Ein Bundesland mit nur einer Praxis für HIV-Patient_innen? In Brandenburg liegt die HIV-Versorgung zweifellos im Argen. Die besonderen Herausforderungen in diesem Flächenland sind auch Thema beim Berliner Kongress „HIV und Dialog“ (30./31.8.2019).

Für seine vierteljährliche Routineuntersuchung muss Karsten* ein bisschen mehr Zeit einplanen. Unter fünf Stunden hat er es noch nie geschafft. Dabei dauern die Blutabnahme und das Arztgespräch meist nicht länger als 30 Minuten.

„Bis zur Praxis ist Karsten gute zwei Stunden unterwegs“

Doch bis zur Praxis ist Karsten gute zwei Stunden unterwegs: erst mit dem Bus von seiner Kleinstadt nach Cottbus, dann weiter mit der Regionalbahn nach Berlin. Vom Bahnhof Friedrichstraße ist es dann vergleichsweise nur noch ein Katzensprung bis zu seinem behandelnden Arzt Roland Grimm.

Der Mittdreißiger Karsten ist nicht der einzige Patient der HIV-Schwerpunktpraxis Mitte, der diese weite Anreise aus Brandenburg auf sich nimmt. „In den letzten Jahren sind zunehmend neue HIV-Patient_innen aus Brandenburg und den angrenzenden Bundesländern neu zu uns gekommen“, sagt Roland Grimm.

HIV-Versorgung in Brandenburg: Auffällig viele HIV-Spätdiagnosen

Was aber besonders auffällig sei: „Bei vielen von ihnen war die HIV-Infektion erst sehr spät diagnostiziert worden, oft sogar erst, als sich bereits aidsbedingte Erkrankungen entwickelt hatten.“ Nicht selten haben diese Patient_innen bereits eine kleine Odyssee durch Brandenburger Praxen und Kliniken hinter sich.

Wie etwa Karlheinz*: Über Monate hinweg hatte er aus ungeklärten Gründen Gewicht verloren, die Speiseröhre und der Mundraum waren von Pilz befallen. Drei Fachärzt_innen in Cottbus und Umgebung hatten vergeblich nach der Ursache gesucht; im Krankenhaus, in dem Karlheinz zuletzt in Behandlung war, tippte man auf eine Autoimmunerkrankung.

Nach einem Zusammenbruch hatte ein Freund die richtige Vermutung und brachte Karlheinz vor rund zwei Jahren zur Schwerpunktpraxis Mitte. „Mir war damals schleierhaft, wie es passieren kann, dass keiner der behandelnden Ärzte auf die Idee gekommen war, mal einen HIV-Test durchzuführen“, erinnert sich Roland Grimm. „Mit der Zeit aber musste ich feststellen, dass dies kein Einzelfall ist.“

„Keiner der Ärzte war auf die Idee gekommen, einen HIV-Test durchzuführen“

Auch Ines Liebold hat einige solcher Krankengeschichten erlebt. Zwanzig Jahre hatte die Internistin und Infektiologin im Klinikum Potsdam als Oberärztin gearbeitet, vor drei Jahren eröffnete sie in Blankenfelde an der Grenze zwischen Brandenburg und Berlin ihre eigene Praxis.

Sie erzählt von einem 72-jährigen Patienten, der an langanhaltenden Durchfällen litt, mehrfach gründlich untersucht wurde. Doch auch bei ihm war niemand auf die Idee gekommen, den Immunstatus zu überprüfen. „Viel zu spät erst wurde Vollbild Aids diagnostiziert“, beklagt Liebold.

Der Patient gehöre zu jener Generation schwuler Männer, die noch zu DDR-Zeiten und in den Nachwendejahren geheiratet haben und erst später ihre Homosexualität auslebten – und sich oft auch infizierten. „Jetzt, im fortgeschrittenen Alter, bricht das Doppelleben auseinander.“

Nur zwei medizinische Anlaufstellen für HIV-Patient_innen im ganzen Bundesland

Doch das kann nicht der alleinige Grund dafür sein, warum es im Land Brandenburg so viele „Late Presenter“ gibt, also Menschen mit HIV, deren Infektion erst in einem fortgeschrittenen Stadium erkannt wird.

Und weshalb nehmen HIV-Patient_innen aus Frankfurt/Oder, Cottbus oder Guben solche langen Fahrtwege zu Berliner Praxen auf sich?

„Mit der Versorgung sieht’s hier duster aus“

Christian Müller von der AIDS-Hilfe Niederlausitz in Cottbus hat darauf eine knappe, aber deutliche Antwort: „Weil’s hier mit der Versorgung duster aussieht.“ In ganz Brandenburg – mit knapp 30.0000 Quadratkilometern immerhin fast so groß wie Thüringen und Schleswig-Holstein zusammen – gibt es für Menschen mit HIV lediglich zwei kompetente medizinische Anlaufstellen. Neben der Praxis von Ines Liebold ist da nur noch die HIV-Ambulanz im Potsdamer Klinikum Ernst von Bergmann.

Wenn es um Fachärzt_innen geht, bei denen Patient_innen offen über ihre HIV-Infektion oder ihr Schwulsein sprechen können, ist die Situation noch prekärer. „Wir können da keine Empfehlungen aussprechen“, gibt Christian Müller offenherzig zu. „Wir schicken die Leute definitiv nach Berlin.“

Klient_innen der Aidshilfe haben immer wieder schlechte Erfahrungen machen müssen. Das Wissen der Ärzt_innen stammt noch aus der Zeit des Studiums – „und das liegt meist sehr lange zurück“, sagt Müller frustriert. Die zudem stark überalterte Ärzt_innenschaft ist zugleich vom Alltag so ausgelastet, dass sie wenig Motivation hat oder Möglichkeiten sieht, sich einem – aus Brandenburger Sicht – Randthema zu widmen.

Überalterte Ärzt_innenschaft und veraltete medizinische Kenntnisse

Hinzu kommt, dass in weiten Teilen des überwiegend ländlich strukturierten Brandenburgs Homosexuelle oder Menschen mit HIV nicht mit der gleichen Offenheit in der Bevölkerung rechnen können wie etwa in den Großstädten.

„Wir sind hier weit weg von einer selbstbestimmten humanistischen Haltung und von Diskriminierungsfreiheit, und das wissen die Leute auch, die hier leben. Deshalb sind sie auch sehr vorsichtig, solche Themen überhaupt anzusprechen. Das macht es natürlich nicht einfach,“ sagt Christian Müller.

Welche weitreichenden Folgen das hat, macht er am Beispiel der AIDS-Hilfe Niederlausitz selbst deutlich. Für ihr monatliches HIV-Schnelltest-Angebot suchte die Aidshilfe eine_n Mediziner_in, der_die sie dabei unterstützt. Letztlich dauerte die Suche fast zwei Jahre.

„Wir sind hier fernab einer aufgeklärten Gesellschaft“

Die angefragten Ärzt_innen sagten reihenweise ab: „aus Angst, sie könnten durch dieses Engagement verdächtigt werden, selbst homosexuell zu sein, es könnte ihrer Karriere, ihrem Ansehen oder dem Ruf ihrer Praxis schaden“, schildert Müller die ernüchternden Reaktionen. „Wir sind hier fernab einer aufgeklärten Gesellschaft, das erleben wir leider immer wieder.“

Das erklärt auch, weshalb bei vielen Brandenburger HIV-Patient_innen die Angst so tief sitzt, ihre Infektion könnte – und sei es durch einen Zufall ­ – öffentlich werden.

Ines Liebold hatte sich deshalb bei ihrer Praxisgründung dafür entschieden – anders als die meisten ihrer HIV-Medizinkolleg_innen in Berlin – den besonderen Behandlungsschwerpunkt ihrer hausärztlichen Praxis nicht offensiv nach außen zu kommunizieren.

Für Christian Müller von der AIDS-Hilfe Niederlausitz ist es daher auch absolut verständlich, dass Brandenburger_innen mit HIV, die die Möglichkeit haben, die Region meist in Richtung Berlin verlassen. Auch viele schwule Männer sehen sich vor der Entscheidung, entweder versteckt zu leben – oder wegzuziehen.

Wer die Möglichkeit hat, zieht weg

„Die kommen dann vielleicht nochmal zum CSD Cottbus auf Besuch vorbei und sind dann wieder weg.“ Die Community vor Ort bleibt dadurch zwangsläufig klein, ist schwach aufgestellt und kann entsprechend wenig bieten. Ein Teufelskreis.

Das gilt auch für die HIV-Versorgung. Weil ein großer Teil der Menschen mit HIV sich für ihre Behandlung nach Berlin orientieren, ist es für regionale Krankenhäuser nicht lukrativ, sich für die wenigen verbleibenden Patient_innen stärker in der HIV-Medizin zu engagieren.

Die Folge: Selbst Basiswissen kann nicht vorausgesetzt werden. Als sich ein junger Mann nach einem „Sexunfall“ und möglichem Infektionsrisiko in einer Klinik meldet und um eine Post-Expositionsprophylaxe bittet, ist man dort fachlich überfordert. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als noch mitten in der Nacht in ein Berliner Krankenhaus zu fahren.

Selbst Basiswissen zu HIV kann nicht vorausgesetzt werden

In der Potsdamer Aidshilfe ist man deshalb froh, mit der HIV-Ambulanz im Klinikum Ernst von Bergmann eine kompetente Versorgung vor Ort zu haben.

Doch auch über die medizinische Betreuung durch HIV-Spezialist_innen hinaus haben HIV-Patient_innen Redebedarf. Hausärzt_innen spielen dabei eine wichtige Rolle. „Da ist in Brandenburg noch viel Aufklärung zu leisten“, sagt Sabine Frank.

Der Sozialarbeiterin bei der AIDS-Hilfe Potsdam wurden im Laufe der Zeit immer wieder Fälle von deutlicher Ablehnung, von Ressentiments und Diskriminierung von Homosexuellen oder Menschen mit HIV im Gesundheitswesen geschildert. Besonders häufig, sagt sie, beträfe das Besuche bei Zahnärzt_innen. „Wir haben solche Fälle auch schon an die Diskriminierungsstelle der Deutschen Aidshilfe gemeldet und in der direkten Zusammenarbeit auch immer etwas erreicht.“

Direkte Gespräche bringen oft Veränderung

Oftmals genüge es, Kontakt zu der betreffenden Praxis aufzunehmen, das direkte Gespräch zu suchen und Informationen über den aktuellen medizinischen Stand zu HIV zukommen zu lassen. „In der Regel bemerke ich bei den Ärzten eine große Einsicht“, sagt Sabine Frank.

Für sie sei das ein Beweis dafür, dass mit Gesprächen wie auch mit Kampagnen Veränderungen erzielt werden können: „Diese Hoffnung darf man nicht aufgeben.“ Als Beispiel nennt sie den aktuellen Fall eines aus Afrika stammenden Mannes, der schon zwei Jahre mit HIV lebt und sich sehr krank fühlte. Sein Hausarzt allerdings hielt eine HIV-Therapie noch nicht für angebracht.

„In der Regel bemerke ich bei den Ärzten eine große Einsicht“

„Zum Glück meldete sich der betroffene Patient bei uns in der Aidshilfe. Wir haben ihm ganz schnell einen Termin im Klinikum bei einem HIV-Spezialisten besorgt und den Kontakt zum Hausarzt gesucht, um ihn über die aktuellen Leitlinien zur HIV-Behandlung aufzuklären.“

Laut Sabine Frank käme Allgemeinmediziner_innen in Brandenburg eine besonders wichtige Rolle bei der HIV-Diagnose zu. „In den Arztpraxen werden weitaus mehr Infektionen diagnostiziert als in Beratungs- und Teststellen.“

Die „Initiative Brandenburg – Gemeinsam gegen Aids“, bei der verschiedene Akteur__innen im Bereich Prävention, Beratung und Gesundheitsversorgung aktiv sind, versucht daher, Ärzt_innen dafür zu sensibilisieren, welche Symptome oder Indikatoren auf eine HIV-Infektion hindeuten können und wann ein Test angebracht ist.

Der HIV-Test wird landesweit kostenlos angeboten

Die AIDS-Hilfe Potsdam veranstaltet zudem regelmäßig den von der Deutschen Aidshilfe mitentwickelten Workshop „Let’s Talk About Sex“, ein Kommunikationstraining für Arzt_innen zu den Themen Sexualität, HIV und Geschlechtskrankheiten. Eine Postkarte fürs Wartezimmer informiert über alle anonymen Teststellen in Brandenburg. Um die Hemmschwelle so niedrig wie möglich zu halten, wird der HIV-Test landesweit kostenlos angeboten.

Dennoch weichen so manche lieber auf Testangebote in Berlin aus und lassen sich bei einem positiven Ergebnis dann auch dort behandeln.

Dass Menschen mit HIV ihren Wohnsitz in Brandenburg haben, aber die Gesundheitsversorgung in Berlin in Anspruch nehmen, ist für die Berater_innen in den Aidshilfen beider Bundesländer bisweilen eine besondere Herausforderung.

„Der Behördenwirrwarr, der dadurch entsteht, ist nicht immer einfach zu lösen“, sagt Sabine Frank von der AIDS-Hilfe Potsdam. Mittlerweile hat sie aber enge Arbeitskontakte mit vielen relevanten Einrichtungen in Berlin aufgebaut. So vermittelt die Berliner Aids-Hilfe beispielsweise den direkten Kontakt zu ihren Potsdamer Kolleg_innen, wenn Brandenburger_innen sich zunächst in Berlin melden.

Weil Arztbesuche in Berlin für viele Brandenburger_innen zeitlich nur schwer einzurichten sind, bietet Roland Grimm für Patient_innen wie Karsten auch individuelle Termine außerhalb der regulären Sprechzeiten an. Ines Liebold öffnet regelmäßig auch samstags ihre Praxis.

Doch langfristig sollte sich auch die Gesamtsituation in Brandenburg verbessern. Ein erster wichtiger Schritt ist hierfür sicherlich die Vernetzung unter dem Dach der „Initiative Brandenburg – Gemeinsam gegen Aids“.

Eklatante Unterfinanzierung

Aufklärung in Sachen HIV, Empowerment von Menschen mit HIV und Männern, die Sex mit Männern haben, wie auch die dringend notwendige Fortbildung zu HIV im Gesundheitswesen – all das, sagt Christian Müller von der AIDS-Hilfe Niederlausitz, könne nur gelingen, „wenn man diese Themen immer und immer wieder in die Öffentlichkeit transportiert“. Dazu müssten Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft gleichermaßen aktiviert werden und an einem Strang ziehen.

Es braucht intensive Lobbyarbeit und öffentlichen Druck auf die neue Landesregierung

„Das ist ein langwieriger Prozess, und wir merken als Aidshilfe, dass dies mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln kaum zu schaffen ist.“ Die AIDS-Hilfe Niederlausitz verfügt derzeit über lediglich eine halbe Stelle und ein Jahresbudget von 50.0000 Euro. Auch die beiden anderen Brandenburger HIV-Präventions- und Beratungseinrichtungen – die AIDS-Hilfe Potsdam und die LGBT-Arbeitsgemeinschaft Katte e.V. ­– sind unterfinanziert.

Damit das nicht so bleibt, wird es intensive Lobbyarbeit und öffentlichen Druck auf die neue Landesregierung brauchen. Angesichts der vermutlich dramatisch veränderten politischen Gesamtsituation nach der Landtagswahl am 1. September wird das keine leichte Aufgabe sein.

Umso wichtiger dürfte da die tatkräftige Unterstützung der Brandenburger Akteur_innen in Sachen HIV, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sowie Anti-Rassismus durch die Berliner Kolleg_innen, Mitstreiter_innen und die Community werden.

*Name von der Redaktion geändert

Die HIV-Versorgung in Brandenburg ist am Freitag, dem 30.8.2019, auch Thema auf dem Kongress „HIV im Dialog“, 14:45–16:15 Uhr im Herrmann-Waesemann-Saal, Rotes Rathaus Berlin.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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