Insbesondere schwule Männer haben die Aids-Epidemie der 80er- und 90er-Jahre als kollektive Bedrohung erlebt und durchlebt. Heute kann man bei früher Diagnose und Behandlung gut mit HIV leben. Wirkt das Trauma der Aidskrise dennoch nach? Wir haben mit Dennis gesprochen – er wurde 1990 geboren, auf dem Höhepunkt der Aidskrise und vor Einführung der HIV-Therapien.*

Dennis ist als Netzwerker und Aktivist in der HIV-Selbsthilfe und in Aidshilfen tätig. Auch innerhalb der LGBT-Community ist er aktiv, unter anderem in der Projektleitung des CSDs Wiesbaden und als Beirat bei Warmes Wiesbaden e.V.

Dennis, wann bist du zum ersten Mal mit dem Thema HIV und Aids in Berührung gekommen?

HIV war in meinen ersten zehn Schuljahren überhaupt kein Thema. Übrigens auch in der Familie nicht, da sprach man über so etwas nicht.

Für mich war schon früh klar: Eine HIV-Infektion ist nicht „schlimmer“ als Diabetes

Nach der Mittleren Reife bin ich auf ein Biotechnologisches Gymnasium gegangen, dort hatten wir unter anderem im Fach Biotechnologie den Schwerpunkt Immunologie. Das Thema HIV lag also nahe.

Im Schullabor konnte ich damals selbst einen Western-Blot-Bestätigungstest durchführen, welcher auch heute noch bei HIV-Untersuchungen genutzt wird.

Ging es beim Unterricht auch um schwule Männer als Gruppe mit hohem Risiko?

Portrait Dennis zu Trauma der Aidskrise
Dennis

Nein, im Unterricht ging es um die wissenschaftlichen Grundlagen und die Behandlung der Infektion. HIV wurde nie auf eine Gruppe heruntergebrochen. Durch den Unterricht wusste ich also bereits, dass es hochwirksame Medikamente gibt, die das Virus in Schach halten, und wie diese wirken. Schon zu dieser Zeit war für mich klar: Eine HIV-Infektion ist nicht „schlimmer“ als Diabetes.

Safer Sex damals und heute

Wie hast du dann zum ersten Mal mitbekommen, dass HIV für dich als schwulen Mann ein besonders wichtiges Thema sein sollte?

Das passierte erst, als ich angefangen habe, schwule Datingplattformen zu nutzen. Ich bin damals auf einen Link zur Seite von ICH WEISS WAS ICH TU gelangt und habe mich dort weiter informiert.

War HIV im Gespräch mit anderen Schwulen ein Thema, zum Beispiel, wenn es um Sex ging?

Man hat da eigentlich nie darüber gesprochen. Beim Sex gehörte das Gummi mit dazu, da gab es irgendwie nichts zu bereden.

Wie erlebst du heute den Umgang mit HIV und Safer Sex?

Viele sind sehr entspannt, lassen sich regelmäßig testen, benutzen Kondome.

Mit einigen kann man auch darüber reden, unter welchen Voraussetzungen man das Kondom weglassen könnte. Andere hingegen sind da geradezu panisch.

Sex ohne Kondom? Viele reagieren schon auf die Frage panisch

Das habe ich ganz stark bei Chats auf Datingseiten festgestellt. Da spürt man die Abneigung gegenüber diesem Thema, und die Ängste zeigen sich viel stärker als im direkten Gespräch.

Allein schon, wenn das Thema auf den HIV-Status kommt und sich die Frage stellt, ob Sex mit oder ohne Kondom, brechen einige Online-Unterhaltungen sofort ab.

Durch dein Aidshilfe-Engagement hast du dich sicherlich schon früh mit dem Thema Schutz durch Therapie auseinandergesetzt, also mit der Tatsache, dass HIV bei funktionierender Therapie beim Sex nicht übertragen werden kann. Hat dies dein Verhältnis zum Sex mit HIV-Positiven verändert?

Ich wusste schon vorher, dass man sich bei HIV-Positiven unter Therapie sexuell nicht mehr anstecken kann. Mein Verhältnis zum Sex mit HIV-Positiven hat sich erst mit meinem eigenen positiven Testergebnis verändert.

Das Trauma der Aidskrise ist nicht vorbei

Erlebst du noch Panik, was Infektionsrisiken beim Sex oder beim alltäglichen Umgang mit HIV-Positiven angeht?

Solche Reaktionen gibt es tatsächlich immer noch, wobei ich hier nur von meinen eigenen Erfahrungen berichten kann. Ich denke aber, das sind eher Einzelfälle.

Wir müssen etwas gegen die Aids-Panik in der Gesellschaft tun

Im Großen und Ganzen sehe ich eine gute Entwicklung hin zu einer realistischen Einschätzung, was die HIV-Infektion, die Infektionsrisiken und die Schutzmöglichkeiten angeht.

Denkst du also, dass das kollektive Trauma der schwulen Generation, die die 80er- und 90er-Jahre durchlebt hat, beendet ist?

Definitiv nicht. Ich bin mir sehr sicher, dass dieses Trauma immer noch sehr tief verankert ist, selbst bei den Jüngeren.

Aber wir als schwule Community können uns hier langsam und in kleinen Schritten immer weiter herausarbeiten.

Jeder Einzelne kann da seinen kleinen Beitrag in seinem Umfeld leisten, und so auch die alten Bilder und die damit einhergehende Panik in Sachen HIV und Aids in der Gesamtgesellschaft verändern.

Wie zeigen sich diese Folgen des kollektiven Traumas deiner Ansicht nach?

Man ignoriert Fakten. Da ist zum Beispiel eine übertriebene Angst vor dem Restrisiko, das bei der PrEP oder angeblich sogar beim Schutz durch Therapie besteht.

Zugleich aber nimmt man nicht wahr, dass das Kondom auch nicht hundertprozentig vor HIV schützt.

In den 90er-Jahren wurde das Kondom als die ultimative Lösung für alles propagiert. Das hat nicht nur die damalige Generation geprägt, sondern auch die nachfolgende. Andere Formen der Prävention haben es deshalb noch immer schwer.

Langzeitpositive und jüngere Positive haben gemeinsame Interessen

Wie erlebst du das Miteinander mit Langzeitpositiven?

Ich habe gerade bei meiner Arbeit im Umfeld von Aidshilfen und in der Selbsthilfe Männer aus dieser Generation kennengelernt. Dort habe ich die Erfahrung gemacht, dass die meisten von ihnen mit dieser für sie schweren Zeit abschließen konnten.

Wir wollen trotz der Infektion ein gutes und normales Leben führen

Diese Erlebnisse haben ihr Leben geprägt und sicher auch zu ihrem Engagement innerhalb der schwulen Community oder in der Aidshilfe geführt.

Ich habe mit ihnen eigentlich immer einen guten Kontakt und wir arbeiten gut zusammen, denn es gibt gemeinsame Ziele und Aufgaben, die uns allesamt hier und heute verbinden.

Es gibt aber offensichtlich auch andere Erfahrungen?

Eine HIV-Infektion muss schon seit etwa 20 Jahren kein Todesurteil mehr sein.

Klar war dies ein steiniger, langer und schwerer Weg, den viele, die damals infiziert wurden, nicht überlebt haben. Auch haben viele unter den massiven Nebenwirkungen der Medikamente leiden müssen.

Ich finde, die heutigen Jungpositiven sollten das immer im Hinterkopf behalten, gerade auch im Kontakt zu Langzeitpositiven.

Das bedeutet für mich nicht, dass ich ihnen gegenüber „dankbar“ sein muss, weil ich heute Medikamente ohne Nebenwirkungen bekomme. Du kannst die heutige Realität von HIV aber nur gestalten, wenn du das „alte Aids“ und die Geschichte dazu verstanden hast.

Was uns „Küken“ und „Dinos“ verbindet, ist die gute Lebensqualität, welche wir alle durch die nebenwirkungsarmen und hochwirksamen Medikamente heutzutage haben.

Ebenso nutzen wir die Pillen aus demselben Grund: Wir wollen trotz der Infektion ein gutes und normales Leben führen können!

Alte Bilder von Aids werden schon viel zu lange verbreitet

Du sagst indirekt, dass manche „Dinos“ mit dieser Phase ihres Lebens nicht abgeschlossen hätten.

Ja, ich habe einige Leute erlebt, die von der Vergangenheit einfach nicht loskommen.

Die Dinge haben sich geändert, und zwar zum Besseren

Ich habe Respekt vor dem, was sie erlebt und durchlitten haben. Aber diese Gespräche drehen sich oft nur im Kreis und bringen die Sache einfach nicht weiter.

Wir können aus diesen Erfahrungen für die Gegenwart und die Zukunft lernen, doch dazu muss man eben auch den Schritt aus der Vergangenheit heraus machen. Das vermisse ich bei manchen einfach.

Ich möchte mich endlich von den alten Bildern von Aids und Tod verabschieden. Die Bilder der Krise wurden und werden schon viel zu lange immer wieder verbreitet und zementiert.

Wie sehen das andere deiner Generation? Interessieren sie sich für diese „Geschichten von damals“?

Ich denke schon, das ist ja nicht zuletzt auch ein wichtiger Teil unserer gemeinsamen Geschichte.

Aber es genügt eben, wenn man diese Geschichten ein- oder zweimal gehört und verstanden hat.

Bei Überlebenden der Aidskrise kann das vielleicht so ankommen, als interessieren sich die Jüngeren nicht für das Leid ihrer Generation.

Ich erinnere mich vor allem an eher trotzige Reaktionen. Ob da vielleicht auch Enttäuschung dahintersteckt, kann ich nicht beurteilten, aber ich kann es mir gut vorstellen.

Ich versuche immer möglichst offen zu sein, versuche aber auch, das Positive zu zeigen: Du hast überlebt, und einige deiner Freunde und Bekannten sicherlich auch. Die Dinge haben sich geändert, und zwar zum Besseren.

Vielen Dank für das Gespräch!

*Dieser Text ist Teil eines Dossiers zum Trauma Aids. Hier eine Übersicht über die Beiträge:

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Über

Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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