Unser Autor verband mit dem Umzug nach Berlin die Erfüllung eines Lebenstraums: ein mutiges Sexleben zu führen. Hier erzählt er, wie er Dinge ausprobiert hat, die in seiner süddeutschen Heimatstadt nicht möglich waren.

Kurz nach meiner Ankunft meinte ein Freund, ich müsse mir unbedingt einmal das Programm des Village ansehen. Das Village definiert sich selbst als ein Gemeinschaftszentrum in Berlin für schwule, bisexuelle, trans- und queere Männer. Ein Ort, an dem Begegnungen mit sich und anderen möglich sind in einer offenen und wertschätzenden Atmosphäre. Das Programm reicht von Yoga- und Mediationskursen über Filmabende bis hin zu vielen nicht-sexuellen, aber sehr körperbetonten Angeboten wie Massage oder einem Cuddle-Puddle.

Cuddle-Puddle – an diesem Wort bin ich hängen geblieben. Im Englischen steht „Cuddle“ für Kuscheln, „puddle“ steht für Pfütze: also ein großes, nicht-sexuelles, Gruppenkuscheln. Die Beschreibung zu diesem Angebot sprach von der Möglichkeit, das Bedürfnis nach Berührung, Nähe und Wärme zu stillen. Das klingt irgendwie interessant, dachte ich. Sofort schossen Vorurteile in meinen Kopf:

Da gehen doch bestimmt nur Typen hin, die woanders keinen mehr abbekommen oder völlig vereinsamte, beziehungsunfähige Typen. Oder so Typen wie ich, die eigentlich mehr wollen, aber sich nichts trauen? Und, was ist, wenn ich der Älteste, Fetteste bin, mit dem niemand kuscheln will? Was ist, wenn ich am Ende alleine mit in einer Ecke liege?

Die Neugierde war jedoch größer. Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ich ertappte mich sogar dabei, die Kursbeschreibung so häufig zu lesen, bis ich sie fast auswendig konnte.

Also machte ich mich sehr nervös an einem Dienstagabend im September des vergangenen Jahres auf ins Village. Der Grad meiner Aufregung erinnerte mich an meinen allerersten Besuch in einer schwulen Bar kurz nach meinem Coming-Out. Als ich die Räume in einem Hinterhof in der Kurfürstenstraße betrat, schlug mein Herz bis zum Hals. Ich öffnete die schwere Eisentür und stand in einem sehr großen, hellen Raum.

Der Duft von Räucherstäbchen stieg mir in die Nase, leise Musikklänge drangen an mein Ohr. Ich begann mich zu entspannen. Freundlich wurde ich von Ian*, dem Gastgeber, begrüßt, der den Abend auch anleitete. Doch meine Entspannung währte nur kurz. Denn als ich mich so umschaute, waren sie wieder da: meine Ängste und Selbstzweifel. Keiner der Männer sah so aus, wie ich sie mir in meinem Kopf ausgemalt hatte. Stattdessen standen tolle, interessante Männer, zwischen Mitte zwanzig und Mitte fünfzig, vor mir. Es war definitiv keiner dabei, mit dem ich nicht gerne kuscheln würde.

Schließlich ging es los und die 25 Männer nahmen auf weichen Matten am Boden Platz. Der Gastgeber des Abends, Ian, begrüßte uns noch einmal und erklärte die wesentlichen Regeln. Die wichtigsten: jeder ist für sich selbst verantwortlich und schaut nach sich und ist achtsam den anderen gegenüber. Um uns das Ankommen in der Runde zu erleichtern, begannen wir eine ganz schnelle Vorstellungsrunde – unseren Namen und ein Gefühl, das uns gerade beherrscht. Ich stellte mich vor: „Ich bin Jörn und bin aufgeregt.“

Ich bin zum ersten Mal hier, keine Ahnung was ich tun soll.

Weiter ging es mit einer kurzen Atemmeditation. Einatmen, ausatmen, Gedanken kommen und auch wieder gehen lassen. Das klappte schon mal ganz gut. Danach folgte eine Partnerübung. Wir sollten uns zu zweit zusammentun und uns im Schneidersitz gegenübersetzen. Dabei galt es zu erspüren, welche Art von Berührung der andere gerade braucht, was ihm gut tun könnte und was er nicht möchte. Ich schnappte mir Lucas, der eigentlich anders heißt, meinen unmittelbaren Sitznachbarn. Ich konnte ihm gerade noch zuflüstern: „Ich bin zum ersten Mal hier, keine Ahnung, was ich tun soll.“ Dann spürte ich auch schon seine warmen Hände in meinen.

Ein leichter Druck, ein Innehalten, ein sich Lösen und ein sanftes Auflegen seiner Hände, diesmal auf meinen Schultern. Zaghaft zitternd legte ich meine Hände auf seinen Brustkorb. Ich spürte, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Irgendwann lag ich da, auf dem Rücken, mein Kopf in seinen Händen, als ein Gong die Stille unterbrach. „Zeit für eine kleine Pause“, flüsterte mir Lucas ins Ohr.

Die Pause verbrachte ich mit einer Tasse Tee und meine Augen wanderten ruhelos durch den Raum. Es herrschte eine lockere, vertraute Stimmung zwischen den Anwesenden. Die Männer scheinen sich zu kennen. „Na, zum ersten Mal da?“, fragte mich jemand, der sich als Timo vorstellte. „Äh…ja“, stammelte ich.

„Und, wie findest Du es?“

„Ich weiß es noch nicht, ich glaube gut“, sagte ich.

 „Na, dann warte mal auf den zweiten Teil“.

Wieder ertönte der Gong. Wieder saßen alle im Kreis. Ian erklärte nun wie es weiter gehen sollte. Derjenige von uns, der wolle, sollte sich jetzt einfach in die Mitte legen und seine Position finden, in der es ihm gut ging. Dann solle der Nächste andocken und immer so weiter, bis wir alle zu einem riesigen Cuddle-Puddle verschmelzen. 

Wieder meldete sich meine innere Stimme. Ich sah mich schon das traurige Ende dieser Pfütze bilden. Abhauen oder bleiben? Lucas schien meine Gedanken lesen zu können. „Ich lege mich jetzt als nächster hin, komm gerne nach.“ Damit war meine Entscheidung gefallen. Ich bleibe und robbte mich langsam an Lucas heran.

Die Situation erinnerte mich an den Moment vorm einschlafen: Wohin mit den Armen? Knie anwinkeln? Ich ruckelte mich zurecht und schloss die Augen. Kurze Zeit später wurde es in meinem Rücken warm und ich spürte, wie mich ein fremder Atem im Nacken kitzelte. Ich wurde tatsächlich bekuschelt. Aber nicht nur von hinten. Von allen Seiten fühlte ich Hände auf mir. Ein fremdes Knie schob sich zwischen meine. Eine Hand wuschelte mir sanft durchs Haar. Ians leise Stimme ertönte und bat uns zu überprüfen, ob es uns noch gut geht oder was wir verändern wollen. Die riesige Kuschelpfütze setzte sich wie ferngesteuert in Bewegung. Einer sanften Welle gleich bewegten sich Arme, Beine und Hände, um aufs Neue die Verbindung mit den Männern um einen herum aufzunehmen.

Ich hätte die Pfütze zu gerne von oben gesehen – die Pfütze aus 25 Männer, ältere, dünnere, dickere, muskulöse und bärtige. Sie alle wirkten glücklich, wie sie so ineinander verschmolzen dalagen. Gerade als ich dachte, es könne noch ewig dauern, ertönte Ians Stimme, die uns aufforderte ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Jeder in seinem Tempo. Wir versammelten uns wieder im Kreis. Das Anfangsritual wiederholte sich. Jeder sollte sagen, wie er sich fühlte. Die Männer benutzen Wörter wie energetisch, zufrieden oder entspannt. Als ich an der Reihe war sagte ich: glücklich. Und das war ich auch.

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Eine Welle des Hasses

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