Liebe, Freundschaft und Abschied: Der Filmemacher André Téchiné schildert in seinem Beziehungsdrama „Die Zeugen“ den Beginn der Aidskrise 1984 in Frankreich. Von Axel Schock

In diesem Sommer im Paris des Jahres 1984 herrscht noch das pralle Lebensglück. In satten Farben, leuchtendem Gelb und strahlendem Blau, fängt André Téchiné die von (Lebens-)Lust und Ausgelassenheit geprägte Atmosphäre ein.

Noch herrscht das pralle Lebensglück

Ein junges Paar, die Kinderbuchautorin Sarah (Emmanuelle Béart) und ihr Ehemann Mehdi (Sami Bouajila), ein pflichtbewusster, karriereorientierter Beamter der Sittenpolizei, sind gerade Eltern geworden. Die junge Sängerin Julie (Julie Depardieu) hat ihre erste kleine Rolle in einer Opernproduktion bekommen. Ihr aus der Provinz nachgereister ungestümer Bruder Manu (Johan Libéreau) kostet das sexuelle Angebot der Schwulenszene aus.

Manu (Johan Libéreau) stürzt sich ins Leben (Foto: Salzgeber)
Manu (Johan Libéreau) stürzt sich ins Leben (Foto: Salzgeber)

In der Cruising-Area nahe dem Eiffelturm lernt er den Klinikarzt Adrien (Michel Blanc) kennen. Nicht etwa, dass sie Sex miteinander hätten. Unverfroren oder einfach nur unschuldig bittet Manu ihn, auf seine Jacke aufzupassen, solange er sich in den Büschen vergnügt. Adrien, Anfang Fünfzig, verliebt sich in den jungen Mann. Eine Liaison wird zwar nicht daraus, dafür aber eine intensive Freundschaft.

Stattdessen beginnt Manu eine Affäre mit Mehdi. Seine Anmache ist direkt und überdeutlich, Mehdis Reaktion zunächst barsch und abweisend – so, als schäme er sich noch ein wenig für sein Begehren. Doch als der Damm gebrochen ist, gibt es für die beiden kein Halten mehr.

André Téchiné („Wilde Herzen“), einer der großen Schauspieler-Regisseure seiner Generation, peitscht seine Erzählung mit großem Tempo nach vorn, ohne dabei die Protagonisten dieses breiten Figurenensembles zu vernachlässigen.

Kaleidoskop an Lebensentwürfen

Vielmehr richtet er die Konzentration abwechselnd auf die unterschiedlichen Charaktere. Mal rückt etwa Sarah in den Fokus, die mit ihrer Mutterrolle völlig überfordert ist und sich Oropax in die Ohren stopft, um das schreiende Baby nicht hören zu müssen, dann wieder Adrien, der mit seinem Liebeskummer kämpft.

Die Schriftstellerin Sarah ist von ihrer Mutterrolle überfordert (Foto: Salzgeber)
Die Schriftstellerin Sarah (Emmanuelle Béart) ist mit ihrer Mutterrolle überfordert (Foto: Salzgeber)

Die Zeit der Unbeschwertheit ist schließlich mit einem Schlag vorbei. Adrien identifiziert Manus merkwürdigen Hautausschlag als Kaposi-Sarkome. Die seltsame neue Krankheit, von deren Ausbruch man in den Fernsehnachrichten hörte, ist nun auch in Frankreich angekommen.

Den Mittelteil seines Spielfilms hat Téchiné mit „Der Krieg (Winter 1984-1985)“ überschrieben. Das flirrende, sommerliche Licht des ersten Teils ist kalten, tristen Farben gewichen. Téchiné entfaltet nun keineswegs detailliert die Geschichte der HIV-Epidemie in Frankreich. Er nutzt sein breitgefächertes Figurenensemble vielmehr als Modell, um die unterschiedlichen Reaktionen auf die alles in Frage stellende Virusinfektion durchzuspielen.

Die Aidskrise verändert aller Leben

Wie die Freund- und Liebschaften angesichts dieser Umbrüche und Herausforderungen auf die Probe gestellt werden, oder pauschaler formuliert: wie sich das Politische im Privaten niederschlägt, das schildert Téchiné am Beispiel der eng miteinander verknüpften Figuren.

Der Klinikarzt Adrien (Michel Blanc) ist Aidsaktivist der ersten Stunde (Foto: Salzgeber)
Der Klinikarzt Adrien (Michel Blanc) ist Aidsaktivist der ersten Stunde (Foto: Salzgeber)

Manu etwa beugt sich seinem Schicksal und verbarrikadiert sich, damit ihn niemand in seinem zunehmend verheerenden Zustand sehen möge. Adrien, durch Manus Affäre mit Mehdi gekränkt, nimmt ihn dennoch bei sich auf und erduldet Manus Wesensveränderung. Der einst selbstbewusste, Energie sprühende Junge wird immer aggressiver und abweisender. Dieses Verhalten verstärkt sich noch durch die aidsbedingte Toxoplasmose.

Bei Adrien ist Manu aber auch medizinisch in besten Händen, denn der Arzt widmet sich in seiner Klinik nun fast ausschließlich der Behandlung von Aidspatienten und ist am Aufbau einer Selbsthilfe-Organisation beteiligt.

Mehdi wiederum fürchtet, dass er sich bei Manu infiziert und womöglich sogar seine Ehefrau in Gefahr gebracht hat. Im Dienstalltag hingegen ist er eine treibende Kraft, wenn es darum geht, Razzien in Bordellen durchzuführen und Prostituierte als potenzielle Gefahrenquelle festzusetzen. Eine junge selbstbewusst-kämpferische Sexarbeiterin, mit der sich Manu angefreundet hat, personifiziert die pauschale Stigmatisierung ihrer Kolleginnen.

Und das Leben geht weiter…

Im letzten Kapitel kehrt der Sommer mit seinen hellen Farben zurück. Für einen ist das Leben vorbei, für die anderen geht es weiter, mit allem, was dazugehört: Liebe und Streit, Begehren und Eifersucht.

Die Angst, sich infiziert zu haben, setzt Mehdi in Panik (Foto: Salzgeber)
Die Angst, sich infiziert zu haben, setzt Mehdi (Sami Buajila) in Panik (Foto: Salzgeber)

Entstanden ist „Die Zeugen“ bereits 2007 und war seinerzeit sogar französischer Wettbewerbsbeitrag bei den Berliner Filmfestspielen. Damals überraschte Téchinés bis dahin eher ungewohnte Herangehensweise an das Aidsthema, die ganz auf Melodrama, Sentimentalität und tragisch zugespitzte Sterbe- und Abschiedsszenen verzichtete.

In die deutschen Kinos ist der Film jedoch nie gekommen. Erst jetzt ist er – nach einer Ausstrahlung auf arte – erfreulicherweise auch auf DVD erhältlich.

„Die Zeugen“ (Les Témoins) Frankreich 2007. Regie: André Téchiné, mit Johan Libéreau, Sami Bouajila, Michel Blanc, Emanuelle Béart. 110 Minuten, französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln.

Ab 28. Januar 2014 auf DVD (Salzgeber Medien) erhältlich.

Link zum Trailer des Films

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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