem Leben und gibt ihren Gästen die Möglichkeit, ihre Herzen auszuschütten.

Die Dokumentarfilmerinnen Lia Hietala und Hannah Reinikainen begleiten in „Always Amber“ zwei Jugendliche dabei, wie sie ihre ganz eigenen Wege und Definition für Liebe, Identität und Sexualität finden.

Amber und Sebastian erweisen sich dabei als Vertreter_innen einer tatsächlich ganz neuen queeren Generation. Nicht nur ihr kreatives, ständig wechselndes Styling, ihre selbstverständliche Präsentation in den sozialen Medien, sondern auch ihr unerschrockenes Selbstbewusstsein, mit dem sie ihre eigenen Identitätskonzepte erkunden, dürfte so manche_n Zuschauer_in in Erstaunen versetzen. In „Always Amber“ lassen sich die Entwicklungen dieser im besten Sinne fluiden Identitäten ganz unmittelbar über drei Jahre hinweg mitverfolgen.

„Petite Fille“ (Foto: © Agat Films & Cie)

Amber ist 17, als sie zum ersten Mal mit einer Therapeutin eine mögliche Transition bespricht. Als Sasha, die Protagonistin in Sébastien Lifshitz’ „Petite Fille“ (Little Girl), ihr erstes Beratungsgespräch hat, ist sie gerade mal acht Jahre alt. Wenn sie groß ist, wird sie ein Mädchen sein. Für Sasha war das bereits im Alter von drei Jahren eine unverbrüchliche Tatsache.

Plädoyer wider das starre Geschlechterdenken

Ihre Eltern und Geschwister haben das akzeptiert, mehr noch: Sie unterstützen Sasha darin, so sein zu können, wie sie es möchte. Zu Hause wird Sasha mit „sie“ angesprochen, darf Mädchen-Kleidung tragen und ihr Zimmer ganz nach ihrem Geschmack einrichten. Da gibt es jede Menge Pink, Glitzer und Barbie-Puppen. In der Schule und im Ballettunterricht jedoch muss Sasha weiterhin Jungskleidung tragen – und wird dennoch gemobbt, selbst von den Lehrkräften. Doch Sashas Eltern wollen ihr Kind nicht leiden sehen, sondern ihm eine glückliche Kindheit ermöglichen. Und so kämpfen sie.

Der zweifache TEDDY-Gewinner Sébastien Lifshitz („Bambi“, „Wild Side“) hatte ganz offenbar das vollste Vertrauen der Protagonist_innen. Die Kamera begleitet Sasha und seine Mutter zur Kindertherapeutin und ist auch in anderen, sehr intimen familiären Gesprächen und Momenten mit dabei – ohne dabei aufdringlich oder voyeuristisch zu sein.

So gelingt es dem Filmemacher, die Niederlagen, Erniedrigungen, den stillen Schmerz, der sich in Sashas Gesicht immer wieder abzeichnet, aber auch die kleinen Erfolge ganz unmittelbar mit der Kamera festzuhalten. Das macht „Petite Fille“ (zu Deutsch: Kleines Mädchen) zu einem ungemein berührenden und lange nachwirkenden Plädoyer wider das starre Geschlechterdenken.

Post-migrantische Blicke auf die deutsche Gesellschaft

Unter den deutschen Produktionen der rund 340 Filme, die bei der diesjährigen Berlinale gezeigt werden, seien hier nachfolgend zwei besonders hervorgehoben. Erfreulicherweise haben beide bereits einen deutschen Verleih. Das bedeutet, sie werden bald auch bundesweit in den Kinos zu sehen sein.

Der Regisseur Burhan Qurbani wie auch sein Kollege Faraz Shariat stammen aus Einwander_innenfamilien. Beide schöpfen aus ihrem post-migrantischen Blick auf die deutsche Gesellschaft ungemein starke Geschichten.

In seinem gefeierten Hochschulabschlussfilm „Shahada“, mit dem er 2010 gleich zur Berlinale eingeladen worden war, hatte Qurbani die Konflikte in Deutschland lebender Muslime mit ihrem Glauben und auch mit Homosexualität thematisiert.

„Berlin Alexanderplatz“ (Foto: © Wolfgang Ennenbach ∙ 2019 Sommerhaus ∙ eOne Germany)

Nun hat Qurbani erneut Aussichten auf einen der begehrten Goldenen und Silbernen Bären. Für seine – mit drei Stunden Laufzeit erzählerisch monumentale – Adaption von „Berlin Alexanderplatz“ hat Burhan Qurbani die Handlung von Alfred Döblins Jahrhundertroman von den 1920er-Jahren in die Gegenwart verlegt und radikal aktualisiert. So wurde aus der Hauptfigur, dem Haftentlassenen Franz Biberkopf, der westafrikanische Bootsflüchtling Francis (Welket Bungué).

Wie Biberkopf ist auch er auf der Suche nach einem besseren und ehrlichen Leben. Doch um zu überleben, bleibt ihm scheinbar nur der Ausweg, im berüchtigten Volkspark Hasenheide mit Drogen zu dealen. In der Sexarbeiterin Mieze (Jella Haase) findet er schließlich einen Menschen, der tatsächlich an ihn glaubt und zu ihm hält.

Faraz Shariat, Jahrgang 1994, erzählt in seinem Spielfilm „Futur Drei“ von anderen Erfahrungen migrantischer Menschen; diesmal nicht, wie so oft, in Berlin angesiedelt, sondern in einer Reihenhaussiedlung in Hildesheim. Parvis’ Eltern, Einwander_innen aus dem Iran, haben es zu einem eigenen kleinen Supermarkt gebracht. Doch sind sie wirklich angekommen und in die Gesellschaft aufgenommen?

Parvis hingegen ist ein Partyboy, ein bisschen bitchy und übermütig, feiert gerne, vögelt herum und ist nicht auf den Mund gefallen. Er scheint seinen Weg gefunden zu haben. Als man ihn beim Klauen erwischt, wird er zu Sozialstunden in einem Flüchtlingsheim verdonnert – und erlebt, wie Neuankommende mit dem Gefühl der Fremdheit, Verlassenheit und um Bleiberecht kämpfen. Als Parvis sich schließlich in den jungen Iraner Amon verliebt, muss er auch die eigene Identität und seinen Platz in der Gesellschaft hinterfragen.

„Futur Drei“ (Foto: © Edition Salzgeber)

Faraz Shariats autobiografisch gefärbtes Debüt ist in vielerlei Hinsicht ein Lichtblick. Anders als in vielen deutschen Produktionen ist der „Clash of Cultures“ hier nicht bloß Vehikel für romantische Verwicklungen und komödiantische Missverständnisse.
Vielmehr gelingt es Shariat, die Erfahrungen von Migrant_innen und deren Nachkommen, beispielsweise den beiläufigen Alltagsrassismus (auch bei schwulen Sexdates), in kurzen prägnanten Szenen und Dialogen messerscharf auf den Punkt zu bringen. Zugleich ist „Futur Drei“ aber auch ein anrührender Liebesfilm – witzig, selbstironisch und schnell und doch von entschiedener Ernsthaftigkeit.

Auch David entstammt einer Migrant_innenfamilie und auch er erlebt eine erste schwule Liebe, oder besser: eine erste sexuelle Affäre. „Minyan“, Eric Steels feinfühlig und mit leisem Humor erzähltes Spielfilmdebüt, führt zurück in die frühen 1980er-Jahre und hinein in die New Yorker Community jüdisch-russischer Einwander_innen.

David fühlt sich ebenfalls zwischen den Stühlen. Dem Großvater zuliebe assistiert er bei den Gottesdiensten in dessen Alterswohnsitz. Doch je mehr er sich seines schwulen Begehrens bewusst wird, Cruisingorte und die Schwulenszene für sich entdeckt, desto fremder werden ihm die Familie und deren Erwartungen an ihn.

Als er ausgerechnet im Altersheim des Großvaters ein schwules Männerpaar kennenlernt, bringt das bei David vieles ins Rollen. Eher nebenbei, aber mit eindrücklichen Dialogen wird David mit den Folgen der gerade erst einsetzenden Aidskrise konfrontiert.

Zeitreise zurück in die Aidskrise der 80er-Jahre

Auch „Playback. Ensayo de Una Despedida“ wirft einen Blick zurück in diese Hochphase der Epidemie. Agustina Comedi lässt in ihrem viertelstündigen Kurzfilm eine Überlebende von den verstorbenen trans* Frauen und Dragqueens im argentinischen Córdoba erzählen, die sich in den späten Achtzigerjahren in ihren Playback-Shows gegen Aids, die Polizeigewalt und für den Zusammenhalt in der Community stark machten.

Neben dem Argentinien der späten 1980er-Jahre bekommen wir auch einen Blick auf das Tschetschenien der Gegenwart: Als 2017 die ersten Berichte über Razzien und Hetzjagden auf LGBT in der russischen Teilrepublik erschienen, wurden sie vom tschetschenischen Staatspräsidenten Ramsan Kadyrow zunächst postwendend als Falschmeldungen bezeichnet.

„Welcome to Chechnya“ (Foto: © Public Square Films)

In einem Interview ließ er die Welt aber dennoch wissen, dass es um diese „Untermenschen“ nicht wirklich schade sei. Immer mehr Schwule, Lesben und trans* Menschen verschwanden und wurden gefoltert, um so Namen weiterer LGBT zu erpressen, die daraufhin verhaftet wurden.

Wie viele an den Folgen der Misshandlungen starben oder ermordet wurden, weiß niemand. Selbst das Schicksal des spurlos verschwundenen Popstars Zelimkhan Bakayev ist bis heute ungeklärt.

Eine Gruppe russischer LGBT-Aktivist_innen verhalf allein in den ersten zwei Jahren seit Beginn dieser Pogrome über 150 Menschen zur Flucht aus Tschetschenien.

Sie bieten ihnen in einer geheimgehaltenen Unterkunft in Moskau vorübergehenden Schutz und versuchen, für sie humanitäre Visa in westlichen Ländern zu bekommen. In der Dokumentation „Welcome to Chechnya“ kommen einige dieser Geflüchteten und Aktivist_innen zu Wort. Regisseur David France hat mehrere Monate das Leben in dieser Schutzunterkunft gefilmt und auch die Rettungsaktionen zum Teil mit versteckter Kamera begleitet.

Gefoltert und getötet im Namen der „Ehre“

„Welcome to Chechnya“ ist mehr als nur ein Dokument der Zivilcourage dieser Aktivist_innen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter Putins Schutz in Tschetschenien womöglich bis heute weiterhin begangen werden.

Der Film macht deutlich, welcher Gefahr alle Beteiligten ausgesetzt sind, und man kann den Mut aller, bis hin zum Kameramann, nur bewundern. Zugleich stockt einem der Atem angesichts des Grauens, das LGBT in Tschetschenien erleben.

Vielleicht wird David Frances Dokumentarfilm am Ende des Festivals mit dem TEDDY Award für den besten queeren Dokumentarfilm der Berlinale 2020 oder einem anderen Berlinale-Preis prämiert. Ein verdienter Anwärter ist sein Film allemal.

Ein Preis wurde den Aktivist_innen aus Tschetschenien bereits vergeben: der erstmals in diesem Jahr verliehene und mit einem Preisgeld von 5.000 Euro dotierte TEDDY Activist Award. Mit dem Preis sollen Menschen ausgezeichnet werden, die sich unter schwierigen Bedingungen für Toleranz, Akzeptanz, Gerechtigkeit und Gleichheit in der Welt engagieren.

Erhalten werden den Preis Aktivist_innen, „die unter Gefahr für das eigene Leben mit beispiellosem Einsatz mutig und entschlossen verfolgte Homo- und Transsexuelle in Tschetschenien vor Lagerhaft, Folter und Mord retten und in Sicherheit bringen“, heißt es in der Begründung.

Die Auszeichnung wird zusammen mit den anderen TEDDY Awards am 28. Februar im Rahmen einer Gala in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verliehen.

Infos zum Kartenverkauf und Programm unter www.teddyaward.tv
Informationen zum Berlinale-Programm unter www.berlinale.de

Beiträge auf magazin.hiv zu zurückliegenden Berlinale-Ausgaben und rund um LGBT-Filme (Auswahl):

Buddies: Zeitdokument der Aidskrise und Meilenstein der Filmgeschichte

Manfred Salzgeber: Das Leben eines „Filmversklavten“

Berlinale 2019: Von Aliens, schwulen Vätern und Normverweigerung

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Themenschwerpunkt HIV/Aids auf den Lesbisch Schwulen Filmtagen Hamburg

 

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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