KaliningradZum Ende des zweijährigen Projekts „Auf- und Ausbau von Angeboten zur Eindämmung von HIV und Tuberkulose in Kaliningrad“ der Deutschen AIDS-Hilfe und der russischen NGO „Young Leaders Army (YLA)“ reisten im Frühjahr 2014 noch einmal Ärzte, Krankenpflegekräfte und Studierende aus Berlin nach Kaliningrad, um sich über die Versorgungslage zu informieren. Mit dabei war Inge Banczyk, Leiterin der Immunologischen Tagesklinik Vivantes in Berlin. YLA-Leiterin Inna Vyshemirskaya hat sie zu ihren Eindrücken befragt.

Frau Banczyk, welche Eindrücke von ihrer Studienreise nach Kaliningrad nehmen Sie mit nach Hause?

Als sehr frustrierend empfand ich das Tuberkulose-Krankenhaus. Eine schreckliche Vorstellung, dort monatelang eingeschlossen zu sein, in viel zu kleinen Räumen mit so vielen Menschen, auch Drogenabhängigen. Unter solchen Bedingungen würde ich eine Therapie nicht durchhalten. Andererseits erlebte ich die Krankenschwestern dort als sehr engagiert und herzlich. Mir hat gefallen, mit wieviel Empathie sie über ihre Patientinnen und Patienten gesprochen haben.

Die Infektiologische Klinik ist schön renoviert, sehr freundlich und hell. Wie ich selbst feststellen konnte, sind dort viele Medikamente verfügbar, und man hat mir auch bestätigt, dass alles Nötige vorhanden ist. Etwas bedrückend war für mich, dass die Patienten dort – alle mit Infektionskrankheiten – so stark isoliert sind. Und dass die Leute, egal wie ihr Zustand ist, immer hin und her gefahren werden müssen. Viel besser wäre es, wenn alles unter einem Dach wäre, dann würden Infektionen vielleicht auch häufiger diagnostiziert und behandelt werden.

„Als jemand aus dem Westen möchte ich nicht arrogant sein“

Die Entzugsklinik habe ich mir viel größer vorgestellt. Angenehm überrascht war ich von den Angeboten dort, beispielsweise Yoga und Gesprächskreise. Außerdem erzählte man mir, dass nicht nur starr nach den Regeln gearbeitet, sondern auch individuell auf die Patientinnen und Patienten eingegangen wird. Geschockt hat mich dagegen die minimale medizinische Behandlung.

Gespräch in der Tuberkuloseklinik
Inge Banzcyk (l.) beim Besuch der Tuberkuloseklinik

Aber man kann ja nur schwer zwischen Deutschland und Russland vergleichen. Und bei einem ersten Besuch, wenn man das System noch nicht kennt, ist ein Gespräch über die tatsächliche Situation vor Ort immer schwierig. Als jemand aus dem Westen möchte ich natürlich nicht arrogant sein, weil ich weiß, dass es auch in Deutschland viele Probleme und viel Ungerechtigkeit gibt.

Wir haben ja nun tagtäglich über die Substitutionsbehandlung gesprochen. Sie gilt in Russland als „Teufelszeug“ und wird Drogenabhängigen folglich nicht angeboten. Wie sehen Sie das?

Für mich ist das ganz klar eine Einschränkung der Therapiemöglichkeiten. Ich finde, es führen viele Wege zum Ziel, aber ein wichtiger Weg, nämlich die Substitutionstherapie, bleibt hier erst mal verschlossen.

„Man darf die Substitution nicht als den einzig richtigen Weg verkaufen“

Selbstverständlich darf man die Substitution nicht als den einzig richtigen Weg verkaufen. Man muss neben den Vorteilen auch die Nachteile aufzeigen, um zusammen mit dem Patienten entscheiden zu können, welche Therapie für ihn die beste ist. Vielleicht können hier auch Appelle etwas in Bewegung bringen, indem man sagt: „Stellt euch vor, es geht um euren Sohn oder eure Tochter.“ Für die eigenen Kinder will man doch immer das Beste.

Wo sollte man Ihrer Meinung nach ansetzen, um die Versorgungssituation zu verbessern?

Ich glaube, ganz wichtig ist, den an der Basis tätigen Menschen Mut zu machen, ihnen Kraft zu geben und ihre Leistungen anzuerkennen. Man muss ihnen vermitteln, dass sie durch ihre Arbeit viel bewirken.

Kommunikation
Miteinander reden, um Ansichten und Haltungen zu beeinflussen

Zum Beispiel erzählte mir eine Krankenschwester, ihr Mann wolle nicht, dass sie in der Infektiologie arbeitet, eine andere sagte, ihre Tochter sei dagegen. Über solche Dinge muss man miteinander reden, denn nur so können die Ansichten und Haltungen anderer Menschen beeinflusst werden. Sie bekommen dann mehr Weitblick und werden dann vielleicht sogar selbst aktiv, um etwas zu verändern.

Was beispielsweise in Familien geklärt wird, kann über einzelne ihrer Mitglieder wieder in andere Kreise getragen werden, die sonst vielleicht keine Berührungspunkte zum Thema Infektionskrankheiten und den davon betroffenen Menschen hätten. Krankenschwestern könnten in die Schulen gehen und dort aufklären. Was sie mitzuteilen haben, wird eher akzeptiert, weil man sie als „normale“ Mitglieder der Gesellschaft ansieht.

Glauben Sie, dass internationale Projekte, wie beispielsweise unser Partnerprojekt mit der Deutschen AIDS-Hilfe, etwas bewirken?

In der Infektiologischen Klinik jedenfalls wurde etwas bewirkt! Als ich dort auf Homosexualität zu sprechen kam, wurde klar: Alle wissen, dass es sie gibt. Offiziell ist das zwar noch kein Thema, aber die dort Beschäftigten akzeptieren oder tolerieren Homosexualität.

Positiv ist doch allein schon, dass Krankenschwestern sich die Zeit nehmen, um sich mit einer Kollegin aus Deutschland zu unterhalten, dass es sie interessiert, wie woanders gearbeitet wird. Ob sie das dann gut oder schlecht finden, kann ich nicht beurteilen, aber sie haben immerhin Interesse gezeigt.

„Positiv ist doch allein schon das Interesse daran, wie woanders gearbeitet wird“

Wirklich bemerkenswert ist, dass es die Angebote, die YLA zusammen mit Szene-Aktivistinnen und -Aktivisten in der Drogentherapie-Klinik vorgehalten hat, nach Projektende immer noch gibt: Drogenkonsumenten und ihre Angehörigen können sich beraten und röntgen lassen, ohne irgendwelche Bedingungen erfüllen zu müssen. So wird eine Aufnahme in die Klinik erleichtert.

Dass eine Nichtregierungsorganisation etwas Niedrigschwelliges anbietet, das eine Klinik absegnet und dann auch noch weiterführt, ist doch das Beste, was passieren kann! Die Klinik fand das Angebot so gut, dass sie zwei Projektmitarbeiterinnen übernommen hat und das Angebot weiterfinanziert. Welchen Stellenwert es inzwischen hat, merkt man daran, wie die Klinikmitarbeiterinnen und -arbeiter darüber sprechen. Vorher wussten sie gar nicht, wie wichtig ein solches Angebot ist, und jetzt können sie sich gar nicht mehr vorstellen, ohne es auszukommen.

Austausch in großer Runde
Austausch in großer Runde

Auch dadurch, dass Kaliningrader Ärzte nach Deutschland reisen und dort Beratungsstellen besuchen konnten, hat zu Veränderungen beigetragen.

Ganz sicher. Wenn ich jeden Tag meiner Arbeit nachgehe, hab ich gar nicht den Kopf frei, um mir neue Ideen zu überlegen. Die Teilnahme an solchen Studienreisen hat für mich zwei wichtige Aspekte: Erstens wird man dadurch in seiner Arbeit anerkannt. Zweitens lerne ich Arbeitsansätze und Methoden kennen, die es im eigenen Land nicht gibt, und ich kann mir überlegen, ob das auch für uns geeignet wäre oder ob etwas modifiziert werden müsste, damit es passt.

Frau Banczyk, sollten Sie wieder einmal nach Russland kommen, was würden Sie sich dann wünschen?

Ich würde gerne wieder nach Russland kommen – ich fand das unglaublich spannend und interessant! Wenn ich wiederkäme, möchte ich mich gern noch intensiver als diesmal mit Krankenschwestern austauschen, um mehr über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer beiden Länder zu erfahren. Meiner Meinung nach funktioniert ein Austausch nur, wenn man für Kontinuität sorgt und ein Vertrauensverhältnis entsteht. Das heißt, es sollten sich möglichst immer dieselben Menschen treffen, damit sich eine feste Gruppe bilden kann.

            

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