Für manchen ist nach dem Tod eines Liebsten das Leben nicht mehr zu ertragen. Andrew Sean Greer schickt die Heldin seines Romans „Ein unmögliches Leben“ deshalb auf Zeitreise. Von Axel Schock

Heilfasten, Hasch und Hypnose, Akupunktur, Yoga und Psychopharmaka, ja sogar exzessiver Dauerlauf, ein neuer Liebhaber – Gretas Freunde haben allerlei Ratschläge parat, aber nichts vermag die 31-Jährige aus ihrer Trauer und Depression herauszureißen.

Den Tod ihres an den Folgen von Aids verstorbenen schwulen Zwillingsbruders Felix vermag Greta auch nach Monaten nicht zu verkraften. Nächtens glaubt sie seinen Geist zu spüren, tags nimmt sie Welt nur noch durch Leerstellen war: in den Geschäften des Viertels, im Freundeskreis des Bruders, in der Nachbarschaft, überall sind Tote zu beklagen.

Wenn Trauer pathologisch wird

Im Jahr 1985 hat die Aidskrise New York City fest im Griff. Auch ihr Lebensgefährte hat aufgegeben und die Beziehung zu Greta beendet. Gretas Therapeut setzt nun alle Hoffnung auf eine Elektrokonvulsionstherape: Durch die künstlich erzeugten Krampfanfälle erhofft man sich eine Art Reset des Gehirns. Bestehende, das Leben behindernde Denkmuster sollen durch neue, lebensbejahende ersetzt werden.

Ein leichtes Schwindelgefühl, schlimmstenfalls kurzzeitige Halluzinationen – von gravierenderen Nebenwirkungen weiß ihr Arzt nicht zu berichten. Tatsächlich aber passiert viel mehr: „Das Hirn macht einen Satz“ – und Greta wird aus ihrer Trauer heraus- in ein neues, ein alternatives Leben hineinbefördert. Genau genommen sogar in zwei: Mal erwacht sie in ihrer Wohnung im Jahr 1918, mal 1941.

Das Szenario ist derart konstruiert, dass man als Leser entweder bereit ist, es einfach so hinzunehmen oder man das Buch recht bald genervt beiseite legt. Ähnlich verhielt es sich auch schon bei Greers Bestseller „Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli“ (unter dem Titel „Der seltsame Fall des Benjamin Button“, verfilmt mit Brad Pitt), in dem der Held gegen unsere Gewohnheit statt zu altern sich vom Greis zum Säugling entwickelt.

Was wäre aus uns zu einer anderen Zeit geworden?

In „Ein unmögliches Leben“ nutzt Greer die Motivik der Zeitreise und des Epochenjumpings, um einer recht schlichten Frage nachzugehen: Was wäre aus uns zu einer anderen Zeit, in einer anderen Gesellschaft wohl geworden?

In ihren anderen Leben, so erfährt Greta, ist sie mit ihrem Nathan verheiratet und sogar Mutter geworden. Ihr Bruder wiederum ist zwar auch im Jahr 1918 ein wilder Freigeist, aber seine Gefühle für Alan vermag er sich kaum einzugestehen, geschweige denn auszuleben. Zwei Jahrzehnte später wird die heimliche Liaison durch Frauenbeziehungen kaschiert, und in den Schwulenbars der Stadt regiert die ständige Furcht vor Entdeckung und Bloßstellung.

Und nicht nur das New York der 1980er-Jahre, sondern auch die parallelen Leben sind geprägt von der Angst, die Nächsten zu verlieren: durch die spanische Grippe und die beiden Weltkriege. Homosexuelles Begehren, Endlichkeit und Emanzipation zeigen sich in jeder Station von Gretas Zeitreise in neuen Facetten.

Eine reißbrettartige Versuchsanordnung

Am besten lässt sich Greers reißbrettartige Versuchsanordnung wohl als eine Art Spiel verstehen, wie Schachfiguren schiebt er seine Charaktere durch Raum und Zeit. Die historisch-gesellschaftlichen Hintergründe malt er dabei mit reichlich Kolorit aus. Von der Stofftapete bis zur Haartracht, von der aktuellen Mode bis zu den Fortbewegungsmitteln und deren Geräuschkulisse lässt der 43-jährige US-Autor kaum etwas aus, um seine Leser sinnlich in die jeweiligen Jahrzehnte einfühlen zu lassen.

Doch diese Details bleiben Dekor. Seine Charaktere, insbesondere die Hauptfigur Greta, bleiben schemenhaft. Empathie will man für ihre Schicksale deshalb nicht so recht entwickeln. Zudem geht Greer Gedankenspiel nicht ganz auf, die Lücken in der Logik nähme man gern hin, würden daraus überraschende Theorien oder Erkenntnisse gewonnen. So geraten Gertas Reisen durch die Parallelwelten zwar zunehmend außer Kontrolle, doch für den Leser fallen dabei kaum mehr als philosophische Binsenweisheiten ab über die Macht der Liebe, das Schicksal und das Leben an sich.

Madonna plant Verfilmung

Gleichwohl, „Ein unmögliches Leben“ hat einige berühmte Fans. Greer, der mit seinem Ehemann in San Francisco lebt, darf sich nicht nur über öffentliches Lob von Kollegen wie John Irving, David Leavitt und Michael Chabon freuen, Madonna hat sich zudem die Filmrechte an dem Roman gesichert.

Andrew Sean Greer: „Ein unmögliches Leben“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, 336 Seiten, 19,99 Euro

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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