Einige Politiker_innen der Großen Koalition fordern die Abkehr von der bisherigen Sexarbeit-Politik. Deutschland solle das sogenannte „Nordische Modell“ einführen und damit den Kauf sexueller Dienstleistungen verbieten. Was hinter diesem Modell steckt und warum es keine gute Idee ist, erfahren Sie in diesem Artikel.
Von Eléonore Willems (Mitarbeiterin der Deutschen Aidshilfe)

Obwohl Prostitution¹ grenzüberschreitend stattfindet, lassen sich die Staaten selbst innerhalb der Europäischen Union zum Teil sehr unterschiedliche Modelle einfallen, um damit umzugehen. Dabei lässt sich grob in vier Regulierungsmodelle unterteilen.

Prohibitionismus – welcher in Osteuropa sehr verbreitet ist – kriminalisiert Sexarbeiter_innen. Wer in diesen Ländern sexuelle Dienstleistungen für Geld anbietet, riskiert Geld- oder gar Haftstrafen. Diese Kriminalisierung wird meistens mit konservativen Wertvorstellungen gerechtfertigt.

Ein weiteres Modell heißt „Laissez-faire“. In vielen Ländern – darunter Belgien, Spanien und Polen – ist Prostitution weder legal noch illegal. Vielmehr ignoriert die Gesetzgebung Sexarbeit und Sexarbeiter_innen gänzlich.

Selbst innerhalb der EU haben die Länder unterschiedliche Modelle, um Sexarbeit staatlich zu regulieren

Anders ist es in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden. In diesen Ländern herrscht bezüglich Prostitution „Reglementarismus“: Prostitution ist dort legal und der Staat sieht es als seine Aufgabe, dieses Geschäft zu regulieren. Nicht selten tut er dies aber durch Maßnahmen, die die Ausübung von Sexarbeit in der Praxis erschweren – das Prostituiertenschutzgesetz ist ein gutes Beispiel dafür.

Nun haben jedoch mehrere hochrangige Frauen der SPD und der CDU/CSU den Wunsch geäußert, dass Deutschland auf ein anderes Modell umsteigt: die Freierbestrafung nach dem sogenannten „Nordischen Modell“. Mit dieser politischen Forderung sind sie nicht allein: Die Europäische Union hat ihren Mitgliedstaaten 2014 in einer nicht bindenden Resolution offiziell die Einführung des „Nordischen Modells“ empfohlen und bereits 2016 hat Frankreich den Schritt gewagt.

Wie sieht die Regulierung der Prostitution in diesen Ländern aus?

Wer das „Nordische Modell“ verstehen will, sollte sich dessen Entstehungsgeschichte im Geburtsland Schweden vor Augen führen. Dort wurde das Gesetz, das die Kunden der Sexarbeit bestraft, bereits 1999 eingeführt und fügte sich sehr gut in die gesamte schwedische Sexualpolitik ein. Diese gehört nämlich zu den strengsten in Europa, wie diese lesenswerte kulturhistorische Rekonstruktion des Gesetzes zeigt.

Im Artikel wird daran erinnert, dass Schweden das einzige europäische Land ist, das in den Anfangsjahren der Aids-Epidemie durch ein nationales Gesetz schwule Saunen abschaffte. Schweden ist auch eines der wenigen Länder auf der Welt, in dem Menschen mit HIV per Gesetz dazu verpflichtet sind, ihre Sexualpartner_innen über ihre Infektion zu informieren (auch bei Oralsex).

Abolitionistische Gesetze werden mit der Vorstellung von einer „normalen“ Sexualität begründet

Begründet werden all diese Gesetze allerdings nicht durch moralische Prüderie oder religiösen Konservatismus, sondern durch eine Vorstellung der „normalen“ Sexualität. Danach muss Sex in Liebe und Zweisamkeit eingebunden sein – alles andere ist krank und Ausdruck von Unterdrückung. Prostitution wird als eine Verletzung der Menschenwürde und allem voran als männliche Gewalt an Frauen dargestellt.

Folglich ist die Abschaffung von Prostitution unabdingbar, um eine geschlechtergerechte Gesellschaft zu schaffen. Da die „Prostituierten“ Opfer seien, müssten nicht sie sondern ihre Kunden bestraft werden, denn – so der abolitionistische Ansatz [Anm. d. Red.: Abolitionismus – Forderung nach der kompletten Abschaffung von Sexarbeit] – „without men’s demand for and use of women and girls for sexual exploitation, the global prostitution industry would not be able to flourish and expand“ [Anm. d. Red.: „Ohne die Nachfrage nach und Ausnutzen von Frauen und Mädchen für sexuelle Ausbeutung durch Männer, würde die globale Prostitutionsindustrie nicht florieren und wachsen.“] (aus einem offiziellen Bericht über das 1999er Gesetz). Den Kunden sexueller Dienstleistungen in Schweden, aber auch bspw. in Irland, Norwegen und Frankreich droht eine Geld- bzw. Haftstrafe.

Existentielle Bedrohung für Sexarbeiter_innen durch abolitionistische Gesetze

Was in der Sexarbeitslandschaft eines Landes passiert, wenn ein abolitionistisches Gesetz nach nordischem Modell eingeführt wird, geht aus einer von Médecins du Monde veröffentlichten empirischen Studie hervor. Diese untersuchte die Auswirkungen des 2016 in Frankreich in Kraft getretenen Gesetzes. In erster Linie berichten die Sexarbeiter_innen, dass sie sich massiv geschwächt sehen. „Stark fühle ich mich nicht – ganz im Gegenteil. Das Gesetz hat mich komplett herabgesetzt, weil ich dem Kunden hinterherrenne, damit er akzeptiert. Früher hatte ich eigentlich die Wahl. Der Kunde kam und ich schlug meinen Preis vor, ganz normal. Nun ist er derjenige, der die Preise festlegt und auch derjenige, der über die Orte entscheidet.“. Was dieser befragte Sexarbeiter beschreibt, ist eine deutliche Verschlechterung des Machtverhältnisses zwischen Sexarbeiter_innen und ihren Kunden.

Die Position von Sexarbeiter_innen ist deutlich verschlechtert

Dafür liegen zwei Erklärungen auf der Hand: Durch die Freierbestrafung ist die Nachfrage an sexuellen Dienstleistungen stark gesunken, was sich wiederum in Einkommenseinbußen bei den Sexarbeiter_innen niederschlägt. Sie müssen für das gleiche Einkommen mehr arbeiten als zuvor. Außerdem riskieren die Kunden, die trotz des Verbots Sexarbeiter_innen aufsuchen, strafrechtliche Konsequenzen – das verschafft ihnen ein Druckmittel.

All das schwächt die Position der Sexarbeiter_innen und bringt für sie enorme Nachteile mit sich: Die Preise der Dienstleistungen sinken, die Sicherheit (Sexarbeit findet in mehr isolierten Orten statt) ist gefährdet und auch im Bereich Gesundheit gibt es Rückschläge. So ist Kondombenutzung für manche Sexarbeiter_innen seit Einführung des Gesetzes wieder etwas geworden, worüber sie verhandeln müssen. Auch das erschwerte Erreichen von Sexarbeiter_innen durch Street Work-Maßnahmen von Beratungsstellen stellt eine Gefährdung der Gesundheit von Sexarbeiter_innen dar.

Staatliche Repressionen statt effektiver Schutz

Außerdem wollte das Gesetz durch das Sexkaufverbot die Sexarbeiter_innen strafrechtlich entlasten – doch die Praxis sieht ganz anders aus. „Die Sexarbeiter_innen werden weiterhin von der Polizei belästigt und mehr bestraft als die Kunden.“, heißt es in einer von 11 NGOs unterzeichneten Pressemitteilung zum dreijährigen Jubiläum des Gesetzes in Frankreich.

Repression von Sexarbeiter_innen finden insbesondere in Form von Sexarbeitsverboten statt, die manche Städte erlassen. Außerdem nutzt die Polizei sehr oft die Festnahme der Kunden als Anlass dafür, auch Identitätskontrollen bei den Sexarbeiter_innen durchzuführen.

Migrantische Sexarbeiter_innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus sind verstärkt von Abschiebung bedroht

Allem voran für Migrant_innen bringt das „Nordische Modell“ schlechte Auswirkungen mit sich. Das bestätigt eine Auswertung der Umsetzung des Nordischen Modells in Schweden, Finnland und Norwegen. Die Autorin stellt fest, dass bei der Regulierung der Prostitution das eigentliche Gesetz eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr hat sich der Effekt hin zu strafrechtlichen Maßnahmen gegenüber Migrant_innen verlagert. „Nationals are targeted with social welfare policies promoting exit from commercial sex (…) whereas foreigners are excluded from state services and dealt through punitive measures like deportation and eviction.“ [Anm. d. Red.: „Staatsangehörige werden mit Sozialhilfeangeboten, die zum Ausstieg aus kommerziellem Sex aufrufen, angesprochen (…) während Ausländer_innen aus staatlichen Angeboten ausgeschlossen werden und Strafmaßnahmen wie Abschiebung und Ausweisung ausgesetzt sind.“]

Das deutsche Prostituiertenschutzgesetz ist zwar in vielerlei Hinsicht kritisierbar. Es beruht allerdings auf einem unverhandelbaren Prinzip: Sexarbeit ist legal. Die Einführung des Nordischen Modells würde Sexarbeit demnach in die Illegalität drängen. Damit Sexarbeit nicht zum Objekt der Kriminalisierung wird wie es Homosexualität unter dem Paragrafen 175 war: Finger weg vom Nordischen Modell!

Gemeinsames Positionspapier der Deutschen Aidshilfe und weiterer Fachverbände und -beratungsstellen: „Sexkaufverbot verhindern“


¹ Oft nutzt die Autorin nicht die Begriffe „Sexarbeit“ und „Sexarbeiter_innen“, sondern „Prostitution“ und „Prosituierte“. Das ist in keiner Weise Ausdruck einer Wertung, sondern beruht auf der Wiedergabe von Gesetzestexten und Aussagen.

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