Sie sind Brüder, beide homosexuell und wurden aus demselben Kinderheim in Kolumbien adoptiert. Sie sind einander die besten Freunde. Doch Wilford ist HIV-positiv, André nicht. Marleen Swenne vom HIV-Magazin hello gorgeous hat Szenen aus dem Leben der beiden Niederländer eingefangen.

(Foto: Henri Blommers, Übersetzung der niederländischen Version: Anne Stein. Herzlichen Dank an Herausgeber Leo Schenk, an Marleen Swenne und Henri Blommers für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.)

Den Haag, ein warmer Julitag. André Sloterwijk (32) kommt gerade von der Arbeit, sein Bruder Wilford (36) steht im Stau. Das Café, in dem wir uns um 17:00 Uhr mit ihnen verabredet haben, scheint genau um diese Uhrzeit seine Türen zu schließen. André und ich warten auf dem Gehsteig auf Wilford. Er hat uns nicht gesagt, wo er im Stau steht und wie lange wir noch warten müssen, weswegen wir bereits anfangen, ein paar Hintergrundinformationen auszutauschen.

In Friesland aufgewachsen zu sein, war das nicht seltsam? Fühlten sie sich dort wirklich zuhause? Offensichtlich eine typische Frage von jemandem, der davon nichts versteht. André antwortet nämlich Folgendes: „Natürlich hatten wir eine großartige Kindheit. Wir fühlten uns willkommen, es war dort sicher, und Friesland ist eine gute Provinz zum Aufwachsen. Wir reden sogar Friesisch miteinander, zum Beispiel, wenn wir telefonieren“, grinst er. „Manchmal schauen einige Leute dann etwas merkwürdig, weil wir natürlich nicht friesisch aussehen.“

Behütet aufgewachsen

Auch Wilford betont das, nachdem er zu uns gestoßen ist. André und er wuchsen in einer liebevollen und stabilen Familie auf. Ihre Eltern waren sanfte Menschen, die sie bedingungslos in ihr Herz schlossen. Wilford war vierzehn Monate alt, als er vom Kinderheim abgeholt wurde. André war, als er drei Jahre später in die Niederlande gebracht wurde, einen oder vier Monate alt.

„Trotz der Krankheit meiner Mutter wuchsen wir behütet auf“

Wilford: Unsere Mutter war chronisch krank. Für ihre Nierentransplantation hat mein Vater eine Niere gespendet. Das ist natürlich etwas ganz Besonderes. Dadurch haben wir hautnah miterlebt, wie einschneidend es sein kann, wenn der eigene Körper nicht mehr richtig funktioniert, und wie wichtig Liebe, Warmherzigkeit und Fürsorge sind. Das hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Trotz der Krankheit meiner Mutter war unsere Kindheit warmherzig, und wir wuchsen behütet auf. Unsere Kindheit hätte echt nicht besser sein können.

Enkelkinder

Wilford outete sich als Erster. „Ich war 18 oder 19 Jahre alt. Meine Eltern waren beide sehr gläubig, aber für meinen Vater zählte vor allem, dass ich glücklich bin. Ihm hat es nicht so viele Schwierigkeiten bereitet. Meine Mutter fand es anfangs aufgrund ihrer religiösen Überzeugung schwierig, meine Homosexualität zu akzeptieren, aber als sie das erst einmal für sich geschafft hatte, hatte sie keine Probleme mehr damit.“

„Wilford hat mir den Weg bereitet“

André: Wilford hat mir den Weg bereitet. Als unsere Eltern erfuhren, dass auch ich schwul bin, war das einzige, womit sie sich schwer taten, dass sie keine Enkelkinder bekommen würden. Zum Glück konnte ich ihnen erklären, dass man heute auch als schwuler Mann Kinder bekommen kann. Ich hatte mir fest vorgenommen, Kinder zu adoptieren. Ich war sieben Jahre lang verheiratet, und ein Adoptionsverfahren lief bereits, aber zwei Jahre später waren wir wieder geschieden. Meine Eltern haben das nicht mehr miterlebt. Sie sind 2005 und 2006 kurz nacheinander viel zu jung gestorben. Meine Mutter erlag ihrer Krankheit, und mein Vater hatte anderthalb Jahre später einen tödlichen Autounfall.

Kinderheim

André: 2012 sind wir nach Kolumbien gereist, zu dem Kinderheim, aus dem wir stammten. Wir haben uns mit den Leuten dort unterhalten und erhielten die Möglichkeit, unsere Akten einzusehen. Wilford hat seine Akte eingesehen. Er hat auch vor, seine leibliche Mutter zu suchen. Ich habe nicht dieses Bedürfnis, ich finde alles gut, so wie es ist.

Wilford: Meine leibliche Mutter war 15 Jahre alt, als sie mich bekam, also viel zu jung, um ein Kind aufzuziehen, und befand sich zu dem Zeitpunkt bestimmt nicht in der besten Lebenssituation. Sie hat mich abgegeben, und das war das Beste, was sie tun konnte. Ich würde ihr das gerne sagen, mich bei ihr dafür bedanken, weil ich glaube, dass sich eine Mutter stets fragt, wo ihr Kind wohl gelandet ist. Nun, dieses Kind hätte es nicht besser treffen können. Das sollte sie wissen. Leider ist es sehr schwierig, sie ausfindig zu machen. Ich hoffe, dass es klappt.

Neuanfang

Wilford: Ich bin seit Juni 2010 HIV-positiv. Mein Mann hat ebenfalls HIV. Ich lasse mich alle drei Monate auf Geschlechtskrankheiten untersuchen; ich halte das für eine Pflicht, mir und anderen gegenüber. Das sollte man auch tun, wenn man in einer offenen Beziehung ist.

„HIV hat nicht mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, aber mich sehr verändert“

Ich wusste schon, dass man grundsätzlich normal funktionieren kann, wenn man HIV-positiv ist. Das hat nicht mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, aber es hat mich sehr verändert. Die HIV-Infektion habe ich als einen guten Neuanfang erlebt. Ich stehe jetzt mit beiden Beinen auf der Erde. Ich habe auch ein neues Leben begonnen: Zuvor arbeitete ich in einer Bank, konnte mich dort aber nie eingewöhnen. Jetzt schule ich gerade zum Englischlehrer um.

Relativieren

Wilford: Durch die Krankheit meiner Mutter und den Tod meiner Eltern habe ich auch gelernt, vieles zu relativieren: Entweder es geschieht etwas, oder das Leben ist vorbei.

André: Der Autounfall meines Vaters hat mir zuerst ein wenig Angst gemacht, gerade weil ein Leben so schnell zu Ende sein kann. Aber er hat mich auch gelehrt, dass man manchmal einfach nur leben und zulassen muss, was das Leben einem bietet. Auch ich habe ein neues Leben begonnen. Nach meiner Scheidung verließ ich den Norden und zog nach Amsterdam. Ich habe alles zurückgelassen. Inzwischen baue ich mir hier ein neues Leben auf.

Etwas Schlimmes

Wilford: Meine Eltern haben nie von meiner Infektion erfahren. In der Zeit meines Coming-outs hatte meine Mutter mit Recht Angst vor „etwas Schlimmem“. Ich glaube, dass sie das gesagt hat, weil sie uns vor etwas für sie Unbekanntem schützen wollte. Wir haben nie konkret über HIV gesprochen. Ich hätte mich meinen Eltern gern anvertraut, wahrscheinlich, weil auch meine Mutter unter einer Krankheit litt. Und weil wir zu Hause eine offene und ehrliche Beziehung zueinander hatten, hätte es sich nicht richtig angefühlt, so etwas vor ihnen zu verheimlichen. Sie leben aber nicht mehr, und dadurch fällt es mir leichter, über dieses Thema in diesem Interview zu sprechen.

Unwissend

André: Im Gegensatz zu Wilford wusste ich fast gar nichts über Aids. Eigentlich ist das seltsam. Ich bin auch homosexuell, habe aber einen völlig anderen Freundeskreis, mit vielen Heteros und auch vielen Menschen, die wenig bis nichts über HIV wissen. Sie wissen genauso wenig darüber, wie ich wusste, bis Wilford es mir erzählte. Ich habe mich daraufhin eingehend darüber informiert und die Informationen über HIV nach und nach aufgenommen. Sonst wäre es zu viel auf einmal für mich gewesen. Indem ich mit ihm darüber sprach, habe ich auch gelernt, dass die Frage „Wie hast du dich infiziert?“ eigentlich nicht von Bedeutung ist. Man könnte besser fragen: „Wie gehst du jetzt damit um?“

Wilford: Die Frage, wie ich mich infiziert habe, beantworte ich nicht. Ich gebe lieber eine allgemeine Antwort. Wenn Menschen nichts über dieses Thema wissen, ist es mir lieber, wenn sie Fragen stellen, statt gereizt zu reagieren.

Kein Stress

Wilford: 2011 habe ich meinen Job gekündigt und alles für eine Weltreise geplant und geregelt. Da erfuhr ich, dass ich HIV-positiv bin. Ich wollte zuerst niemandem davon erzählen, weil ich Angst hatte, dass mein Umfeld dann sehr besorgt um mich sein würde. Ich habe es natürlich meinem Mann und einigen guten Freunden erzählt und bekam sehr entspannte Reaktionen. Auf der Reise bin ich zur Ruhe gekommen, was mir sehr geholfen hat. Besinnung, weniger Stress.

Als ich dann 2013 zurück in die Niederlande kam, hab ich es André erzählt. Kurz vor meiner Hochzeit war er meine einzige Familie, und er war mein einziger Trauzeuge. Es ihm nicht zu erzählen, wäre nicht richtig gewesen. Wir gehen schließlich offen und ehrlich miteinander um. Er hat sich Sorgen um mich gemacht und war sicher auch beunruhigt. Indem ich mit André über das Thema sprach – was wir immer noch tun –, wollte ich ihm die Unruhe nehmen. Außerdem ist André auch ein moderner Mann und kann daher alles in die richtige Perspektive rücken.

„Man kann gut mit HIV leben“

André: Eigentlich gehen wir sehr normal mit der Tatsache um, dass Wilford HIV-infiziert ist. Man kann gut damit leben. Ich wusste darüber viel zu wenig und bin selbst vorsichtiger geworden. Das ist der Grund, warum ich bei diesem Interview mitmachen wollte.

Wilford: Ich möchte das Tabu um HIV brechen. Natürlich hab ich auch deshalb mitgemacht, damit ich mich selbst besser fühle. Ein Geheimnis sorgt auch für Stress, und Stress will ich keinen mehr.

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