Die qualitative Interview-Studie „Late Presentation of HIV Infection in the Netherlands: Reasons for Late Diagnoses and Impact on Vocational Functioning“ ging den Gründen für  HIV-Spätdiagnosen und ihren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit nach.

Von Jörn Valldorf

Die Ergebnisse der Studie wurden in der Zeitschrift AIDS and Behavior veröffentlicht.

Ausgangspunkt der Forscher_innen war die Tatsache, dass in den Niederlanden etwa 50 Prozent der HIV-Neudiagnosen auf Menschen entfallen, die schon lange mit der Infektion leben und deren Gesundheit darunter bereits stark gelitten hat.

HIV-Spätdiagnosen schaden – individuell und sozial

Zum Vergleich: In Deutschland lag dieser Anteil 2016 bei etwa 35 Prozent.

Das Problem: Bei einer späten HIV-Diagnose steigt das Risiko für sogenannte neurokognitive Störungen (z.B. Einbußen der Konzentrationsfähigkeit oder Gedächtnisleistung), schwere Erkrankungen und sogar Todesfälle.

Ziel und Durchführung der Studie

Die Studie sollte zwei Fragen beantworten:

  • Welche Gründe nennen Spätdiagnostizierte selbst für die späten Diagnosen?
  • Wie wirkt sich die HIV-Infektion auf den Alltag und das Berufsleben aus?

Befragt wurden dazu insgesamt 34 Spätdiagnostizierte über 18, deren HIV-Diagnose weniger als drei Jahre zurücklag.

34 leitfadengestützte Interviews

Spätdiagnose wurde dabei definiert als

  • weniger als 350 Helferzellen pro Milliliter Blut oder
  • Vorliegen einer aidsdefinierenden Erkrankung

zum Zeitpunkt der Diagnose.

Die Forscher_innen führten Interviews anhand eines Leitfadens durch. Die Gespräche dauerten zwischen 20 und 80 Minuten und fanden auf Niederländisch oder Englisch statt, drei davon am Telefon.

Teilnehmer_innen

Die Mehrheit der Befragten war männlich (30), homosexuell (19), berufstätig (20) mit hohem oder mittlerem Einkommen (13 bzw. 11) und in den Niederlanden geboren worden (19).

Vielfältige Gründe für späte Diagnosen

Die Befragten gaben unterschiedliche Gründe für ihre späte Diagnose an. Diese Gründe traten meist in Kombination auf.

„Ich war in einer festen Beziehung und sah keinen Grund für einen HIV-Test“

Entlang von zwei Dimensionen (1: Ich war mir bewusst/nicht bewusst, dass ich ein HIV-Risiko hatte, 2: Vor der Diagnose hatte ich HIV-bezogene Symptome/keine HIV-bezogenen Symptome) bildeten die Forscher_innen vier Gruppen:

Gruppe 1: Kein Bewusstsein eines HIV-Risikos/Keine Symptome vor der Diagnose (7 Personen)

Die Befragten in dieser Gruppe hatten nach eigener Einschätzung keinen Grund für einen HIV-Test. Alle lebten in einer stabilen Beziehung und dachten nicht an ein HIV-Risiko durch ihre Partner_innen. Einige wussten außerdem kaum etwas, gar nichts oder Falsches über die HIV-Übertragungswege.

Gruppe 2: Kein Bewusstsein eines HIV-Risikos/Symptome vor der Diagnose (5 Personen)

Auch hier lebten viele Interviewte in festen Beziehungen und wussten (zu) wenig über die HIV-Übertragungswege. Symptome wie Hautausschlag wurden meist als leicht empfunden und nicht mit HIV in Verbindung gebracht – auch nicht von den Ärzt_innen.

Gruppe 3: Bewusstsein eines HIV-Risikos/Keine Symptome vor der Diagnose (8 Personen)

Befragte dieser Gruppe schätzten ihr HIV-Risiko meist als gering ein, zumal sie sich gesund fühlten. Einige wussten nicht über die Testmöglichkeiten Bescheid oder dachten, die Tests seien zu teuer. Auch Angst vor den möglichen negativen Folgen einer HIV-Diagnose spielte eine Rolle.

„Ich hatte von vielen Nebenwirkungen der HIV-Medikamente gehört“

Gruppe 4: Bewusstsein eines HIV-Risikos/Symptome vor der Diagnose (14 Personen)

Die Interviewten wussten zwar, dass sie eigentlich einen HIV-Test machen sollten, zögerten dies aber hinaus. Einige ignorierten ihre Symptome, weil sie Angst vor den möglichen Konsequenzen einer Diagnose hatten (zum Beispiel soziale Ausgrenzung oder das Offenbarwerden eines Seitensprungs). Erleichtert wurde ihnen das, weil auch Ärzt_innen nicht an HIV dachten oder weil nur vorübergehend schwere Symptome auftraten. Einige Befragte fühlten sich auch sicher, weil sie vorher einmal einen negativen HIV-Test gemacht hatten und in einer stabilen Beziehung lebten oder nach dem Test nur mit einem_r Partner_in Sex gehabt hatten. Andere hatten Angst vor Nebenwirkungen der HIV-Medikamente.

Negative Auswirkungen der fortgeschrittenen HIV-Infektion auf den Beruf

Vor der HIV-Diagnose

19 der 34 Befragten hatten vor der Diagnose Symptome, brachten diese aber meist nicht mit einer möglichen HIV-Infektion in Verbindung. Häufig waren Müdigkeit, allgemeines Krankheitsgefühl, Lungenentzündungen, Infektionen im Mundraum und Hautprobleme. Diese Krankheitssymptome führten zu erhöhten Fehlzeiten oder schränkten die Leistungsfähigkeit ein.

„Im Jahr vor der Diagnose war ich ständig krank“

Nach der Diagnose

25 von 34 Befragten hatten zum Zeitpunkt der Diagnose weniger als 200 Helferzellen pro Milliliter Blut – das heißt: sie hatten Aids. Viele mussten wegen schwerer Infektionen lange im Krankenhaus behandelt werden und konnten nicht arbeiten. Einige hatten Angst, deswegen ihren Job zu verlieren, und fanden es schwer, ihre HIV-Infektion vor anderen zu verbergen. Andere brauchten lange, um mit der Diagnose und ihrem schlechten Gesundheitszustands klarzukommen.

Spätdiagnosen vermeiden

Auf der Grundlage der Interviews machen die Forscher_innen Vorschläge, wie zukünftig Spätdiagnosen vermieden werden könnten:

  • Mehr HIV-Informationen

Das Wissen über HIV-Übertragungswege, die Behandelbarkeit der Infektion sowie HIV-Testmöglichkeiten und die Kosten sollte verbessert werden.

„Wegen HIV musst du nicht sterben. Aber du musst zum Arzt“

  • Mehr HIV-Aufmerksamkeit im Gesundheitswesen

Eine wichtige Rolle spielen Haus- und Fachärzt_innen: Sie sollten mögliche HIV-Symptome besser kennen und auch von sich aus HIV-Tests anbieten, selbst wenn Patient_innen und Ärzt_innen das HIV-Risiko als gering einschätzen.

  • Ermunterung zu regelmäßigen HIV-Tests

Viele Befragte sprachen die Eigenverantwortung für regelmäßige HIV-Tests an. Sie wünschten sich Initiativen zur Stärkung der Testmotivation, zum Beispiel in den Medien. Außerdem solle es auch in kleineren Orten anonyme, gut erreichbare und möglichst kostenlose Testangebote geben.

HIV-Spätdiagnosen vermeiden

Für die Forscher_innen liegt die größte Herausforderung bei denen, die sich ihres HIV-Risikos nicht bewusst sind und keine Symptome haben.

In der Studie lebten alle Befragten dieser Gruppe in festen Beziehungen und sahen deshalb keinen Anlass, sich testen zu lassen. Die Hälfte waren Frauen, die Mehrzahl hatte sich bei heterosexuellem Verkehr infiziert. Alle gehörten Gruppen mit erhöhtem HIV-Risiko an – sie kamen aus Gebieten mit weiter HIV-Verbreitung oder waren Männern, die Sex mit Männern hatten.

Man solle daher HIV-Tests routinemäßig anbieten und Menschen mit einem HIV-Risiko darüber informieren, so die Forscher_innen.

Außerdem empfehlen sie eine Änderung medizinischer Leitlinien, damit Ärzt_innen von sich aus HIV-Tests anbieten und HIV-Indikatorerkrankungen besser erkennen.

Vor allem mit Blick auf Migrant_innen aus Ländern mit weiter HIV-Verbreitung brauche man darüber hinaus mehr Aufklärung über HIV-Übertragungswege und mehr Sexualaufklärung.

Mehr Aufklärung, mehr Testangebote, mehr Engagement gegen Diskriminierung

Auch strukturelle Barrieren müssten abgebaut werden. Insbesondere Menschen, die weder Niederländisch noch Englisch sprechen, müssten über das Gesundheitssystem informiert werden und Beratung bekommen. Testangebote sollten außerdem ohne großen finanziellen und zeitlichen Aufwand erreichbar sein.

Um die Vorteile einer möglichst frühzeitigen HIV-Diagnose und die Risiken einer „Verschleppung“ des HIV-Tests deutlich zu machen, seien gezielte Kampagnen nötig.

Politik und Gesundheitssystems sollten entschieden gegen Stigmatisierung vorgehen, da die Furcht vor negativen sozialen Konsequenzen einer HIV-Diagnose ein Hauptgrund ist, sich nicht testen zu lassen.

Um negative Auswirkungen einer HIV-Diagnose auf die Arbeitsfähigkeit zu vermeiden oder abzufedern, brauche man zudem Beratungsangebote zum Thema HIV und Beruf – insbesondere für Menschen mit einer späten HIV-Diagnose.

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