Das Haus der Hoffnung ist so etwas wie ein Start-up-Waisenhaus – offen für alle, egal ob HIV-positiv oder -negativ. Wir haben mit Kindern und den Macher_innen des Hauses gesprochen. Sie erzählen uns, warum das House of Hope für sie die einzige Chance ist, in Südindien zu überleben.

Von Benedict Wermter


Mohit, 16 Jahre alt

Als ich ein Jahr alt war, starben meine Eltern an Aids. Von da an lebte ich bei meiner Tante, für die ich immer eine Last war. Eines Tages wurde ich krank, und meine Tante brachte mich zum Arzt. Dort stellten sie fest, dass ich HIV-positiv bin und verordneten mir ARVs.

„Meine Tante hatte Angst, dass unser Dorf ihr die Schuld für meine Krankheit gibt“

Doch meine Tante brachte mich zu einem anderen Arzt und sagte dort, ich hätte Tuberkulose. Sie wollte wohl nicht wahrhaben, dass ich HIV-positiv bin. Daraufhin bekam ich einen Monat lang Medikamente gegen die Tuberkulose. Und verlor schließlich mein Augenlicht – mit nur vier Jahren.

Mohit
Mohit, Bild: © Jerry Hughes

Von da an isolierte mich meine Tante noch mehr. Ich musste auf dem Boden schlafen und durfte keinen körperlichen Kontakt aufnehmen, niemanden berühren. Meine Tante hatte Angst, dass unser Dorf ihr die Schuld für meine Krankheit gibt und sie meidet.

Als ich 13 Jahre alt war, fand mich das Team von „Wheels of Hope“. Später war ich einer der Ersten, die Jerry in das neu gegründete „House of Hope“ einlud. Und meine Tante sagte, ich solle einfach dortbleiben. Also blieb ich. Meine Tante leugnet bis heute, dass ich HIV-positiv bin. Jetzt bekomme ich sogar Unterricht von einem Blindenlehrer, weil die Schulen in der Umgebung mich immer ablehnten.

Als ich noch nicht blind war, sah ich einmal, wie mein Großvater beim Friseur eine Massage bekam. Das hat mich sofort fasziniert und seither träume ich davon, eines Tages Physiotherapeut zu werden. Ich möchte nämlich auf eigenen Beinen stehen und niemandem mehr zur Last fallen. Wenn die Erwachsenen Kaffee trinken, übe ich an ihren Schultern.

Und meine Hobbys sind: Ich lasse meinen Drachen vom Dach des House of Hope steigen. Außerdem spiele ich Schlagzeug. Mein großes Ziel ist es, einmal nach Deutschland kommen zu dürfen. Wir hatten einmal einen Freiwilligen hier aus Deutschland, der konnte sehr gut Fußball spielen. Ich habe auch vom guten Wetter in Deutschland gehört. Also bin ich sehr gespannt darauf.

Bild: © Jerry Hughes

Sanjay, 43, Programmleiter

„Anfangs wusste ich gar nicht, was HIV bedeutet“

Ich wollte schon immer soziale Arbeit leisten. Viele Jahre aber war ich Sicherheitschef an Stromtrassen. Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Arbeiter auf den Trassen etwa Helme und Westen tragen und sich insgesamt an die Regeln halten. Die Arbeit war nicht langweilig, aber mein Wunsch war es, etwas für die Gemeinschaft zu tun.

Sanjay, Bild: © Jerry Hughes

Vor vier Jahren sah ich dann den Post von Jerry Hughes auf Facebook: Er suche nach Kontakten, um ein HIV-Projekt zu starten. Wir hatten gemeinsame Freunde auf Facebook und so schickte ich ihm eine Anfrage. Ich dachte: Wow, er kommt extra aus den USA nach Indien, um hier etwas zu bewegen. Das hat mich fasziniert.

Anfangs wusste ich allerdings gar nicht, was HIV bedeutet. In Jerrys Beitrag las ich dieses Wort das erste Mal. Ich bin ein neugieriger und aufgeschlossener Typ, gar nicht scheu. Ich beschloss, alles über das Virus und seine Auswirkungen zu erfahren. In Indien ist HIV oft mit einem Stigma belegt. Manche Menschen wollen die Hand nicht schütteln oder bieten keinen Kaffee an, wenn sie hören, dass jemand mit HIV-positiven Kindern arbeitet.

„‚Wheels of Hope‘ war ein Hilfsprogramm, bei dem wir Medikamente und Essen an HIV-positive Familien verteilt haben“

Als ich Jerry das erste Mal traf, konnte ich noch kein Englisch sprechen. Trotzdem wurden wir sehr schnell beste Freunde, irgendwie passt die Chemie zwischen uns. Ich brachte mir dann Englisch mehr oder weniger selber bei, indem ich ihm genau zuhörte und mich auf seine Lippenbewegungen konzentrierte. Dasselbe tat ich, wenn ich englische Filme anschaute. Learning by doing eben.

Vor vier Jahren haben Jerry und ich dann „Wheels of Hope“ aufgebaut, ein Hilfsprogramm, bei dem wir Medikamente und Essen an HIV-positive Familien verteilt haben. Das Programm wurde immer größer und wir haben bis heute Kontakt zu etwa 1.800 Familien. Später hat Jerry das erste House of Hope eröffnet; mittlerweile haben wir schon zwei Hoffnungshäuser: Im ersten leben jetzt acht Mädchen und im zweiten acht Jungs. Eigentlich wollen wir Jungs und Mädchen gar nicht trennen, aber die Lokalregierung will die Geschlechtertrennung.

Mittlerweile wohnen meine Frau, meine beiden Kinder und ich sogar in der Nähe des House of Hope. Wir sind in einer noch größeren Familie aufgegangen.

Bild: © Jerry Hughes

Pradnya, 35, Hausmutter

Auch meine Mutter starb früh, ich war gerade einmal fünf Jahre alt. Mein Vater begann zu trinken und ließ seinen Frust an mir aus. Er schlug mich und missbrauchte mich. Als ich 17 wurde, fand er einen Partner für mich. Ich musste heiraten und lebte fortan mit diesem Mann. Er war HIV-positiv, so bekam auch ich HIV, und auch meine Tochter Kalayani ist positiv. Einzig mein Sohn Dhiraj hat kein HIV.

„Hier sorge ich dafür, dass die Kinder regelmäßig die Medizin einnehmen“

Im Jahr 2006 starb mein Ehemann. „Was sollte ich tun?“, dachte ich damals. Und lebte in großer Angst. Zu der Zeit ging ich regelmäßig mit meiner Tochter zum Arzt und bekam ARVs. Dort traf ich auf eine Organisation, die mich an ein Waisenhaus vermittelte. Ich könnte dort Arbeit finden, erzählten sie mir. Es war unsere Rettung. Von 2008

Pradnya, Bild: © Jerry Hughes

bis 2016 lebten wir in diesem Waisenhaus und ich war dort die Hausmutter. Später schloss diese Einrichtung und wir konnten zum Glück in das House of Hope einziehen.

Hier sorge ich dafür, dass die Kinder regelmäßig die Medizin einnehmen. Außerdem kümmere ich mich um den Haushalt, ich koche und putze. Die Kinder sagen Mama zu mir und ich bin jederzeit für sie da. Wie eine Mutter eben. Ich bin Jerry so dankbar, dass er das Haus gegründet hat.

Unsere Tage sehen so aus: Manche Kinder stehen um sechs auf, andere um sieben oder acht, je nachdem, wann für sie der Unterricht beginnt. Die Kids machen sich frisch und trinken ihren Chai Tee. Dann gehen sie in die Schule und kommen zwischen 12 und 15 Uhr zurück. Ich koche gern Kartoffelgerichte, grünes Curry oder chinesische Nudeln. Die Kinder essen zu Mittag, einige schlafen danach, andere drehen eine Runde mit Jerry auf dem Roller. Ein paar Ältere arbeiten. Hinzu kommt, dass wir jede Woche mindestens einen Geburtstag feiern. Und am Wochenende schlafen alle aus.

Bild: © Jerry Hughes

Muskan, 16, angehende Managerin

Muskan, Bild: © Jerry Hughes

Als mein Vater mich sah, starb er, so erzählen sie es zumindest in meiner Familie. Er starb also kurz nach meiner Geburt an HIV; meine Mutter fünf Jahre später – ebenfalls an HIV. Ich lebte ein paar Jahre bei meiner Großmutter, aber auch sie verstarb. Außer meiner älteren Schwester habe

ich keine weiteren Verwandten. Meine Schwester hat im Gegensatz zu mir kein HIV. Sie lebt weit weg und ist verheiratet. Zwar kümmerte sie sich um mich, aber es war schwierig und wir waren froh, als Jerry und Sanjay eines Tages bei uns anriefen.

In unserem Haus sagen sie, ich sei eine coole Quasselstrippe. Ich bin gern draußen unterwegs, arbeite in einem Eiscafé und studiere Business Management. Später möchte ich einmal bei einer Bank arbeiten, oder bei der Eisenbahn. Wobei, eigentlich möchte ich ja für eine Fluggesellschaft arbeiten.

„Ich möchte auch eine Familie gründen und Kinder haben. Andererseits habe ich ja schon eine Familie: unser Haus der Hoffnung“

Natürlich möchte ich auch eine Familie gründen und Kinder haben. Mal sehen, wie viele es werden. Andererseits habe ich ja schon eine Familie: unser Haus der Hoffnung. Mit HIV geht es mir derzeit sehr gut, mit den Medikamenten komme ich gut klar. Aber: ihr müsst wissen, dass wir in Indien weit hinterher sind, was HIV-Tests und CD4-Werte angeht. In Deutschland habt ihr sicher mehr Optionen bei den ARV-Medikamenten. In meiner Region haben wir nur zwei verschiedene Medikamente.

Ich glaube, dass Aids eines Tages geheilt werden kann. Dann wäre ich HIV endlich los – es wird wohl noch eine Weile dauern.

Bild: © Jerry Hughes

Jerry, 45, Direktor

Mir war schon immer wichtig, HIV sichtbar zu machen und gegen das Tabu anzukämpfen. Meine Einstellung gegenüber den Menschen in Südindien, egal ob HIV-positiv oder -negativ, war von Beginn an: „Hey, lasst uns Freunde sein und abhängen. Ihr braucht keine Angst vor Aids haben.“ Und so zeigen wir Gesicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Heute kennt uns jeder in der Stadt, wir sind so etwas wie ein Celebrity-Waisenhaus, das in der örtlichen Shopping Mall für Aufsehen sorgt. Und dann sagen die Leute in der Stadt tatsächlich: „Das House of Hope ist cool.“

„Wir werden weder von einer Kirche noch einer NGO oder öffentlichen Geldern unterstützt“

Die andere Sache, die mir immer wichtig war: Wir sind kein unternehmerisches Waisenhaus, sondern einfach nur ein Zuhause. Wir werden weder von einer Kirche, noch

einer NGO oder öffentlichen Geldern unterstützt und sind folglich auch niemandem Antworten schuldig. House of Hope wird zu Einhundert Prozent privat getragen – also einzig mit der Liebe und Fürsorge von Euch da draußen.

Ich erzähle immer gerne meine Geschichte, wenn sie hilft, das Stigma zu überwinden. Im früheren Leben war ich einmal ein erfolgreicher Werbekaufmann aus den USA,

Jerry, Bild: © privat

aber es gab auch Zeiten, in denen ich alles verlor und wieder neu anfangen musste. Um die Jahrtausendwende war ich das erste Mal in Indien auf einer Tagung. Wenig später wurde in den USA bei mir HIV festgestellt. Und es zog mich wieder nach Indien, wo ich im Jahr 2005 die ersten HIV-Projekte anstieß. Im selben Jahr gründete ich meine eigene gemeinnützige Stiftung, die „Hughes Foundation“, die jetzt das „House of Hope“ trägt.

Im Jahr 2015 beschloss ich, alles zu verkaufen, was ich besitze, und ganz nach Indien auszuwandern. So lernte ich Sanjay kennen. Wir haben mit Wheels of Hope viel bewegt, und 2017 eröffneten wir das erste House of Hope. In diesem Jahr haben wir das zweite Haus eröffnet.

Die Liste ist lang. Viele Waisen, Geschwister und Familien wollen zu uns kommen. Wir rekrutieren also eigentlich keine Kinder, außer wir hören von besonders hoffnungslosen Fällen. Und so gäbe es hier wohl noch einige Häuser zu eröffnen.

Atharva, 12 Jahre alt

„Als ich in das House of Hope kam, hatte ich Asthma und Neurodermitis. Zum Glück wurde ich hier aufgepäppelt“

Meine Eltern starben innerhalb eines Jahres, allerdings an Tuberkulose, obwohl sie beide HIV-positiv waren. Ich lebte fortan bei meiner Tante, bei der ich mich nicht wohlfühlte. Nach etwa einem Jahr dort, entschied mein Großvater von einem auf den anderen Tag, dass ich in einem Waisenhaus leben sollte.

Ich hatte Angst davor, aber ich hatte auch keine Wahl. Ich war damals noch klein und sehr schwach. Dann fuhren sie mich eine Stunde mit dem Auto in dieses Waisenhaus. Dort lebte ich mit über 100 Kindern zusammen auf engem Raum, und jede und jeder musste sich selbst um persönlichen Hausrat kümmern: Kleidung, Teller, Malbücher.

Atharva, Bild: © Jerry Hughes

Das alles musste man sich selbst beschaffen.

Das Schwierigste aber war: Das Waisenhaus war nicht HIV-positiv eingestellt. Die anderen Kinder wollten nichts mit mir zu tun haben. Und es war schwierig, meine Medikamente geliefert zu bekommen. Ich war sehr traurig und krank dort.

Als ich in das House of Hope kam, hatte ich Asthma und Neurodermitis. Zum Glück haben sie mich aus dem anderen Waisenhaus herausgeholt und aufgepäppelt. Jetzt gehe ich in die siebte Klasse, mein Lieblingsfach ist Marati. Das ist unser lokaler Dialekt, der neben Hindi und Englisch unterrichtet wird. In Indien gibt es über 3.000 solcher Dialekte – mich erinnert meine Muttersprache eben an meine Familie, die ich vermisse. Und eines Tages werde ich Bauarbeiter. Meine Mutter hatte mir schon ganz früh dazu geraten, und ihr Wort ist Gesetz, bis heute.

Zur Webseite des House of Hope

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Über

Benedict Wermter

Benedict Wermter ist freier Autor und Rechercheur aus dem Ruhrgebiet und schreibt gerne Reportagen. Für das Magazin der Deutschen Aidshilfe beschäftigt er sich unter anderem mit der Drogenpolitik hierzulande.

(Foto: Paulina Hildesheim)

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