„Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“: Das neue Buch des DAH-Ehrenmitglieds Rita Süssmuth ist gleichermaßen die Quintessenz ihres politischen Denkens und eine Aufforderung zum Handeln

Gerade einmal einhundert großzügig bedruckte Seiten umfasst dieser Band, der ursprünglich nur fünf Leser*innen haben sollte. Denn am Anfang stand ein Brief, den Rita Süssmuth ihren Enkel*innen geschrieben hat.

Sie sollten erfahren, was ihrer Großmutter im Leben wichtig war, wofür sie sich eingesetzt und oft auch mit großer Leidenschaft gekämpft hat. Es ist dies also ein sehr persönlicher, aber keineswegs privater Text.

Aus einem Brief wurde ein Buch

Rita Süssmuth, die für ihre Partei, die CDU, immer wieder unbequeme, weil weltoffene Politikerin, hat dazu ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus gesellschaftlichen wie politischen Debatten vieler Jahrzehnte in klare Sentenzen verdichtet. Kaum eine Seite in „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“, so der Titel dieses zum Buch erweiterten Briefs, auf der man nicht einzelne Sätze oder ganze Absätze mit dem Bleistift anstreichen möchte.

Dabei hat dieser Brief der inzwischen 83-Jährigen an die nachgekommenen Generationen nichts Oberlehrerhaftes oder Besserwisserisches. Im Gegenteil: Rita Süssmuth ermutigt zum widerständigen Denken, zur Kritik und zum Diskurs.

Rita Süssmuth ermutigt zum widerständigen Denken und Diskurs

Das Wörtchen „Dennoch“, schreibt Süssmuth, sei zum Motto ihres Lebens geworden. „Dennoch“, das steht für das „mutige Anderssein“, für eine konstruktive, auf Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Auseinandersetzung.

„Als Ministerin für Frauen, Familie und Gesundheit, die sich beim Thema Aids gegen alle Versuche der Ausgrenzung und gegen die Gefahr der Hysterie wandte, brauchte ich dieses Dennoch mehr als zuvor, um gegen unmenschliche Ausgrenzungen Position zu beziehen“, erinnert sich Süssmuth.

Für ihren unermüdlichen Kampf für Prävention statt Repression wurde die Politikerin 2016 bei ihrer Ernennung zum DAH-Ehrenmitglied deshalb auch frenetisch und von Herzen gefeiert – von Menschen der verschiedensten Generationen.

Rita Süssmuth war nicht nur die entscheidende politische Person, die in den Achtzigerjahren mit Weitsicht und Klugheit Deutschland Wege aus der Aidskrise ermöglichte. Sie leitete später nach ihrer Zeit als Bundestagspräsidentin auch eine überparteiliche Kommission zur Zuwanderungspolitik.

„Ich habe oft in meinen Ämtern kämpfen müssen, weil ich an die Möglichkeit der Veränderung glaube, die in Menschen steckt“

Es wundert also nicht, dass Rita Süssmuth in ihrem Brief an die Enkel*innen sich immer wieder mit Verve für eine offene Gesellschaft ausspricht und vor dem Egoismus des Raubtierkapitalismus wie vor den „Rattenfängern“ des Populismus, warnt. Wir sollten aufhören, Flüchtlinge als Problem und Konflikt zu sehen, so ihr Rat – „und stattdessen lieber gemeinsam mit ihnen Chancen für die Integration suchen.“

Sie selbst hat diese Haltung immer wieder auch zu ihrer eigenen politischen Maxime gemacht: „Ich habe oft in meinen Ämtern kämpfen müssen, weil ich nicht zuerst das Defizit, sondern das Potenzial sehen wollte, weil ich an die Möglichkeit der Veränderung glaube, die in Menschen steckt“. Ganz egal, schreibt Süssmuth, „ob es um die Frage der Chancengleichheit für Frauen oder Aids-Aufklärung ging – mein Ansatz suchte stets das Positive.“

Gesellschaftliche Bedrohungen und Ängste beantwortet Süssmuth daher auch nicht mit Resignation, sondern mit „Kraft und Wagnis“. Freiheit, Frieden, Verantwortung und Mitmenschlichkeit seien in dieser Welt leider nicht selbstverständlich. „Der demokratische Staat macht nichts oder wenig ohne seine Bürger.“

Haltung zeigen, Verantwortung übernehmen

Sie ermutigt deshalb nicht nur zum kritischen Denken, sondern auch zum Widerspruch. Vor allem aber ruft sie dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. „Gebt euch zu erkennen!“, fordert sie die jungen Menschen auf, und meinst das durchaus auch sehr wörtlich. Nicht nur konkret Haltung zu zeigen, Persönlichkeit zu entwickeln, sondern sich zudem nicht hinter Scheinidentitäten oder Fake-Accounts zu verstecken, wie sie die digitale Welt bietet.

Es sei freilich bequem, sich ohne Nachdenken einer Mehrheitsmeinung anzuschließen. Für Süssmuth aber ist das selbstverständlich der falsche Weg: „Seid nicht Herde, seid nicht Leithammel … Seid Menschen mit Herz und Verstand, die ihre Autarkie bewahren oder zumindest trotz allem immer weiter daran arbeiten.“ Und wo Unrecht geschieht, Menschen ausgegrenzt und Hass sich ungehindert ausbreiten kann, sind alle in der Pflicht.

„Wer schweigt, wird irgendwann von den Krakelern übertönt“

„Wer schweigt, wird irgendwann von den Krakelern übertönt.“ Und weiter: „Wer schweigt, stimmt zu. Daher muss die schweigende Mehrheit endlich erkennen, dass sie den Mund aufmachen muss, sonst wird sie stummer Zeuge der Zerstörung dieser Demokratie sein.“

Um diese Welt nicht den „Blendern, Machtversessenen und Zynikern“ zu überlassen, braucht es etwas Engagement, Courage und Willen. In dieser Hinsicht ist Rita Süssmuths Enkelbrief ein im besten Sinne empowerndes und ermutigendes Buch.

Rita Süssmuth: „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen. Ein Brief an die Enkel“. Verlag Bene!, 112 Seiten, 12 Euro.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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