„Ich glaube, da ist jemand, den ich gut finde“, sagt Max. Ich nicke und lasse ihn allein. – Wir haben einen Cruising-Ort besucht, wo Schwule abseits von Dating-Apps unkomplizierten Sex haben.

Bei Schwulen dreht sich alles um Sex. Besagt zumindest ein beliebtes Klischee. Nun ist es unmöglich, allgemeingültige Aussagen über eine Community zu machen. Aber es ist nicht abzustreiten, dass dieses Klischee zumindest ein bisschen Wahrheit birgt: Ein Darkroom ist auf vielen Schwulenpartys zu finden, in Schwulensaunen wird nicht nur in der Kabine geschwitzt, und Parks, Toiletten oder Parkplätze werden beim Cruising zweckentfremdet.

Anonymer Sex hat bei Schwulen Tradition und war lange Zeit notwendig, um staatlicher Verfolgung zu entgehen. Homosexualität war in in Österreich bis 1971 verboten, homosexuelle Handlungen wurden strafrechtlich verfolgt. Sex unter Männern konnte einen ins Gefängnis oder noch früher, im Nationalsozialismus, sogar ins KZ bringen. Es gab also über einen langen Zeitraum wenige Möglichkeiten für schwule Menschen, einen Partner zu finden. Deshalb haben sich öffentliche Orte für die Suche nach Sex etabliert.

Foto: Marie Häfner

Mittlerweile ist das anders, zum Glück. Heute ermöglichen Apps es, sich bequem Sexdates zu organisieren, ohne wie in früheren Zeiten stundenlang im Wald herumzustehen. Das hätte das Ende des Cruisings bedeuten können. Tut es aber nicht. Schwule Männer cruisen noch immer. Aber wieso?

Ich schreibe Max. Wir sind Freunde und ich weiß, dass er cruist. Max heißt eigentlich anders. Nach längerem Überlegen entscheidet er sich, dass er seinen Namen hier nicht nennen will. Er ist 29 und in einer offenen Beziehung. Als er antwortet, ist er gerade auf dem Weg zu einem Crusing-Treffpunkt auf der Donauinsel in Wien. Zufall. Er schickt mir seinen Standort und ich mache mich auf den Weg zu ihm.

Es ist Freitag, 12 Uhr mittags. Wir treffen uns neben dem Fluss. Max liegt nackt auf einer Wiese, die etwas erhöht liegt, sonnt sich. Dahinter erstreckt sich der Wald, aus dem gerade ein korpulenter Mann heraustritt. Auch er ist nackt, um sein Glied trägt er einen Penisring. Um uns herum liegen noch etwa 20 weitere Männer, alle unbekleidet.

Außer mir ist nur ein Mann angezogen, er kommt von der Aidshilfe und verteilt Kondome. Er reicht uns zwei Packungen.

Foto: Marie Häfner

Max kommt im Sommer gerne hier her. Er geht baden, und wenn er Lust hat und jemanden sieht, den er gut findet, verschwindet er mit ihm im Wald. Ob er Cruising den Datingapps vorzieht? Er nickt. „Sex entsteht meiner Meinung nach oft mit der richtigen Stimmung und aus der Dramaturgie, die einer bestimmten Logik folgt.“ Da kann es auch vorkommen, dass sich etwas mit jemandem entwickelt, der vielleicht nicht seinem bevorzugten Typ entspricht. „Das würde bei Grindr nie passieren.“

Das hier ist ein Raum ohne Konventionen, in dem man sich die Regeln selbst macht.

Neben uns räkeln sich zwei nackte Männer aufeinander, küssen sich. Beide haben eine Erektion. „Das hier ist ein Raum ohne Konventionen, in dem man sich die Regeln selbst macht“, sagt Max. Dass jeden Moment jemand vorbei spazieren könnte, interessiert hier niemanden. Im Gegenteil. So ist es ja gedacht.

Gemeinsam mit Max gehe ich in den Wald. Er zeigt mir die Wege, die Einbuchtungen und Verwinkelungen. Die Bäume, an denen wir vorbeilaufen, erinnern mich an Labyrinthe in einem Darkroom. Es scheint fast so, als ob sich der Wald über Jahrzehnte dem Sexverhalten schwuler Männer angepasst hätte. Immer wieder kommen uns Männer entgegen, mustern uns und versuchen, so ohne Worte herauszufinden, ob wir interessiert sind.

„Es ist fast schon lächerlich, aber niemand spricht beim Cruisen“, sagt Max. Bewegungen und Blicke verraten, ob jemand Interesse hat. „Miteinander zu sprechen, würde den Sex vielleicht zu persönlich machen“, vermutet er. Und im Unpersönlichen besteht ja gerade der Reiz.

Mitten auf dem Weg begegnen wir zwei Männern. Die Hosen hängen ihnen in den Kniekehlen, sie holen sich gegenseitig einen runter und schauen uns dabei an. Wir gehen weiter, müssen uns jedoch eng an ihnen vorbeiquetschen, weil sie den Weg versperren.

„Ist es okay, wenn du alleine wieder zurück zur Wiese gehst?“, fragt mich Max.

Ich schaue ihn fragend an.

„Ich glaube, da ist jemand, den ich gut finde“, sagt er.

Ich nicke und lasse ihn allein.

Foto: Marie Häfner

Der Historiker Andres Brunner ging früher selbst cruisen, heute leitet er das Zentrum für queere Geschichte in Wien und forscht unter anderem zu schwulem Sex. Polizeiliche Strafakten sind dabei seine Hauptquelle. „Die Hemmschwelle, in geheime schwule Lokale zu gehen, war für viele Männer zu groß“, sagt Brunner. Weil sich viele Männer selbst nicht als schwul identifizierten, hätten einige diese Lokale nicht besuchen wollen. „Deshalb entwickelten sich Cruising-Orte, weil sie anonym und nicht im Voraus definiert waren“, sagt Brunner. Niemand musste etwas preisgeben, weder den Namen noch die Identität, noch die Herkunft oder den sozialen Status. „Das gab den Männern Sicherheit, weil jedes Wissen im Verfolgungsfall gegen sie hätte verwendet werden können.“ Auch outen mussten sie sich so nicht.

Heute scheint das ganz anders zu sein. Die Apps und die Anonymität des Cruisens werden miteinander verbunden.

In Österreich ist Sex in der Öffentlichkeit grundsätzlich nicht verboten. Eingreifen müssen die Behörden nur, wenn sich andere Menschen davon belästigt fühlen. Das kann schonmal vorkommen, es wird nämlich auch schon mal mitten in der Stadt gecruist. Das kann dann als Ordnungswidrigkeit oder Erregung öffentlichen Ärgernisses gewertet werden. Dann drohtin Österreich laut § 218 StGB eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu einen halben Jahr. Die Wiener Polizei kenne die Orte, an denen gecruist wird, sagt Brunner. „Das ist den Behörden aber egal.“

Einige Tage später fahr ich in einen Wald etwas außerhalb Wiens, um noch mehr über Cruising zu erfahren. Der Wald liegt neben einer vielbefahrenen Straße. Auf einem Schwulen-Blog hatte ich gelesen, dass hier viele Männer aus dem daneben liegenden Bürokomplex in der Pause oder nach der Arbeit Sex suchen.

Überall wo ich hinschaue, liegen Kondompackungen und benutze Kondome auf dem Waldboden. Taschentücher und Feuchttücher verraten mir, wo es lang geht, ich folge ihnen, wie den Hinweisen einer Schnitzeljagd. Einige Männer kommen mir entgegen, offensichtlich suchend nach einem Partner. Ich beschleunige meine Schritte und biege auf andere Wege ab, sobald mir jemand zu nah kommt. Ich fühle mich unwohl alleine zwischen all den Bäumen.

Aber ich öffne Grindr. „Bist du cruisen?“, fragt jemand. Datingapps und Cruising scheinen sich offenbar zu ergänzen. Ich frage, ob er mir einige Fragen beantworten möchte. Er lehnt ab. Noch einmal laufe ich alle Wege ab, bis ich den Wald verlasse. Die Männer sind ganz offensichtlich nicht zum Reden hier.

Im Sommer sind viele dieser Orte gut besucht. Besonders beliebt waren früher öffentliche Toiletten, sogenannte Logen oder Klappen. Doch die gibt es kaum noch in Wien. Die wenigen übrig gebliebenen Plätze finde ich auf einem einem Blog. Zwei U-Bahn-Toiletten, eine bei der U3 im 7. Bezirk und eine beim Stephansplatz im 1. Bezirk. Doch als ich dort ankomme, stelle ich fest, dass beide U-Bahn-Stationen ihre öffentlichen Toiletten gerade zu kostenpflichtigen Sanifair-Toiletten umbauen lassen. Starke Verschmutzung und Vandalismus seien die Gründe dafür, warum sich „das Zeitalter der Gratis-Toiletten dem Ende zuneigt“, schreibt Die Presse. Ist es wirklich nur das? Schwules Anbahnen wird hier in Zukunft jedenfalls nicht mehr möglich sein.

Also besuche ich stattdessen Johannes, 29. Er ist groß, hat blonde Haare, ein Piercing in der Nase und geht im Sommer so regelmäßig cruisen wie andere ins Freibad.

Foto: Marie Häfner

„Grindr ist der Hauptgrund, weshalb ich seit anderthalb Jahren kein Smartphone mehr habe“, sagt er. „Ich habe zu viel Zeit damit verbracht, in der App zu schreiben, ohne wirklichen Kontakt mit Männern zu haben.“ Er möge es beim Cruising, ein Gefühl für die Männer zu bekommen, bevor er Sex mit ihnen hat, erklärt er. „Das ist auf Datingapps nicht möglich.“

Ich kann nachvollziehen, dass viele Männer von Grindr frustriert sind. Ich kenne das Gefühl. Man verbringt viel Zeit in der App, ohne sich wirklich mit jemandem zu treffen. Die Lust hält meistens nicht bis zu einem wirklichen Treffen an. Immer wieder habe ich die App deshalb schon gelöscht, nur um sie dann wieder herunterzuladen. So scheint es vielen zu gehen. Laut einer Zufriedenheitsstudie von 2018 gaben 77 Prozent der Nutzer an, dass Grindr sie unglücklich mache.

„Ich mag es, wie animalisch die Männer durch den Wald streifen und nach einem Sexpartner suchen“, sagt Johannes. Wieso das gerade unter schwulen Männern so verbreitet sei, frage ich ihn. „Wir vögeln alle gerne. Aber wenn man erst mal Außenseiter der Gesellschaft war, unterliegt man nicht mehr so vielen gesellschaftlichen Zwängen“, vermutet er.

Es ginge aber auch um den Nervenkitzel, weil es immer die Möglichkeit gebe, erwischt zu werden, sagt er. Beim Cruising ist die aktive Suche nach einem Sexpartner der aufregende Mittelpunkt. Die Apps, auf denen Männer sozusagen online cruisen und vor einem Date oft Dickpics und sexuelle Vorlieben austauschen, nehmen genau diese Aufregung. Und die scheint manchen zu fehlen.

Foto: Marie Häfner

Die Zeiten in denen Cruising eine Reaktion auf Unterdrückung war, sind vorbei. Das, was früher aufgrund von Gesetzen eine Notwendigkeit war, ist heute nur mehr eine Möglichkeit sich sexuell auszuleben. Und die hat scheinbar noch immer ihren Reiz. Ich kann das nachvollziehen. Sex scheint beim Cruisen eine ganz neue, eigene Dynamik zu bekommen. Obwohl ich nicht auf der Suche nach Sex war, konnte ich das spüren. Es ist erregend, durch den Wald zu streifen und auf die Signale der anderen Männern zu achten – spannender als alleine auf einem Handydisplay herumzutippen.

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Florian ist Putzmann im Sexclub – und liebt es

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