Über Sexualität reden ist nicht immer einfach – auch nicht für Ärzte, Psychologen oder Therapeuten. Welche Möglichkeiten es gibt, Sexualität, HIV und sexuell übertragbare Infektionen (kurz: STIs) zum Thema des Arzt-Patient-Gesprächs zu machen, vermittelt ein spezieller DAH-Workshop. Axel Schock sprach mit der Seminarleiterin Gabi Jung.

Berliner Charité
Das Modellprojekt mit der Charité lässt sich auch auf andere Häuser übertragen (Foto: Charité Berlin)

Scham, Tabus und verschiedenste Unsicherheiten verhindern nicht selten ein offenes Gespräch  zwischen Arzt und Patient. Um beispielsweise einen schwulen oder bisexuellen Patienten zu Fragen des Infektionsschutzes beraten zu können, muss ein Arzt erst einmal von dessen sexueller Orientierung wissen.

Zum anderen gibt es immer noch Haus- oder auch Fachärzte, die bei bestimmten Symptomen noch viel zu spät an HIV denken – unter anderem, weil sie nicht auf die Idee kommen, dass der eine oder andere Patient vielleicht (auch) Sex mit Männern haben könnte.

Wie ein ärztliches Beratungsgespräch über intime Themen initiiert und einfühlsam geführt werden kann, ist eines der zentralen Themen eines Pilotprojektes mit der Charité. Das eintägige Seminar im Rahmen der DAH-Veranstaltungsreihe „Let’s Talk about Sex“ richtet sich an Ärzte und Referenten, die als Lehrende an der Berliner Universitätsklinik tätig sind.

Gabi Jung, Ärztin und seit vielen Jahren in der Gesundheitsförderung tätig, hat dieses Seminar mitentwickelt.

Diskriminierung in den Arztpraxen verhindern

Wie kam es zu diesem Projekt?

Gabi Jung: Die Deutsche AIDS-Hilfe hatte sich schon eine ganze Weile darüber Gedanken gemacht, wie sowohl die Zahl der „Late presenter“ als auch die Diskriminierung in Arztpraxen vermindert werden könnten. Diese beiden Punkte haben wesentlich zum Entstehen des Ärzte-Kommunikations-Projektes beigetragen.

Gabi Jung
Seminarleiterin Gabi Jung (Foto: Felix Martin)

An wen richtet sich die Schulung?

Zum Reformstudiengang der Charité gehört auch ein Patienten-Simulationsprogramm. Das heißt, die Studierenden werden mit Simulationspatienten, die von Schauspielern dargestellt werden, in der Arzt-Patient-Kommunikation richtig gut trainiert. Natürlich müssen diese Studentengruppen auch betreut werden, und hierfür gibt es innerhalb der Charité Ärzte aus den unterschiedlichsten Abteilungen. Diesen Lehrenden versuchen wir mit unseren Schulungen spezifische Methoden und Kenntnisse zu vermitteln, wie man im medizinischen Alltag mit Patienten über HIV, Sexualität und sexuell übertragbare Krankheiten ins Gespräch kommen kann.

Manche Ärzte hatten bislang kaum Kontakt zu Schwulen, weder privat noch beruflich

Drei Dutzend Ärztinnen und Ärzte haben inzwischen teilgenommen. Wie ist Ihr Gefühl? Waren sie dem Thema gegenüber ohnehin aufgeschlossen oder hatten sie die Lücken in ihrer Ausbildung und damit den Bedarf erkannt?

Beides ist der Fall. Zum einen sind es sehr engagierte Leute. Das sieht man unter anderem daran, dass sie sehr bemüht sind, die Ausbildung der Studierenden zu verbessern, und daher auch sehr an Methoden und Handwerkszeug interessiert sind. Viele von ihnen merken aber auch selbst, dass sie in der medizinischen Praxis an ihre Grenzen gelangen und an manchen Stellen auch nicht wissen, wie und was sie anders machen sollten. Zum anderen nehmen an dem Workshop auch Menschen teil, die mit HIV-Patienten oder schwulen Männern noch kaum Erfahrungen gesammelt haben, weder im privaten Leben noch in der beruflichen Praxis.

Methoden für sensible Gesprächsführungen

Wie ist der Seminarplan konzipiert? Geht es generell um das Reden über Sexualität oder spezifischer um HIV und Männer, die Sex mit Männern haben?

Letzteres, weil diese Fortbildung von der DAH initiiert wurde und diese federführend ist. Daher ist das Hauptaugenmerk auf Patienten mit HIV und Aids bzw. auf schwule Männer gerichtet. Das heißt aber nicht, dass wir nicht über den Tellerrand schauen und nicht über andere Themen sprechen. Man muss sich allerdings im Klaren sein: Ein Seminartag geht schnell vorbei. Viele Aspekte, die von den Teilnehmenden eingebracht werden, können wir aus zeitlichen Gründen nicht umfassend behandeln, etwa Themen wie Sexualität im Alter oder Sexualität und psychische Erkrankungen. Wir müssen uns da leider auf unser Kernthema beschränken.

Sind Sie manchmal überrascht, welche Fragen oder Äußerungen von Seiten der Seminarteilnehmer kommen?

In der Tat. Es sitzen ja durchweg hochengagierte, kluge Leute in der Runde, die bereits ein gutes Standing in ihrem Beruf haben. Überraschungen gibt es beispielsweise regelmäßig bei einem Standardmodul unserer Schulung, bei dem wir einfach nur Begriffe für das männliche bzw. weibliche Geschlechtsorgan bzw. für Geschlechtsverkehr sammeln. Das ist insofern sehr interessant, weil dabei sehr schnell herauskommt, wie die einzelnen Teilnehmer mit Wörtern umgehen.

Klinik-Schild
Im Klinik- und Praxisalltag werden wichtige Themen oft nicht angesprochen (Foto: Dieter Schütz/ pixelio.de

Haben Sie da ein Beispiel?

Eine Teilnehmerin sagte beispielsweise „das F-Wort“, den Begriff „ficken“ selbst auszusprechen, wagte sie nicht. Als es darum ging, Bezeichnungen für die Geschlechtsorgane zu nennen, kamen sehr viel kindersprachliche Begriffe wie „Pullermann“. Das hängt sicherlich mit der Sozialisation und Lebenssituation der Teilnehmer zusammen. Bei dieser Veranstaltung waren viele junge Mütter, denen dieser Sprachgebrauch deshalb sehr nahe war. Deutlich wurde dabei, wie heteronormativ geprägt die verwendete Sprache ist.

Simulierte Arzt-Patient-Gespräche

Ist die gemeinsame Sprache der entscheidende Schlüssel für die Arzt-Patient-Kommunikation?

Sie ist lediglich ein Baustein. Sehr interessant sind immer wieder die Rollenspiele, in denen die Teilnehmer sich in die Situation eines schwulen Patienten hineinbegeben müssen oder aber in ihrer Funktion als Arzt auf einen solchen stoßen. Der Simulationspatient ist in diesem Rollenspiel zum Beispiel ein Mann, der sexuelle Kontakte mit Männern hat und mit einer Gonokokken-Infektion den Arzt aufsucht. In beiden Spielsituationen zeigt sich oft sehr deutlich, wie fremd den Seminarteilnehmern die schwulen Lebenswelten sind, wie schwer es ihnen fällt, überhaupt zu erkennen, dass der Patient schwule Sexkontakte gehabt und sich einem entsprechenden Infektionsrisiko ausgesetzt haben könnte.

Fremde Lebenswelten

Welche Folgen hat dies im Praxisalltag?

Möglicherweise werden Symptome falsch eingeschätzt, Zusammenhänge nicht gesehen und Infektionen daher zu spät oder gar nicht erkannt.

Überrascht es Sie, dass einigen Seminarteilnehmern die schwule Lebenswelt so fremd ist?

In der Tat schon, denn die Teilnehmer leben nicht irgendwo auf dem Land, sondern in Berlin, und ich denke, dass sie daher längst mit schwulen Patienten zu tun gehabt haben müssen. Aber offensichtlich ist dies nicht unbedingt der Fall, zumindest war es diesen Ärztinnen und Ärzten nicht bewusst.

Wie reagieren Sie als Seminarleiterin in solchen Momenten?

Wir signalisieren als Seminarteam, dass es natürlich sehr viele verschiedene Lebenswelten gibt, es aber nicht ausreichend ist, sich für tolerant zu halten. Als professioneller Behandler muss man auch eine gewisse Eigenaktivität und eine offene Haltung mitbringen, um zu ermöglichen, dass ein Patient über seine Sexualität mit mir sprechen möchte.

Rollenspiele, Rollenwechsel

Es gibt dann also keinen Crashkurs in Sachen schwuler Sexualität und Szeneleben?

Wir achten darauf, dass wir im Referententeam immer jemanden dabei haben, der die schwule Lebenswelt repräsentieren und aufkommende Fragen beantworten kann. Bei der letzten Veranstaltung kamen wir beispielsweise auf Fisten, und einige der Teilnehmer wussten nicht, was damit gemeint ist. So etwas wird erklärt und dann damit umgegangen. Auch in den Praxisbeispielen, die wir in den Rollenspielen vorstellen, werden die Seminarteilnehmer schlicht und ergreifend mitten in die schwule Lebenswelt hineingeworfen. Wir muten ihnen damit eine Situation zu, die keineswegs realitätsfern ist und mit der sie umgehen müssen.

Ein Beweggrund für dieses Projekt ist die Diskriminierung von HIV-Positiven im Gesundheitswesen. Gibt es bei den Seminarteilnehmern bisweilen entsprechende Aha-Erlebnisse?

Solche Selbsterkenntnisse ergeben sich eher subtil und unausgesprochen. Ihnen wird vor allem bewusst, was sie von den Patienten alles nicht erfragen oder nicht erfahren, weil sie es für sich nicht auf dem Schirm haben. Dass sie selbst aktiv diskriminieren, kommt nur indirekt auf den Tisch. Manchmal zuckt da auch einer innerlich, wenn man konkrete Beispiele von Diskriminierung erwähnt.

Kreis aus Spielfiguren
Die Feedbackrunden sollen konstruktive Anregungen geben (Foto: Gaby Stein/ pixelio.de)

Werden diese Momente der Selbsterkenntnis nicht direkt angesprochen?

Man darf  nicht vergessen, dass in den Seminaren die eigenen Kollegen und Kolleginnen sitzen. Denen gegenüber bekennt man nur ungern die eigenen Schwächen oder Fehler. Dies müssen wir als Seminarleiter bei den Feedbacks etwa zu den Rollenspielen auch berücksichtigen, um im Einzelfall die einzelnen Teilnehmer nicht vor ihren Kollegen bloßzustellen. Wir versuchen daher konstruktive Anregungen zu formulieren.

Tunnelblick der Fachärzte

Es gibt also durchaus negative Überraschungen?

Bei manchen Spielsituationen habe ich mir schon gedacht: „Das war jetzt schwierig.“ Es ist auch erstaunlich, wie schnell sich bei Fachärzten eine Art Tunnelblick entwickelt und dass man nicht unbedingt voraussetzen kann, dass alle Mediziner über die wichtigsten Kenntnisse zu sexuell übertragbaren Krankheiten verfügen.

Das Seminar ist ein Gemeinschafts- und Pilotprojekt von DAH und Charité und deshalb auf Berlin beschränkt. Hofft ihr, dass ihr derlei Seminare bald auch bundesweit anbieten könnt oder das Konzept von anderen kopiert wird?

Wir sind mit diesem Thema bereits bundesweit unterwegs, zum Beispiel bei Kongressen. Aber auch über Nachahmer würde ich mich freuen. Die vermittelten Inhalte sind schließlich nicht wirklich neu. Entscheidend ist, von wem und wie solche Seminare umgesetzt werden. Wir sind als Team wunderbar aufgestellt, denn wir haben immer einen Vertreter der DAH, einen mit der Schwulenszene vertrauten Referenten und einen Mediziner mit dabei. Das trägt sicherlich zu einem guten Teil zum Erfolg bei.

Eure Hoffnung ist nun, dass die Teilnehmer die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Seminar exakt oder ähnlich an ihre Studierenden oder Auszubildenden weitergeben.

Genau. Natürlich wird dabei vieles verwässert werden, und die Lehrenden müssen auch interne Vorgaben im Krankenhausbetrieb einhalten. Wenn ein bisschen davon hängenbleibt, können wir zufrieden sein.

Kleine Veränderungen, entscheidende Wirkung

Also eher ernüchtert?

Nein, ich bin nicht ernüchtert, sondern Realistin. Wir sprechen hier über Verhaltensänderungen, und wir wissen, dass so etwas Zeit braucht. Wenn aber durch diese Arbeit kleine Veränderungen im System der Charité ankommen, wenn sich der eine oder die andere ein wenig Gedanken über die Diskriminierung von HIV-Positiven und die eigene Haltung macht und dies alles an irgendeiner Stelle einmal dazu führt, dass eine HIV-Erkrankung früher diagnostiziert wird, dann ist das doch ein Erfolg unserer Arbeit.

 

Die nächsten offenen Veranstaltungen im Rahmen der Reihe „Let’s Talk about Sex“:

30.10.2013, Tag der Allgemeinmedizin in Göttingen mit Gabi Jung, HIV-Arzt Wolfgang Schulz und Jörg Lühmann (AIDS-Hilfe Göttingen)
9.11.2013, Tag der Allgemeinmedizin in Hamburg, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf mit Prof. Arne Dekker, Helga Neugebauer (Hamburger AIDS-Hilfe) und HIV-Arzt Dr. Michael Sabranski
22.02.2014, Tag der Allgemeinmedizin in München, u.a. mit Helmut Hartl
19.03.2014, Tag der Allgemeinmedizin in Essen u.a. mit Helmut Hartl

Weitere Informationen und  Programm

 

Morgen erzählt Dr. Christoph Heintze – einer der bisherigen Workshop-Teilnehmer – im DAH-Blog von seinen Erfahrungen und Eindrücken.
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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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