In Bischkek wollen drogengebrauchende Haftentlassene, viele HIV-positiv, mit einer Erdbeerfarm ihren Lebensunterhalt verdienen. Das Selbsthilfeprojekt Ranar ist auch ein Signal gegen Stigmatisierung.

Von Benedict Wermter

„Ehemalige Gefangene haben in unserer Gesellschaft null Chancen“, sagt Sergej B. Der 42-Jährige liegt auf einer Pritsche in einem Haus in Kirgistan. Er hat stoppelige Haare, weiße Kopfhörer führen von seinen Ohren in sein Smartphone. Immer wieder lächelt Sergej selbstbewusst in die Kamera, während wir per Skype miteinander sprechen.

„Ehemalige Gefangene haben in der kirgisischen Gesellschaft null Chancen“

Null Chancen, weil Ex-Häftlinge fast immer mit Heroin zu tun haben oder hatten. Und weil Heroinkonsum in Kirgistan häufig mit HIV einhergeht. Zudem leiden viele Gefangene und Entlassene an Tuberkulose, manchmal sogar an einer offenen, ansteckenden. „Für uns bedeutet Knast eben nicht nur massive gesundheitliche Probleme, sondern auch ein riesiges Stigma“, sagt Sergej.

Hinzu kommt, dass der kirgisische Staat für Drogengebrauchende und ehemalige Inhaftierte so gut wie gar keine Unterstützung vorsieht. Wer also frisch aus dem Knast kommt, landet direkt auf der Straße, fängt wieder an zu konsumieren, landet erneut im Knast. „Manche Gefangene begehen in der kalten Jahreszeit sogar absichtlich Straftaten, weil das Gefängnis ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit garantiert“, erzählt Sergej.

Drogenselbsthilfeprojekt Ranar: Hilfe für Ex-Häftlinge

Sergej B. weiß, wovon er spricht. Er ist die treibende Kraft hinter „Ranar“, einer Anlaufstelle für drogengebrauchende Ex-Häftlinge im von Armut geplagten Ex-Sowjetstaat Kirgistan. Ranar steht für „Reha und Nachsorge für Drogenabhängige“ – ehemalige Häftlinge, die meisten von ihnen HIV-positiv. Sergej hat die Selbsthilfegruppe 2012 in einen Verein überführt, der seinen Sitz in einem Haus in der Hauptstadt Bischkek hat.

Ranar gibt Haftentlassenen und Drogengebrauchenden eine Stimme

Ranars Ziel ist es, die Klienten beim gesellschaftlichen Neustart zu unterstützen. Dabei geht es nicht nur darum, sie in Lohn und Brot zu bringen. „Wir wollen auch Selbstbewusstsein in der Szene schaffen, um danach mit staatlichen Akteuren in Kontakt treten zu können. So wollen wir insgesamt etwas bewegen“, erklärt Sergej.

Haftentlassene und Drogengebrauchende wüssten oft nicht, dass sie eine Funktion in der Gesellschaft einnehmen können. Dass sie eine Stimme haben. „Ohne uns gibt es hier keinen Fortschritt“, sagt Sergej.

Neustart mit Erdbeeren

Doch wie sieht der Neustart bei Ranar aus?

Sergejs Antwort: eine Erdbeerfarm auf einem Nachbargrundstück. Hier wollen die Ex-Häftlinge einen Gartenbaubetrieb aufbauen, der ihnen ein Einkommen garantiert und zugleich zeigt, dass eine Reintegration nach Haft möglich ist.

Aufgesetzt hat Sergej das Projekt gemeinsam mit Ludger Schmidt vom Bereich Internationales der Deutschen Aidshilfe (DAH). „Die Kontakte bestehen seit einigen Jahren“, sagt Schmidt, „es gab schon einmal eine enge Zusammenarbeit bei der Produktion von Lernmaterialien im Bereich Harm Reduction.“

Unterstützung aus dem Entwicklungsministerium

Und die DAH ist drangeblieben, hat sich immer wieder nach Finanzierungsmöglichkeiten für Ranar umgeschaut. „Schließlich kamen wir auf einen Fördertopf des Entwicklungsministeriums für Kleinprojekte. Wir haben Sergej vorgeschlagen, dort ein Projekt einzureichen, wenn er eine sinnvolle Idee hat“, sagt Schmidt.

„Ranar ist echte Selbsthilfe von drogengebrauchenden Haftentlassenen“

Sergej hatte eine Idee – Erdbeeren für die Gastronomie. Mittlerweile sind die Gelder für Grundstück und Gewächshäuser bewilligt, ein Nachbargrundstück soll hinzugekauft werden. Jetzt müssen nur noch Formalien geregelt werden.

Schmidt ist froh, Ranar unterstützen zu können. „Ranar ist echte Selbsthilfe von drogengebrauchenden Haftentlassenen“, sagt er. Im Vergleich mit anderen Nichtregierungsorganisationen sei es für das Projekt aber sehr schwierig, finanzielle Unterstützung zu bekommen. Und zwar nicht nur, weil sich kaum jemand mit den haftentlassenen Drogengebrauchern solidarisch zeigen möchte, sondern auch, weil sie durch ihre Situation kaum Kompetenzen mitbrächten, um an Fördertöpfe zu kommen.

Eigene Einnahmen statt Spenden oder Arbeit als Tagelöhner

Spätestens im kommenden Jahr wollen Sergej B. und seine Kollegen die ersten Erdbeerpflanzen in die Erde setzen.

Bisher ist Ranar auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Und die zehn bis 15 Klienten, die jeweils in dem Haus in Bischkek unterkommen, müssen sich als Tagelöhner verdingen, bis sie den Sprung in die Unabhängigkeit schaffen. Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft gibt es durchaus, sagt Sergej, doch nicht immer gibt es Arbeit.

Und so ist es ein langer Weg für die ehemaligen Gefangenen, bis sie genügend Geld gespart haben, um vielleicht irgendwo mit zwei, drei Kollegen ein eigenes Zimmer außerhalb von Ranar zu mieten – wenn sie denn den Absprung überhaupt schaffen.

Landwirtschaft als Therapie und als Weg in ein Leben ohne Drogen

Eine Erdbeerfarm für Ex-Häftlinge also. Ist das nicht irgendwie schräg?

„Nein“, sagt Sergej, „Kirgistan ist seit der Sowjetunion landwirtschaftlich geprägt, viele Gefangene haben vor ihrer Haft Arbeitserfahrung vor allem im Ackerbau gesammelt.“ Einige der Ranar-Klienten wurden auch während ihrer Haft auf Feldern und Äckern eingesetzt – Zwangsarbeit, die die DAH verhindern will.

Erdbeeren seien naheliegend, weil sie regional nachgefragt würden – ein Nischenprodukt, ist Sergej überzeugt. Gurken und Tomaten eigneten sich dagegen weniger, weil Kirgistan hier schon mit Nachbarländern wie Usbekistan konkurriere.

Kirgistan ist seit der Sowjetunion landwirtschaftlich geprägt

Auch in Deutschland gibt es übrigens ähnliche Projekte, allerdings hinter Gittern und um Gefangene auszubilden oder durch den Umgang mit Pflanzen und Tieren zu therapieren.

Im niedersächsischen Lingen etwa haben seit vergangenem dem Jahr 2016 rund 40 Gefangene eine Imker-Ausbildung gemacht, in der benachbarten JVA in Celle wurden 2019 laut Medienberichten ebenfalls zwei Bienenstöcke aufgestellt, und in der JVA Zeithain in Sachsen grasen Schafe auf dem Rasen, im Garten züchten Gefangene essbare Schnecken, und es gibt dort ebenfalls ein Bienenvolk. Die Inhaftierten bauen außerdem Chili, Kartoffeln und auch Erdbeeren an. Die Arbeit auf der Farm ist Teil einer Drogentherapie, bei der laut Leitung des arbeitstherapeutischen Betriebs gegenüber dem Medium „Tag24“ die Gefangenen zurück in alltägliche Strukturen geführt werden sollen.

Erdbeeren statt Haft und Heroin wäre für Sergej aber keine Therapie, sondern ein weiterer Durchbruch mit „Ranar“, nachdem die Organisation ihm einst den Weg in ein drogenfreies Leben ermöglichte.

Reha auf Eigeninitiative und Community-Basis

Er erzählt, wie das Land während des Tschetschenien-Kriegs im Jahr 1999 mit Heroin geflutet wurde. „Es gab viel Transit aus Afghanistan in Richtung Russland. In der Nähe meiner Wohnung haben Tschetschenen Heroin verkauft. Meine Freunde und ich haben es anfangs vor allem geraucht und durch die Nase gezogen – und uns gar nicht als Drogengebrauchende verstanden.“ Als Junkies, sagt Sergej, galten damals nur diejenigen, die Opium spritzten. Heroin dagegen war in Mode.

Doch schon wenig später bildete sich Ranar als erste Selbsthilfe-Organisation in Kirgistan. „Es haben sich sehr schnell viele Leute um uns versammelt“, erzählt Sergej. Auf Eigeninitiative und Community-Basis eine Reha durchzuführen, sei damals die einzige Möglichkeit gewesen, um vom Heroin loszukommen.

„Ranar ist mein Leben“

Sergej war innerhalb von zwei Jahren drei Mal bei Ranar, begann einen Entzug, wurde nach seiner Zeit bei Ranar rückfällig. Er war neun Monate auf Heroin, begann wieder einen Entzug, bis er im Jahr 2007 schließlich clean wurde.

Und so wie Sergej selbst Unterstützung bei Ranar fand und heute mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in der Einrichtung lebt, will er als Leiter heute mit der Erdbeerfarm Ex-Häftlingen stärken, ihnen eine Perspektive bieten und zu Solidarität gegen Stigmatisierung von Drogengebrauchenden in Kirgistan beitragen. „Ranar ist mein Leben“, sagt Sergej.

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Über

Benedict Wermter

Benedict Wermter ist freier Autor und Rechercheur aus dem Ruhrgebiet und schreibt gerne Reportagen. Für das Magazin der Deutschen Aidshilfe beschäftigt er sich unter anderem mit der Drogenpolitik hierzulande.

(Foto: Paulina Hildesheim)

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