Für Menschen, die mit HIV leben, queer sind oder einen anderen kulturellen Hintergrund haben, ist Diskriminierung im Gesundheitswesen leider Alltag. Wie eine diskriminierungsfreie Versorgung geht, zeigt „PRAXIS VIELFALT“.

 Es geht beschwingt los im Café Ulrichs. Zu „I wanna be like you“ aus Disneys „Dschungelbuch“ wippen die rund 50 Gäste, die der Einladung der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) gefolgt sind, mit den Füßen. „Aber bitte nicht mitsingen“, scherzt einer der beiden Musiker von „Duoton“. Die Wahl des Titels mag zufällig sein. Und doch hat die Veranstaltung eine Menge damit zu tun: Es geht nämlich darum, „so wie du“, so wie jede_r andere behandelt zu werden.

Beim Kick-off des Gütesiegels „PRAXIS VIELFALT“ geht es um die Diskriminierung, der sich beispielsweise Menschen mit HIV, Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, inter* und queere Menschen (LSBTIQ*) oder Menschen mit einem anderen kulturellen und sprachlichen Hintergrund häufig ausgesetzt sehen. Vor allem geht es darum, dieser Diskriminierung in der Praxis entgegenzuwirken – im wahrsten Sinne des Wortes.

Diskriminierungsfreien Umgang verinnerlichen

 „Deutschland verfügt über eines der am besten funktionierenden Gesundheitssysteme weltweit“, sagt Winfried Holz vom Vorstand der DAH in seiner Begrüßung. „Die Versorgung mancher Patient_innen ist aber von Stigmata geprägt. Unser Siegel wird das ändern helfen.“ Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und finanziert vom AOK Bundesverband hat die Deutsche AIDS-Hilfe einen Prozess entwickelt, in dem Praxen, Ambulanzen und Kliniken einen diskriminierungsfreien Umgang mit ihren Patient_innen verinnerlichen können.

„Fragen über die geschlechtliche Identität gehören in einen geschützten Raum“

Zu den Qualitätskriterien des Siegels „PRAXIS VIELFALT“ gehört zum Beispiel der korrekte Umgang mit sensiblen Daten. „Häufig werden Patient_innen bereits am Empfang genötigt, persönliche Informationen preiszugeben“, weiß Heike Gronski, die das Projekt bei der DAH leitet. „Im Siegelprozess machen wir die Teilnehmer_innen darauf aufmerksam, dass Fragen über Erkrankungen, Medikamente oder auch die geschlechtliche Identität in einen geschützten Raum gehören.“ Dazu seien mitunter auch Eingriffe in die Gestaltung des Warte- und Empfangsbereichs erforderlich. „Wenn beispielsweise direkt hinter dem Tresen Stühle für wartende Patient_innen stehen, ist Diskretion unmöglich. Diese Stühle sollten einen anderen Platz bekommen“, so Gronski.

Auch das Gesundheitsministerium ist vom Konzept begeistert

Ines Perea vom Bundesgesundheitsministerium

Auf Negativerfahrungen aufgrund von Unwissenheit macht Ines Perea aufmerksam. Die Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium erinnert an den HIV-Stigma-Index „Positive Stimmen“. Darin gab beinahe jede_r fünfte Befragte an, mindestens einmal in den vergangenen 12 Monaten einen Gesundheitsdienst wegen der Infektion nicht erhalten zu haben. „So etwas widerspricht den hohen Standards unseres Gesundheitswesens“, stellt Ines Perea klar. „Deutschland hat hier Nachholbedarf.“ Vom Konzept des Siegels „PRAXIS VIELFALT“ sei sie deshalb von Anfang an begeistert gewesen und sie freue sich über die professionelle Umsetzung.

Gütesiegel im AOK-Arztnavigator

Claudia Schick vom AOK Bundesverband, der das Projekt Praxis Vielfalt fördert

Dieser Einschätzung pflichtet Claudia Schick bei. „Sie sind wirklich auf Zack“, lobt die Referentin im Gesundheitswesen beim AOK Bundesverband die beteiligten regionalen Aidshilfen und die DAH-Bundesgeschäftsstelle. In nur zwei Jahren sei es mustergültig gelungen, die Idee eines Gütesiegels in die Tat umzusetzen, inklusive Handlungsempfehlungen, Schulungsmaterialien, Website und Pilotphase. „Uns liegt viel an einem respektvollen Miteinander. Das Siegel ‚PRAXIS VIELFALT’ wird dazu beitragen.“

„Das ist die Nachricht des Tages!“

Am Ende ihres Redebeitrags sorgt Claudia Schick bei den Zuhörer_innen für viel Applaus: Die AOK wird das Gütesiegel in ihren Online-Arztnavigator aufnehmen. „Das ist die Nachricht des Tages“, freut sich DAH-Geschäftsführerin Silke Klumb, die als Moderatorin durchs Programm führt. „Der Navigator wird uns helfen, wenn wir das Siegel in den kommenden Monaten ins Sichtfeld unserer Zielgruppe rücken.“

Pilotphase: Vier Praxen und eine Ambulanz erhalten die Urkunde

 An diesem 21. September ist Sichtbarkeit bereits gewährleistet. Denn die ersten Träger_innen des Siegels „PRAXIS VIELFALT“ sitzen im Café Ulrichs in den vorderen Reihen. Vier Praxen und eine Ambulanz haben in den vergangenen Monaten den Prozess durchlaufen und erhalten auf der Bühne ihre Urkunde:

  • Praxis Dr. Thomas Heuchel, Chemnitz
  • Weichert Künstler Weichert, Praxisgemeinschaft für Allgemeinmedizin und Frauenheilkunde, Leipzig
  • Infektiologikum Frankfurt
  • HIV Center des Universitätsklinikums Frankfurt/Main
  • Praxis Dilltal, Ehringhausen

Vieraugengespräch und Transgender-Toilette

 „Wir waren uns stets relativ sicher, alle Patient_innen mit dem gleichen Respekt zu behandeln“, gesteht Dr. Annette Haberl, die am HIV Center der Uniklinik Frankfurt/Main den Bereich HIV und Frauen leitet. „Während des Siegelprozesses ist uns aber bewusst geworden, dass auch wir noch dazulernen können.“ Vor allem im Umgang mit trans* Menschen habe es Defizite gegeben. Vom Personal am Empfang bis zu den Ärzt_innen seien mittlerweile alle Mitarbeitenden dafür sensibilisiert, die geschlechtliche Identität nicht ungefragt vorauszusetzen, sondern unter vier Augen zu klären. „Außerdem sind wir wahrscheinlich die erste Ambulanz in Deutschland, die eine Transgender-Toilette eingeführt hat“, ergänzt Anette Lederer am HIV Center.

Das Siegel ist auch ein politisches Signal

Das Gütesiegel Praxis Vielfalt

In nur einem Satz gelingt es einer Mitarbeiterin von Dr. Thomas Heuchel, ihren Dank für das Gütesiegel mit einer politischen Botschaft zu verbinden: „In Chemnitz sind wir die Guten.“ Alle Gäste im Café Ulrichs wissen sofort, worauf Josephine Lüttch anspielt, und applaudieren.

Im Prozess zum Erhalt des Gütesiegels nimmt der Umgang mit Migrant_innen, die noch nicht ausreichend Deutsch sprechen, ebenfalls Raum ein. Dr. Heuchel beklagt in diesem Zusammenhang bürokratische Hürden: „Solange der Asylantrag noch nicht beschieden ist, haben Geflüchtete Anspruch auf einen Dolmetscher. Ist das Bleiberecht bestätigt, zahlen die Kassen nicht mehr.“ Auch Dr. Judith Künstler wird politisch. „Wir werden das Siegel in unserer Praxis sehr sichtbar aufhängen“, kündigt die Leipziger Ärztin an. Damit wolle das Team ein Zeichen gegen eine verhängnisvolle Tendenz setzen. „Die Rechten arbeiten daran, die Errungenschaften der LGBTIQ* zurückzunehmen. Das darf sich die pluralistische Gesellschaft nicht gefallen lassen.“

Weitere Infos unter www.praxis-vielfalt.de oder per Mail an praxis-vielfalt@dah.aidshilfe.de

Text von Hinnerk Werner

Alle Fotos von Renata Chueire

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