Kaum ein anderes Thema wurde auf der Selbsthilfekonferenz „Positive Begegnungen“ 2014 in Kassel so intensiv diskutiert wie die Kriminalisierung von Menschen mit HIV. Ein Zwischenruf

(Dieser Beitrag erschien erstmals im life+MAGAZIN der Deutschen AIDS-Hilfe zu den Positiven Begegnungen 2014 in Kassel.)

Das Thema „Kriminalisierung“ durchzog die gesamte Konferenz. So wurde auf einer der zahlreichen Veranstaltungen dazu von einem Fall berichtet, bei dem das Amtsgericht Celle einen Mann wegen versuchter Körperverletzung verurteilte, obwohl seine Viruslast dank HIV-Therapie stabil unter der Nachweisgrenze lag. Während für den Virologen klar ist, dass schon ein einziges Virus Kettenreaktionen hervorrufen kann, ist für den Infektiologen klar, dass weltweit bisher keine einzige HIV-Übertragung unter erfolgreicher Therapie dokumentiert ist – außer einem Jahre alten Frankfurter Fall, den manche Wissenschaftler für obskur halten.

Mit gelebtem Leben hat das nicht das Geringste zu tun

Mich ärgert inzwischen, dass es offensichtlich immer noch halbherzige Verteidiger_innen, Staatsanwält_innen und Richter_innen gibt, die nicht die Energie aufbringen, wenigstens auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Gesundheit, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Robert Koch-Instituts oder der Deutschen AIDS-Hilfe den heutigen Wissensstand nachzulesen. Stattdessen bedienen sie sich der Einschätzungen von Gutachtern der virologischen Zunft, die mit gelebtem Leben und mit dem, was außerhalb des Gerichts kommuniziert wird, nicht das Geringste zu tun haben. Und diese Gutachter schämen sich noch nicht einmal, vor Gericht zu verschweigen, dass sie eine Mindermeinung vertreten und dass es für ihre These von der „Gefährlichkeit“ nicht einmal das geringste Indiz gibt. Von Beweisen ganz zu schweigen. Die ärztlichen Fachgesellschaften, das wurde auf der Konferenz deutlich, dürfen dazu nicht länger schweigen.

Aufschlussreich war der internationale Vergleich. Dänemark etwa hat die Anwendung der entsprechenden Gesetze ausgesetzt. In anderen Ländern hat man erkannt, dass neben sexuellen Handlungen, die ohnehin schon unter Strafe stehen, strafrechlich nur der Fall interessieren darf, in dem es um eine wissentliche und absichtliche Infizierung geht. Wie unlängst in München geschehen, kann es im Einzelfall auch mal völlig gleichgültig sein, dass selbst das angebliche Opfer sich in keiner Weise geschädigt oder hintergangen fühlt. Da wird so getan, als müsste der Staat mit den Mitteln des Strafrechts ein Sexualverhalten missbilligen, das merkwürdigerweise in der Praxis doch eher Unterprivilegierte trifft. Die falsche Hautfarbe, das soziale Elend sind Indikatoren, um auf der Täterliste zu landen.

Die falsche Hautfarbe, das soziale Elend sind Indikatoren, um auf der Täterliste zu landen

Schuld, Scham und die bange Frage „Was mach ich, wenn mich mein Partner anzeigt, obwohl ich ihn informiert habe?“ verweisen auf die nichtjuristischen Aspekte des Themas. Was tun, wenn herauskommt, dass ich ganz gewöhnlicher Durchschnitt bin, mit allen Stärken und allen Schwächen und der ein oder anderen düsteren Ecke? Lebensängste finden auf einmal in der Kriminalisierung eine Folie, auf der sie besprochen werden können. Und dahinter blitzt immer wieder die Frage auf: „Was ist sicher, bin ich nicht doch für den absoluten Schutz des anderen zuständig?“

Für mich stellt sich die Frage anders. Welcher Hochmut steckt bei vorgeblich nicht infizierten Menschen dahinter, sich nicht zu informieren und uns stattdessen in irgendwelchen Internetforen mit ihren unerträglichen, unausgegorenen Fantasien, was HIV denn sei und bedeute, zuzumüllen. Der Einwurf „Das hättest du mir sagen müssen“ ist Humbug. „Du hättest dich altersgerecht informieren müssen, dann wüsstest du, dass es nichts zu sagen gibt“ wäre hier die passende Replik.

Massenhafte Selbstanzeige wegen Körperverletzung als Aktion

Im Abschlussplenum entstand die Idee zu einer Aktion: die massenhafte Selbstanzeige wegen Körperverletzung. Allerdings sind Jurist_innen berufsbedingt in der Regel völlig humorlos. Man darf sich da von Wilhelmine Klemm im Münsteraner „Tatort“ nicht täuschen lassen. Aber die Idee traf auf Zustimmung, Einzelne drängelten sich bereits auf die Teilnehmerliste, sollte eine solche Form der Öffentlichkeitsarbeit tatsächlich entstehen.

Und es gab die Niederungen des Alltags: „Was mach ich, wenn mich tatsächlich jemand anzeigt?“ Juristisch gesehen, erst mal den Mund halten. Und die angeblichen Opfer sollten sich vor den Spiegel stellen und sich ernsthaft fragen, inwieweit sie selbst an der „Tat“ beteiligt waren und wie viel diese vielleicht mit eigenen Sehnsüchten zu tun hatte.

 

Anmerkung der Redaktion:

Am 23. März 2015 hat das das Aachener Landgericht ein Zeichen gesetzt: Zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte wertete ein Gericht  eine HIV-Übertragung nicht als vorsätzliche, sondern lediglich als fahrlässige Körperverletzung (wir berichteten auf aidshilfe.de und magazin.hiv).

Bernd Aretz, der Verfasser dieses Zwischenrufs aus dem Jahr 2014, sagt zu dem neusten Urteil:

„Ich finde es sehr erfreulich, dass ein Gericht bei der Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit die Regeln anwendet, die man schon zum Erwerb des kleinen Strafrechtsscheins beherrschen muss. Es ist sehr erfreulich, dass die Strafjustiz zu ihren Grundregeln zurückkehrt, wenn ich auch finde, der Staat sollte sich aus jeder einvernehmlichen Sexualität heraushalten, sofern sie nicht für sich schon mit Strafe bewehrt ist, wie etwa der sexuelle Umgang mit Abhängigen.“

 

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Über

Bernd Aretz

langjähriger Mitstreiter und Wegbegleiter der Deutschen Aidshilfe, Enfant terrible und Hundeliebhaber (06.07.1948 – 23.10.2018)

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