Mit intellektueller Schärfe kämpfte er für die Rechte Drogen gebrauchender Menschen. Gundula Barsch erinnert an Werner Hermann, der in den 1990er-Jahren das Selbsthilfenetzwerk der Junkies, Ehemaligen und Substituierten (JES) mit aufbaute.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“.

Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben?

Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis?

Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Werner Hermann lernte ich 1990 kennen. Die Mauer war gerade gefallen und ich nutzte jede Gelegenheit, in dem nun für mich zugänglichen Westberlin zu erkunden, was es mit den illegalen Drogen auf sich hatte und wie man dort Drogenhilfe organisierte.

Dabei erhielt ich auch eine Einladung, an einer Sitzung von Leuten teilzunehmen, die einen Kongress organisieren wollten – von akzept, einem Verein für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, war mehrfach die Rede.

Es versammelte sich ein buntes Völkchen aus sehr verschiedenen, meist Berliner Einrichtungen, deren Vertreter_innen sich offensichtlich alle kannten und fröhlich begrüßten.

Eine gewisse Ruhe breitete sich plötzlich aus, als zwei Männer den Raum gemeinsam betraten, die ganz offensichtlich eine besondere Position in dieser Gruppe innehatten: Dr. Ilja Michels und Werner Hermann.

Werner fiel ein bisschen aus dem Rahmen: hochgewachsen, erste graue Haare in seinem üppigen schwarzen Schopf, gekleidet in einem dunklen Sakko zu Jeanshosen, einem dunklen Hemd und dazu ein eher schmückender Schal. Ob das wohl der Professor war, der dieser Runde beiwohnen sollte?

Als Junkie selbstbewusst für alle Junkies

In der allgemeinen Vorstellungrunde stellte sich Werner jedoch als Koordinator von JES vor, einem Selbsthilfenetzwerk von Junkies, ehemaligen Drogengebraucher_innen und Substituierten.

Das erklärte mir aber zunächst noch nicht, warum Werner ganz offensichtlich von allen Anwesenden besondere Autorität zugesprochen bekam, sich in viele Themen immer wieder und oft auch in mehr als harten Worten einmischte und nachdrücklich auf seiner Sicht der Dinge bestand.

„Menschenwürde auch für Drogengebraucher!“

Erst ziemlich zum Ende begriff ich, dass er tatsächlich meinte, was er sagte: „Wir Junkies“. Er vertrat in dieser Runde selbstgewusst als Junkie alle Junkies – also Menschen, die ich nur als „Fixer vom Bahnhofsklo“ kannte. Ich war mehr als beeindruckt!

Meine nächste Begegnung mit Werner war auf dem ersten akzept-Kongress an der TU Berlin. Dort vertrat er nicht nur die Gruppe der Veranstalter_innen, bewegte sich mit größter Selbstverständlichkeit und selbstbewusster Präsenz durch die Veranstaltungshallen und war bei der Presse ein gefragter Gesprächspartner.

 Auf einer der großen Plenarveranstaltungen prägte er auch den Satz, der dem bundesweiten JES-Netzwerk über Jahrzehnte einen überzeugenden Leitspruch gab: „Auch Drogengebraucher haben eine Recht auf Menschenwürde, sie müssen diese nicht erst durch Abstinenz erwerben.“

„Er hatte seinem Anliegen die emotionale Power gegeben“

Nach diesem fulminanten Abschluss seiner Rede hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können. Werner hatte seinem Anliegen die emotionale Power gegeben, die es neben dem logischen Verstehen eben auch brauchte.

Mehrere Jahre Stasigefängnis nach Fluchtversuch in den Westen

Einige Jahre begegneten Werner und ich uns mit gewissem Abstand. Als eine Frau, die ihre akademische Ausbildung in der verschwindenden DDR erworben hatte, traf mich eher die gehörige Portion Misstrauen, die Werner allen entgegenbrachte, die aus den neuen Bundesländern kamen.

Er war in der DDR in Rostock aufgewachsen, zum Studium nach Ostberlin gekommen und hatte sich dort denjenigen angeschlossen, die an einem Tunnel bauten, der nach Westberlin führen sollte.

„Er experimentierte mit verschiedenen Drogen und blieb schließlich bei Heroin hängen“

Er hat darüber nie viel erzählt – nur so viel, dass er bei seinem Fluchtversuch aufgeflogen war, deshalb mehrere Jahre im Stasigefängnis saß und später freigekauft wurde. Diese Zeit muss wohl ein wichtiger Trigger dafür gewesen sein, dass er mit verschiedenen Drogen experimentierte und schließlich bei Heroin hängen blieb.

Die Substitutionsbehandlung, von der er als einer der Ersten profitieren konnte, hatte ihm geholfen, nicht in die totale Verelendung abzustürzen. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass er sich mit HIV infizierte.

Natürlich bestürzte mich diese dramatische Biografie eines Lebens zwischen den beiden deutschen Staaten, verlief mein Leben im Vergleich dazu doch in eher ruhigen Bahnen. Fast ein wenig schuldbewusst konnte ich deshalb auch so manche Spitzen hinnehmen, mit denen Werner beißend das aus den neuen Bundesländern Kommende kommentierte.

Als ich 1994 die Nachfolge von Ilja Michels in der Abteilung „Drogengebraucher und Menschen in Haft“ der Deutschen AIDS-Hilfe antrat, wurde diese persönliche Distanz für uns beide zu einer Herausforderung. Nun waren wir schließlich Kollegin und Kollege. Wir hatten nicht nur viele überlange Arbeitstage in Büros mit weit geöffneten Türen zu absolvieren, sondern mussten immer wieder auch den inhaltlichen Schulterschluss schaffen.

„Die Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit einer jüngeren Frau wurde wohl zu seiner größten Lernaufgabe“

Es war an Werner zu akzeptieren, dass ich derweil schon viel zum Thema gelernt hatte und deshalb als Gesprächspartnerin ernst zu nehmen war. Bis wir uns endlich mit gegenseitigem Respekt begegnen konnten, hat es wahrlich so manchen, auch lautstarken Disput gegeben. Werner räumte zwar immer ein, ich hätte eine gute Ausbildung und sei fleißig. Dass er aber nun mit einer jüngeren Frau auf Augenhöhe arbeiten sollte, wurde wohl zu seiner größten Lernaufgabe.

In manchem Streit konnte ich mit den besseren Argumenten aufwarten. Aber wehe, wenn Werner knurrend an seinem Schreibtisch saß und sich einen Joint drehte. Dann wurde es für mich ernst. Denn schon nach den ersten Zügen war sein Verstand mehr als wach und messerscharf, weshalb es höchst ungewiss war, wie unser geistiges Kräftemessen ausgehen würde …

Am Ende des Lebensfadens

So eng beieinander bemerkte ich auch sehr schnell, wie die HIV-Infektion allmählich Werners Lebenskraft aufbrauchte. Vieles, was er ursprünglich mit Leichtigkeit meisterte, verlangte nun unerhörte Mühe. Diese Situation konnte Werner zunächst überhaupt nicht hinnehmen, er reagierte oft gereizt und unberechenbar. Vorsichtig versuchten wir durch eigene zusätzliche Anstrengungen, Lücken zu schließen und nach außen den Schein so lange es ging zu wahren.

Besonders für die Menschen im bundesweiten JES-Netzwerk war Werner weiterhin die unhinterfragte Autoritätsperson, deren Wort wichtig war und die mit ihrem Wirken bei allen Weggefährt_innen Selbstbewusstsein und Motivation ankurbelte.

Mit der Einsicht, dass der Lebensfaden immer kürzer wurde, wurden wir für Werner zu den sozialen Bezugspersonen, die ihn durch die letzten Etappen tragen sollten. Er bezog eine Wohnung direkt im Nachbarhaus der DAH, sodass er auch mit schwindender Kraft immer wieder an seine Wirkungsstätte kommen und an der einen oder anderen Aufgabe mitwirken konnte oder zumindest im Austausch über das aktuelle Geschehen eingebunden blieb.

„Eines Morgens blieb sein Besuch im Büro aus“

In seiner Sicht auf die Welt wurde Werner schließlich etwas milder. Er freute sich aufrichtig, dass wir ein Wiedersehen mit seiner Mutter arrangieren konnten. Nur wenn es um sein Kettenrauchen ging, blieb er absolut widerständig: Selbst in der Klinik konnten ihn weder ein Arzt und schon gar nicht die Krankenschwestern bewegen, seine Zigaretten wenigstens in den dafür vorgesehenen Bereichen zu rauchen. Selbst in dem sonst so strengen Krankenhausbetrieb ließ man ihn schließlich einfach rauchend in seinem Krankenbett gewähren.

Dass sein Lebensfaden gekappt war, merkten wir daran, dass Werners Besuch im Büro eines Morgens ausblieb.

Die Vorbereitungen zur Trauerfeier, zu der mehr als 100 Mitstreiter_innen und Weggefährt_innen aus der ganzen Bundesrepublik kamen, absorbierten zunächst alle meine Gefühle von Abschied und Trauer. Erst zum Schluss der vielen offiziellen Abschiedsreden streifte auch mich die Einsicht in die Endlichkeit einer besonderen Lebenszeit, die ich an Werners Seite erleben durfte.

Für das Ende der Trauerfeier, wenn Werners Sarg von der Oberfläche in die Tiefe zu versinken hatte, hatten wir The Doors gewählt, die für alle Anwesenden Werners Leben mit ihrer berühmten Liedzeile berührend auf den Punkt brachten: „Rider(s) on the storm“.

Zurück

„Die Menschen sehen nicht, wie nützlich Harm Reduction ist“

Weiter

Endlich: Neue Regeln erleichtern die Substitutionsbehandlung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

4 + 1 =

Das könnte dich auch interessieren