Maria hat sich bei dem Vater ihres Kindes mit HIV angesteckt. Jetzt ist ihr Junge 15 Jahre alt und sie fragt sich: Sage ich es ihm – und wenn ja, wie?

Ich habe ein Ritual. Jeden Abend vor dem Einschlafen trinke ich ein Glas Wasser und schlucke eine gelbe Kapsel. Für mein Immunsystem, damit es mir gut geht. Meine Medikamente liegen in einem Plastikkästchen, ohne Aufschrift, auf dem Nachttisch neben meinem Bett.

Als mein Sohn noch nicht lesen konnte, habe ich sie im Kühlschrank aufbewahrt. Jetzt befürchte ich, dass er den Namen des Produktes im Internet suchen könnte: Symtuza. Laut erstem Google-Treffer „ein antiretrovirales Arzneimittel zur Behandlung von Infektionen mit dem menschlichen Immunschwächevirus 1 (HIV-1)“.

Alle drei Monate brauche ich neue Medikamente. Ich besorge die Hartkapseln nicht in der Apotheke um die Ecke, sondern in der Innenstadt. Dort kennt mich keiner.

Meine HIV-Medikamente hole ich dort, wo mich keiner kennt

Auf dem Weg nach Hause fülle ich sie um und entsorge die Verpackung in einem öffentlichen Mülleimer. Das ist Alltag für mich, aber seit einiger Zeit treibt mich ein Konflikt: Mein Junge ist jetzt groß, ich erwarte von ihm einen offenen Umgang mit Alkohol und Drogen. Gilt das Gleiche nicht für mich? Soll ich es ihm sagen?

Ich bin einer von rund 86.000 Menschen in Deutschland, die HIV-positiv sind. Meine Mutter, mein Vater und 20 bis 30 Freunde wissen das. Nur mein einziger Sohn, der weiß es nicht. Warum? Ich habe Angst. Angst, ihn zu erschüttern. Angst vor seiner Angst, dass ich früher sterbe als gedacht. Klar weiß er, dass es Aids gibt. Neulich haben wir den Film „Bohemian Rhapsody“ gesehen. In der Szene, als Queen-Sänger Freddie Mercury seine Diagnose bekommt, stand ihm das Wasser in den Augen. Genau wie mir.

Ich habe geheult, weil ich mich an den Tag im August erinnerte, es war das Jahr 2000, mein 35. Lebensjahr. Wir waren in der Uni-Klinik, mein damaliger Mann und ich. Er war aus der Karibik nach Deutschland gekommen, da wollte er sich einmal gründlich durchchecken lassen.

Seine Diagnose war auch meine

Dabei kam raus, dass er schon seit langer Zeit das HI-Virus in sich trägt. Ohne es zu wissen. Ich wollte vom Professor wissen, wie wir jetzt vorgehen. „Wir kriegen das schon hin“, sagte ich zu dem Arzt. „Außerdem steht bei uns ja auch ein Kind ins Haus.“ Er schaute mich fragend an. „Sie sind ja auch positiv! Wie stellen Sie sich das vor?“ Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Totale Leere. Das Ende für uns beide.

Als Erstes habe ich meine Mutter angerufen. Bitte, Mama, wie soll ich mit dieser Situation umgehen? Sie war total entsetzt, gleichzeitig aber ganz klar. Ich weiß noch genau, was sie gesagt hat: „Als Erstes muss das Kind weg. Du kriegst das sonst nicht auf die Reihe. Mit dir selbst nicht und mit deinem Mann.“ Es war mir klar, dass sie so antworten würde. Und dass sie recht hatte.

Warum Maria* und ihr Mann sich nach der Abtreibung doch für ein Kind entschieden, wie sie mit HIV lebt und ob sie ihrem Sohn von ihrer HIV-Infektion erzählt, ist auf Orange nachzulesen, dem jungen Portal des Handelsblatts. Wir danken dem Autor Maximilian Nowroth herzlich für die Möglichkeit, diesen Anlesetext auf magazin.hiv zu veröffentlichen.

*Maria heißt in Wirklichkeit anders. Aus Respekt vor ihrer Privatsphäre haben wir ihren Namen geändert. Sie ist eine Bekannte des Autors, der diesen Text bei mehreren Gesprächen gemeinsam mit ihr verfasst hat.

 

Informationen für Familien mit HIV

Als die HIV-Infektion noch nicht behandelbar war, wurden betroffene Familien oft sehr schnell mit schwerer Erkrankung und Tod konfrontiert. Heute dagegen haben HIV-Positive dank wirksamer antiretroviraler Medikamente gute Aussichten, noch viele Jahre gesund zu bleiben und fast genauso lange zu leben wie der Bevölkerungsdurchschnitt. Aber immer noch tun sich HIV-positive Mütter und Väter meist schwer damit, sich ihren Kindern gegenüber zu offenbaren. Viele Fragen gehen ihnen dabei durch den Kopf:

  • Kann ich das meinem Kind zumuten?
  • Ist es schon alt genug dafür?
  • Wie wird es darauf reagieren?
  • Wird es sein Wissen für sich behalten können?
  • Und wie kann ich mein Kind vor möglicher Diskriminierung schützen?

Tipps und Anregungen für Mütter und Väter mit HIV bietet die Broschüre „Wie sag ich’s meinem Kind?“ der Deutschen Aidshilfe.

Sie informiert auch über Angebote für HIV-betroffene Familien und nennt wichtige Adressen.

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