Heterosexuell und HIV-positiv: Der Fotograf Philipp Spiegel liebt das Leben und die Frauen. 2014 erfährt er, dass er mit HIV lebt. Wie er mit der Diagnose und dem Leben danach umgeht, erzählt er in einer fünfteiligen Serie.

Der eisige, düstere Wiener Januar spiegelt meinen Zustand wider. Kälte und Dunkelheit umhüllen mich. Ich muss mich auf ein Leben einstellen, das ich nicht wollte. Muss gefühlt tausend Sachen erledigen und Entscheidungen treffen.

Wann sage ich es meinen Freunden? Wie sage ich es meiner Familie? Wann fange ich mit der Therapie an? Wie werden sich die Medikamente auswirken? Werde ich etwas spüren? Werde ich wieder reisen können? Wieder Sex haben?

Jeden Morgen starre ich in den Abgrund

Jeden Morgen wache ich erschöpft auf und starre in den Abgrund. Ich mache mir To-do-Listen zum Abarbeiten. Gehe einen kleinen Schritt nach dem anderen. Schleppe mich heute zu diesem und morgen zu jenem Arzt. Mache einen Termin mit einen Psychologin.

Und niemand ist da, mit dem ich das teilen kann oder will.

Wohin gehöre ich als Heteromann mit HIV?

Die Aidshilfe hilft mit dem Organisatorischen, der Bürokratie, gibt medizinische Infos – eine wichtige und bitter nötige Stütze. Trotzdem fühle ich mich alleine. Völlig fehl am Platz.

Im Wartezimmer sehe ich auf die vielen Flyer und Infoblätter. Buddy-Gruppen, Selbsthilfegruppen – alle beworben mit halbnackten, grinsenden Muskelprotzen. Aber wohin gehöre ich? Wo sind die Frauen? Die Hetero-Themen? Der Austausch?

Mein Körper wird zum Objekt. Ich werde gründlich untersucht. Meine Lunge, mein Blut, meine riesig angeschwollenen Lymphknoten. Und dann kommen widerliche Begleiterscheinungen einer HIV-Infektion. Juckender Pilzbefall. Ich widere mich selbst an. Die Augenringe werden dunkler. Mein düsterer Winter wird noch lange dauern.

Als Fotograf muss ich stets ein „Alphatier“ sein. Die Kontrolle übernehmen, Anweisungen geben, selbstbewusst Entscheidungen treffen.

Das fällt jetzt alles flach. Ich bin dazu nicht mehr imstande. Bin zu wenig fokussiert, zu verunsichert und zu abgelenkt.

HIV wird zur Armutsfalle

Eine Abwärtsspirale erfasst mich. Die Qualität meiner Arbeit ist nicht mehr gegeben. HIV dringt in jeden Lebensbereich. Jetzt wird das Virus sogar zur Armutsfalle.

Beim ersten Besuch einer dieser Selbsthilfegruppen schaudert es mich. Gemeinsames Kochen ist angesagt. Ich blickte in traurige Augen, die traurig Gemüse schneiden, um eine traurige Spaghetti-Soße zu machen.

Mir geht es noch schlechter als davor. Als mir einer der Männer von seinem All-Inclusive-Kluburlaub erzählt, ergreife ich die Flucht. Noch nie habe ich mich derart fehl am Platz gefühlt.

So darf meine Zukunft nicht aussehen

„Da gehöre ich nicht hin!“, schreit es in meinem Kopf. „Das bin ich nicht. Ich bin nicht das Virus. Ich werde das doch nicht zulassen? So darf meine Zukunft nicht aussehen!“

Und wieder ergreife ich die Initiative. Ich muss aus diesem Teufelskreis raus. Ein Schritt nach dem anderen – aber diesmal im Angriffsmodus.

Erstes Ziel: Ich will nicht mehr ansteckend sein

Ich setze mir das erste Ziel: Die Viruslast soll unter die Nachweisgrenze. Ich will mich nicht mehr ansteckend sein. Wieder Sex haben können. Und mir das Wissen aneignen, um meinen Freunden von der Infektion zu erzählen – mitsamt den ganzen Infos, wie die Therapie funktioniert und wie sie wirkt. Ihnen zeigen, wie gut ich mich auskenne, und dass ich keine Angst habe.

Das heißt: Therapiestart. Eine Pille am Tag. Für den Rest meines Lebens. Eine Pille, die mir das Leben schenkt. Mich sicher macht. Ein erschreckender Gedanke.

Ich schreibe einen Abschiedsbrief an mein medikamentenfreies Leben. Mit Angst vor Nebenwirkungen schluckte ich die erste Pille – sechs Wochen nach meiner Diagnose.

Schnell ist das Virus unter Kontrolle

Die Nebenwirkungen kommen nicht. Ich bin in den Kampf gezogen, um meine Verteidigungslinie gegen das Virus zu ziehen und zu halten. Hierher und nicht weiter.

Und es geht schnell. Die Nachweisgrenze ist in wenigen Wochen erreicht. Das Virus ist unter meiner Kontrolle – zumindest medizinisch.

Ich öffne mich meinen Freunden und meiner Familie

Der erste Erfolg motiviert mich. Gibt mir wieder ein klein wenig Selbstvertrauen und Hoffnung. Die Kraft, mich meinen Freunden und meiner Familie zu öffnen – und sie um Hilfe zu bitten.

Im Laufe der nächsten Wochen sehe ich in Dutzende Augen. Der Blick, der mich trifft, wenn ich von meiner HIV-Infektion erzähle, ist von Angst, Schock und Unwissen geprägt. Ich fühle mich wie ein Botschafter von Tod und Verderben. Und jedes Mal muss ich selbst ruhig bleiben, um alles zu erklären. Die Ansteckung, die Therapie, die nächsten Schritte. Ein erschöpfender Parcours der Emotionen.

Sie sind da und behandeln mich nicht anders als sonst

Aber sie sind da. Alle. Sie behandeln mich nicht anders als sonst. Das Faszinierende ist: Wenn ich HIV nicht mehr erwähne, existiert es einfach nicht mehr. Meine Freunde und sogar meine Schwester vergessen es immer wieder.

Ich mache den nächsten Anlauf zum Besuch einer Selbsthilfegruppe. Ich beobachte die Männer und Frauen, die vom Leben gezeichnet hineingehen. Und muss an mein Glück denken. Meine Freunde, meine Familie. Ich habe einen Rückhalt, den diese Menschen hier wahrscheinlich nicht haben. Und gehöre tatsächlich nicht dazu.

Ich drehe mich um und gehe nach Hause.

Die nächsten Wochen werden zu Monaten, zu Jahren.

Es folgen Jahre der Auseinandersetzung mit mir selbst

Ich lebe vor mich hin. Im Konflikt und in der Neuausrichtung. In meiner Neugründung. Werde psychologisch betreut, ziehe mich zurück. Lebe einsam. Gehe gelegentlich aus, habe gelegentlich Dates, trinke viel Alkohol. Bin auf der Suche nach mir. Versuche, meine Sexualität wiederzufinden. Bin wütend auf Frauen, wütend auf mich. Wütend auf die Welt.

Frust und Ärger werden Teil von mir. Ich balanciere am Abgrund zur Verzweiflung und Depression, spiele mit dem Feuer.

Doch dies ist keine Auseinandersetzung mit HIV, sondern mit mir selbst und mit allem, was ich bis dahin gewesen bin.

Es ist meine Entscheidung, wie ich lebe

Langsam kriecht der wichtigste Gedanke in meinen Kopf: Es ist trotzdem meine Entscheidung. Ich kann entscheiden, wie ich die nächsten 40 Jahre leben werde. Verbittert? Einsam? Als Opfer? Oder nehme ich die Zügel selbst in die Hand? Stehe ich zu mir, zu dem, wer ich bin?

Ich bin schließlich nicht krank. Ich trage ein Virus in mir, aber ich bin gesund. Gesünder als viele anderen.

Langsam ist der Horizont in Sicht. Langsam kommt eine Aufbruchsstimmung in mir hoch.

Und dann ruft mich Mona an. Meine Exfreundin, meine beste Freundin. Zusammengeschweißt mit mir, seit sie vor zwei Jahren der Rettungsanker in der Nacht nach meiner Diagnose war.

Mona ist schwanger. Und der Vater des Kindes will abhauen.

So schnell, wie er weg ist, so schnell packe ich meine Sachen und gehe zu ihr nach Spanien.

Das Leben hat mich wieder

Die nächsten Monate leben wir in einer umfunktionierten Garage ihres Vaters leben. Schlafen neben Auto und Werzeug.

Sie ermutigt mich, wieder auszugehen, Frauen kennenzulernen und das Leben zu genießen. Ich helfe ihr mit dem Schwangerschafts-Prozedere.

Wir lernen mit- und voneinander. Ich sehe, wie tapfer sie ihre Aufgabe antritt, ihr Kind allein großzuziehen. Sie inspiriert mich. Und ich schäme mich für mein mürrisches Opferdasein. Mein verletztes Ego.

„Get busy living, or get busy dying.“

Jetzt ist mir endgültig klar: Es ist meine Entscheidung, mich dem Leben mit HIV zu stellen. „Get busy living, or get busy dying.“

Die alte Holländerin vom Osho-Zentrum fällt mir wieder ein. Tatsächlich. Sie hatte recht.

Als ich Monas Kind ein paar Stunden nach der Geburt in den Armen halte, fängt für uns alle ein neues Kapitel an. Wie es auch kommen mag, es wird alles gut werden.

Ich fühle mich demütig, glücklich und befreit von den Ängsten, die mich so lange verfolgt haben. Das Leben hat mich wieder.

Die Serie „Heterosexuell und HIV-positiv“

Teil 1 | Dating mit HIV

Teil 2 | Gestern war …

Teil 3 | Die letzten zwölf Tage meines bisherigen Lebens

Teil 4 | E-Mails, die niemand bekommen möchte

Teil 5 | Nebenwirkungen des Lebens

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Ein Preis, zwei Ehrungen und ein zehnter Geburtstag

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Verpasste Chance? Über, aber nicht für trans* Menschen

Über

Philipp Spiegel

Philipp Spiegel ist das Pseudonym von Christopher Klettermayer. 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. Als Fotograf, Autor und Künstler beschäftigt er sich unter anderem mit Themen rund um HIV.

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