Was heißt es, als Mensch mit schwarzer Hautfarbe in einem von Weißen dominierten Land zu leben? Und wie sich dem Rassismus stellen? Der Schriftsteller James Baldwin hat darauf Antworten gesucht. Raoul Peck hat sie zur Grundlage seines beeindruckenden Essayfilms I Am Not Your Negro gemacht, der online frei verfügbar ist.

Es ist sonnig an diesem 4. September 1957 in Charlotte, North Carolina. Dorothy Counts geht zum ersten Mal zu ihrer neuen Schule.

Erhobenen Hauptes, doch mit erkennbarer Angst im Blick, bahnt sich die 15-Jährige ihren Weg durch eine Menschenansammlung.

Es ist ein Spießrutenlauf.

Sie wird beschimpft, bespuckt, mit Steinen beworfen.

Ein Pulk weißer Demonstrat_innen, viele davon ihre künftigen Mitschüler_innen, skandiert Schmährufe und hält Schilder mit rassistischen Parolen.

Dorothy Counts ist die erste Nichtweiße an der bislang Weißen vorbehaltenen Harry Harding High School.

Pressebilder dieser Szenen gehen um die Welt.

I Am Not Your Negro erzählt auch die Geschichte von James Baldwin

James Baldwin, der schwarze schwule Schriftsteller und Bürgerrechtler, sieht eines der Fotos in einer französischen Zeitung.

„Einer von uns hätte bei ihr sein müssen“

Als junger Mann war er aus den USA fortgegangen, weil er den Rassismus in seiner Heimat nicht mehr ertragen konnte.

Seine ersten großen Romane, die ihn weltberühmt machten, schrieb er bereits im Exil.

Doch das Foto von Dorothy Counts inmitten des weißen Mobs beschämt ihn.

„Einer von uns hätte bei ihr sein müssen“, schreibt er später.

Baldwin geht in die USA zurück, um den politischen Kampf um die Gleichberechtigung der Afroamerikaner_innen zu unterstützen – und erlebt ein Jahrzehnt gewaltsamer Unruhen, Morde an schwarzen Bürgerrechtler_innen und Polizeigewalt.

1970 kehrt er entmutigt und erschöpft endgültig nach Frankreich zurück.

Baldwin I am not your negro

Seine persönlichen schmerzhaften Lebenserfahrungen als Afroamerikaner wie auch seine Begegnungen mit drei Kämpfern für die Rechte der Schwarzen in den USA – Malcom X, Martin Luther King und Medgar Evers –  sollten Thema eines Buches werden.

Baldwin hat es nicht vollendet. Aber der Regisseur Raoul Peck hat die bislang unveröffentlichte, 30-seitige Notiz zum Buchprojekt „Remember This House“ zur Grundlage eines filmischen Essays gemacht.

Baldwins Reflexionen sind erschreckend aktuell

Das Verblüffende und zugleich Erschreckende an Baldwins Reflexionen (in der Originalversion gesprochen von Samuel J. Jackson, in der deutschen Fassung von Sammy Deluxe): Sie sind erschreckend aktuell.

„Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit, sie ist die Gegenwart“, schreibt Baldwin an einer Stelle treffend. Eine fast banale Sentenz.

Baldwin I am not your negro
Dr. Martin Luther King, Pastor und Bürgerrechtler (geboren am 15. Januar 1929 in Atlanta, Georgia; ermordet am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee)

Peck bebildert Baldwins Erinnerungen an die schwarze Bürgerrechtsbewegung und Momentaufnahmen seiner eigenen Sozialisation mit Ausschnitten aus klassischen Hollywoodfilmen und mit rassistischen Werbemotiven aus Baldwins Lebenszeit, aber auch mit Fotos und Nachrichtenclips von Vorfällen, die sich erst lange nach Baldwins Tod im Jahr 1987 ereigneten.

„Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit, sie ist die Gegenwart“

Die Bilder aus den 60er-Jahren, auf denen Polizisten völlig enthemmt auf schwarze Demonstrant_innen einprügeln, ähneln frappierend Szenen etwa von „Black-Lives-Matter“-Protesten in Ferguson 2014.

Bilder von Opfern der Lynchmorde stehen neben Fotos von Kindern und Jugendlichen, allesamt aktuelle Opfer von Polizeigewalt.

Der Rassismus, so Baldwins Grundthese, ist in die amerikanische Geschichte eingeschrieben, und zwar in all seiner Hässlichkeit: „Die Geschichte des Schwarzen in Amerika ist die Geschichte Amerikas. Und sie ist keine schöne Geschichte.“

Rassismus ist in die Geschichte Amerikas eingeschrieben

Die Rassentrennung wurde zwar abgeschafft, der Rassismus damit aber nicht.

Junge Afroamerikaner_innen, so Baldwins Schlussfolgerung, sollten nicht länger darauf hoffen, eines Tages von der weißen Mehrheit akzeptiert zu werden.

Was im ersten Moment wie eine Niederlage klingt, ist für Baldwin aber Resultat eines Prozesses der Selbstbehauptung.

Das sogenannte negro problem, das in den USA über Jahrzehnte immer wieder als Ursache für den – angeblich berechtigten – Rassismus zitiert wurde, ist für Baldwin kein Problem der Schwarzen, sondern der Weißen.

„Diese Welt ist nicht weiß. Sie ist nie weiß gewesen, kann nicht weiß sein. Weiß ist eine Metapher für Macht“, so Baldwin.

Baldin I am not your negro
Malcom X (geboren 19. Mai 1925 in Omaha, Nebraska; ermordet 21. Februar 1965 in New York City)

Black Americans sind und bleiben nach Baldwins Ansicht ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Identität.

Und um dies begreifen und annehmen zu können, müssen sie sich zwangsläufig ihrer von Unrecht geprägten Geschichte stellen.

Raoul Peck hat in seiner Filmcollage sehr geschickt Elemente direkt nebeneinander gestellt.

Ausschnitte von Fernsehaufritten Baldwins und seiner Mitstreiter_innen stoßen direkt auf Ereignissen aus jüngeren Jahren.

Die Gegenwart wird so zum Echoraum der Vergangenheit und ist zugleich eine Aufforderung an die Zuschauer_innen, die eigenen, oft unbewusst eingeschriebenen Vorbehalte und Vorurteile zu hinterfragen.

Viel ist passiert, doch wenig hat sich verändert

Seit Baldwins Tod 1987 ist viel passiert. Die USA erlebten sogar den ersten schwarzen Präsidenten. Und doch hat sich wenig verändert.

Baldwins Analysen und scharfe Beobachtungen sind selbst ein halbes Jahrhundert später nach wie vor aktuell. Auch die „Black-Lives-Matter“-Bewegung hat ihn für sich (wieder)entdeckt.

Inzwischen wurden einige seiner Bücher nicht nur in den USA neu aufgelegt; der Deutsche Taschenbuch Verlag zum Beispiel bringt die lange Zeit vergriffenen Hauptwerke nach und nach in neuer Übersetzung heraus, darunter auch seine Sammlung mit Essays über Rassismus unter dem Titel „Nach der Flut des Feuer“.

Im März 2019 kam zudem mit „Beale Street“ die erste Verfilmung eines Baldwin-Romans in die Kinos. Nach „Moonlight“ gelang Regisseur Barry Jenkins damit erneut ein Oscar-prämiertes, vor allem breitenwirksames Drama über Rassismus in den USA.

Not your negroRaoul Pecks „I am not your negro“ ist als DVD bei Salzgeber & Co. erschienen.

Die deutsche Fassung des Dokumentarfilms steht in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung kostenfrei zur Verfügung.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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