Robby ist 16, als er sich in den 41-jährigen Daniel verliebt. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich geborgen. Doch Daniel hat ein Geheimnis: Er ist abhängig von „Tante Tina“. So heißt die Droge Crystal Meth in der Szene. Mehr und mehr muss sich der Jüngere um den Älteren kümmern. Im Juni 2017 stirbt Daniel. Seitdem engagiert Robby sich in der Aufklärung. Er ist überzeugt: Crystal hat man nicht im Griff.

Unser Autor Hinnerk Werner hat Robbys Geschichte aufgeschrieben.

Am Anfang fuhren wir gemeinsam Angeln. Daniel* hatte auf einer Dating-Plattform jemanden gesucht, der dieses Hobby mit ihm teilt, und wir verstanden uns sofort.

Bald verbrachten wir ganze Nachmittage im Boot.

Vom Angeln kamen wir auf Persönliches. Ich erzählte von meinen Pflege-Eltern, mit denen ich nicht klarkam.

Daniel eröffnete mir, dass er aufgrund einer fortgeschrittenen HIV-Infektion mit Mitte 30 Frührentner geworden war.

Mich störte das nicht. Dieser hochgewachsene ehemalige Polizist flößte mir Vertrauen ein. Er war zugewandt und herzlich, hörte mir zu.

Wir waren vier Jahre glücklich

Mit meinen 16 Jahren fühlte ich mich zum ersten Mal geborgen, auch weil ich selbst HIV habe und mit niemanden sonst darüber reden konnte.

Die Anziehung wuchs, und ein paar Monate später waren wir ein Paar.

Mir war egal, dass uns 24 Jahre trennten

Manch einer unterstellte mir, ich hätte nur einen Ersatzvater gesucht. Aber mir war es einfach egal, dass uns 24 Jahre trennten.

Wir teilten alles miteinander und zogen zusammen.

Die ersten vier Jahre unserer Beziehung waren die glücklichste Zeit meines Lebens.

Nur manchmal wirkte mein Freund abwesend, reizbar, nervös. Darüber wunderte ich mich, verdrängte es aber weitgehend.

„Tante Tina“ lässt Schmerzen vergessen

Als immer mal wieder Spritzen in der Wohnung herumlagen, ließ sich das Thema allerdings nicht mehr vermeiden.

Wie sich herausstellte, nahm Daniel regelmäßig Crystal Meth und durchlebte depressive Phasen, wenn die Wirkung vorbei war.

Er selbst sprach szeneüblich von „Tante Tina“, so als handele es sich um eine Verwandte oder Freundin.

Möglicherweise kam ihm das wirklich so vor, denn im Rausch hörten die Schmerzen auf, die ihn im Alltag quälten.

Crystal gratis von den Sex-Kumpels

Daniel rauchte, schnupfte, spritzte die Droge und gab dafür seine Frührente aus.

Aber so ein bisschen Geld reicht nicht für den Bedarf eines Süchtigen.

Die Lösung? Chemsex-Partys! Ich vermute, dass mein Freund vor allem deshalb teilnahm, weil er den Stoff dort gratis bekam.

Vielleicht glaubten seine Bekannten, ihm damit einen Dienst zu erweisen.

Vielleicht erlaubte Daniel im Rausch aber auch Sexpraktiken, die ihn für andere attraktiv erscheinen ließen. Ich werde es nicht erfahren.

Liebe allein ist gegen Crystal Meth machtlos

War es zu Beginn unserer Beziehung Daniel, der sich um mich gekümmert hatte, drehte sich unser Verhältnis über die Jahre um.

Schleichend übernahm ich immer mehr alltägliche Aufgaben, denen mein Freund nicht mehr gewachsen war.

Ich war so naiv zu glauben, dass ich ihm damit helfen würde.

Ich übernahm immer mehr Aufgaben

Liebe und Zuneigung alleine kommen gegen Tante Tina aber nicht an.

Gespräche über die Risiken bewirkten wenig.

Daniel wand sich, suchte Ausflüchte. Im Grunde wollte er gar nicht mehr weg von Tina. Er hatte ihr längst die Kontrolle übergeben.

Einmal fand ich Daniel mitten am Tag apathisch im Bett. Er hatte eine Überdosis intus, und es dauerte Stunden, bis er wieder reagierte.

Aber auch nach diesem Erlebnis lehnte er es ab, sich in einer Beratungsstelle professionelle Hilfe zu holen.

Angst und Apathie prägten Daniels Leben

Crystal veränderte Daniels Persönlichkeit so sehr, dass von unserer Beziehung nach zehn Jahren nichts mehr übrig war.

Ich suchte mir eine eigene Wohnung, kümmerte mich aber zwei Jahre lang weiter um ihn.

Außer mir hatte Daniel ja nur diese Typen, die ihn mit Stoff versorgten.

Daniel traute niemandem außer mir

Wenn ich ihn besuchte, lag er im Bett. Die Gardinen waren zugezogen, zu jeder Tageszeit.

Er hatte Angst vor Menschen und traute niemandem außer mir.

Ich kaufte ein, putzte, wusch ab und ließ den Arzt in die Wohnung, der auf meine Bitte hin ab und zu Hausbesuche machte.

Ich verlor meinen Job

Ich musste so viel Zeit und Energie für meinen Ex-Freund aufbringen, dass mein eigenes Leben aus dem Ruder geriet.

Ich sah meine Freunde kaum noch, ging nicht mehr aus. Außerdem vernachlässigte ich meinen Job in der Gastronomie.

Mein Chef ermahnte mich mehrfach und bohrte nach, wieso ich ständig so müde, fahrig und unkonzentriert sei.

Ich war aber noch nicht bereit, über Daniel, Tina und mich zu reden. Und eines Tages stand ich ohne Arbeit da.

Tod und Neubeginn

Aus meinem Käfig bin ich erst herausgekommen, als Daniel tot war.

Er hatte vier Monate im Krankenhaus gelegen, mit einer Hepatitis C, die er sich beim Chemsex geholt hatte.

Er war einfach umgefallen und nicht mehr zu sich gekommen.

Koma. Künstliche Ernährung. Bei seinem Tod im Juni 2017 wog Daniel auf 1,85 Meter noch 54 Kilogramm.

Ich habe über all das zu lange geschwiegen.

Nur indem ich mich öffne, kriege ich mein Leben wieder auf die Reihe.

Ich habe über all das zu lange geschwiegen

Als erstes habe ich mich bei meinen Freunden gemeldet und sie gebeten, mit mir auszugehen.

Dann habe ich mit meinem ehemaligen Chef gesprochen und alles auf den Tisch gepackt. Er hat mich sofort wieder eingestellt.

Außerdem habe ich bei der Drogenberatung Schulungen besucht, in denen es um Crystal Meth und um Prävention ging.

Das hat mich für künftige Diskussionen gewappnet.

„Chem-freundlich“ heißt oft: zu allem bereit

Anlässe für solche Diskussionen gibt es genug.

Ob in Köln, Hamburg, Leipzig oder Berlin: Wer Crystal will, der kriegt es.

Die Droge eröffnet Männern mit Geld einen einfachen Weg, sich ihre sexuellen Fantasien zu erfüllen.

Auf Dating-Portalen beispielsweise tummeln sich jede Menge junge Menschen, die alles mitmachen, solange sie dabei den Stoff bekommen – genau wie Daniel.

Schon 18-Jährige bezeichnen sich im Internet als „chem-freundlich“.

Wissen über Chems: oft Fehlanzeige

Wenn ich Kerle in Dating-Portalen damit konfrontiere, endet entweder abrupt der Chat oder es kommen Antworten zurück, die mir die Haare zu Berge stehen lassen.

„Ich hab das im Griff“ stimmt aus meiner Sicht bei Crystal genauso wenig wie bei Heroin.

Manchmal kommt auch das Argument: „Du kannst doch gar nicht wissen, wie Chems wirken, wenn du sie nicht nimmst.“

Ich will Jüngere vor Crystal Meth warnen

Auch das lässt sich leicht entkräften. Im Jahr 2015 habe ich ein paar Mal Crystal geraucht, um nachfühlen zu können, was es mit Daniel macht. Seitdem habe ich die Finger davon gelassen.

Besonders fassungslos machen mich manche Reaktionen, wenn ich von Daniels qualvollem, jahrelangem Sterben erzähle.

„Oh, schade“ –  mehr fiel einem Chemsex-Anhänger dazu nicht ein.

Netzwerk gegen Crystal Meth

Trotzdem werde ich meine Geschichte zur Sprache bringen, wo immer ich kann.

Ich will Jüngere vor der Droge warnen und ihren Freunden Mut machen, einzugreifen, bevor es zu spät ist.

Zurzeit versuche ich, ein Buch zu finanzieren.

Autoren, die mir beim Schreiben helfen würden, habe ich schon gefunden.

Außerdem baue ich mir ein Netzwerk aus anderen Menschen auf, die sich gegen Crystal engagieren.

Einer davon ist ein holländischer Pornodarsteller, der unter #Tina twittert.

Auch an einer Kampagne gegen Crystal werde ich mich beteiligen.

Aufklärung mag eine zähe und oft frustrierende Angelegenheit sein. Aber für mich ist klar: Tante Tina darf nicht gewinnen.

 

[*] Die Eltern des Mannes haben uns gebeten, statt des Rufnamens den zweiten Vornamen zu verwenden. Wir kommen dieser Bitte nach.

 

Infos zu Crystal Meth

  • Weitere Bezeichnungen: Tina (in Dating-Apps kurz „T“), Yaba, Piko, Hard Pep, Ice, Glass, Crank, Pervitin, Thai-Pille
  • Wirkstoff: Methamphetamin
  • Wirkungsbeginn: nach ca. 5 bis 20 Minuten beim Sniefen und nach bis zu 30 Minuten beim Schlucken; wird auch anal eingeführt und intravenös konsumiert
  • Wirkdauer: 20 bis 30 Stunden

Wirkungen und Nebenwirkungen

erhöhtes Selbstbewusstsein, Euphorie, Rededrang; aufputschend, Unterdrückung des Hungergefühls und Schlafbedürfnisses, gesteigerte Lust auf Sex; Herzfrequenz- und Blutdrucksteigerung, Unruhe, Anstieg der Körpertemperatur; Aggressivität, gesteigerte Risiko- und Gewaltbereitschaft; vermindertes Schmerzempfinden

Nachwirkungen

extrem langer Nachschlaf (bis zu 30 Stunden), starker Hunger, Gereiztheit, depressive Verstimmung, Konzentrationsstörungen. Nachwirkungen halten länger an als bei Speed (bis zu zwei Wochen!)

In größeren Mengen

Bei Überdosierung oder Überlastung des Körpers (z.B. durch zu langes Tanzen) lebensbedrohliche Überhitzung, Bewusstlosigkeit, Kreislaufversagen, Krampfanfälle, Herzversagen möglich; deutlich reduzierte Erektionsfähigkeit

Langzeitfolgen

Schlafstörungen, Schäden der Nasenschleimhaut (Sniefen), Gewichtsverlust, Depression, Übernervosität, Psychose, akustische Halluzinationen, Bluthochdruck mit dem Risiko für Schlaganfälle/Hirnblutungen, körperlicher Verfall, Hautprobleme, Zahnschäden („Meth-Mouth“), wahrscheinlich auch Veränderungen und Schädigungen im Gehirn.

Es besteht ein hohes Risiko, psychisch abhängig zu werden.

Weitere Informationen: https://drugscouts.de/de/lexikon/crystalmethamphetamin

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