Die Filmemacherin Ivette Löcker zeigt in „Wenn es blendet, öffne die Augen“ den Alltag eines drogenabhängigen HIV-positiven Paares in Russland.

Es ist eng im Beratungsbus. In dem abgetrennten Raum, in welchem Ljoscha eine Klientin zu ihrer Krankheits- und Drogengeschichte befragt, wäre für eine dritte Person kaum Platz. Dann ist Feierabend. Ljoscha schließt den an einer viel befahrenen Straße abgestellten Truck ab, steigt in sein Auto und fährt nach Hause.

Auch in der Plattenbauwohnung eines Sankt Petersburger Außenbezirks geht es beengt zu. Die kaum mehr als dreißig Quadratmeter teilt sich Ljoscha mit seiner Frau Schanna und seiner Mutter.

Die Dokumentation der Berliner Filmemacherin Ivette Löcker ist ein Kammerspiel im besten Sinne. Nur selten verlässt die Kamera die Wohnung. Kurz sehen wir Ljoschas betagte Mutter in einer Straßenbahn. Wenn sie sich nicht um Küche und Haushalt kümmert, arbeitet sie als Fahrkartenverkäuferin. Das Geld ist knapp, der Verdienst ihres Sohnes als Sozialarbeiter reicht kaum, um die drei über die Runden zu bringen.

Methadon vom Schwarzmarkt

Zu Hause angekommen, bereitet Ljoscha Methadonspritzen für sich und seine Frau vor. Solch gute Qualität, sagt Schanna, gebe es nur auf dem Schwarzmarkt, und auch dort nur mit Verbindungen.

Die Kamera, die der Enge wegen häufig am Türrahmen verharren muss, schaut ihnen beim Injizieren zu, später beim Anschneiden eines Geburtstagskuchens, beim Herumzappen am Fernsehgerät und immer wieder beim Rauchen.

Vor allem aber beobachten wir in langen Einstellungen das Paar beim Reden. Ljoscha ist oft schweigsam, Schanna hingegen äußert sich redselig. Ein Schlaganfall hat nicht nur die Bewegungsfähigkeit ihres rechten Arms eingeschränkt, auch ihre Artikulation hat gelitten. Ihre jahrzehntelange Drogensucht, die HIV-Infektion und der tägliche Kampf ums Überleben haben sie gezeichnet.

Schanna und Ljoscha, beide Mitte dreißig, sind Opfer einer Freiheit, die Jelzin und Gorbatschow über das Land gebracht haben, obwohl sie niemand gebraucht und alles nur noch schlimmer gemacht hat – so sieht es Ljoschas Mutter. Mit dem Zerfall des Sowjetreiches kam nicht nur Perestroika, sondern auch Drogen flossen ins Land.

Schweigen, reden, kämpfen

Schanna und Ljoscha gehören zu den wenigen Junkies dieser Generation, die überlebt haben. Doch der körperliche Verfall ist insbesondere Schanna bereits deutlich ins Gesicht geschrieben. „Gibt es einen einzigen Menschen, der bei meinem Tod eine Träne für mich vergießen wird? Eine einzige Träne nur?“, fragt Schanna desillusioniert in die Kamera und meint letztlich ihren schweigenden Lebensgefährten.

Es ist eine von vielen solcher ernüchternden, bitteren Szenen einer Ehe. Zwar ist die unverbrüchliche Fürsorge füreinander ein deutlicher Beleg dafür, dass es einmal eine andere Form von Glück, Liebe und Zweisamkeit gegeben haben muss. Doch immer wieder kippt die Stimmung. Der Zuschauer wähnt sich bisweilen in einer Paartherapie, in der die subtilen Spannungen innerhalb des Beziehungsgeflechts und die Folgen wechselseitiger Abhängigkeiten unverstellt zutage treten.

Wechselseitige Abhängigkeiten

Die Grenze zwischen Humor und Sarkasmus ist dann oft nur schwer auszumachen. Hoffnung und Gesten der Vertrautheit wechseln sich ab mit Enttäuschung und vorwurfsvollen verbalen Spitzen. Mit HIV infiziert, sagt Schanna, habe sie sich erst durch Ljoscha.

Dann erzählt sie, wie sie auf dem Straßenstrich anschaffen ging, um für beide die Sucht zu finanzieren. Immer mit Kondom, um sich und Ljoscha zu schützen, aber dann habe sie doch mal die Syphilis erwischt. Ljoscha will das nicht hören und wendet sich von der Kamera ab.

Und manchmal ist da auch einfach nur Traurigkeit und Verzweiflung. Zum Beispiel, wenn Schanna erzählt, dass die Behörden ihr die Tochter weggenommen haben und sie wohl nicht alt genug wird, um jemals ihr Enkelkind kennenzulernen.

Aber wenigstens haben wir einen anständigen Hamster großgezogen, sagt sie mit ihrer brüchigen Stimme und lässt das Tier über ihre Hände krabbeln. Was an Liebesbedürfnissen übrig geblieben ist, scheinen Ljoscha und Schanna auf das Tier zu projizieren. Es wird geknuddelt, gestreichelt, geküsst, mit Kosenamen angesprochen, während es körperliche Nähe zwischen Ljoscha und Schanna kaum mehr zu geben scheint, mögen sie in ihrer kleinen Wohnung auch noch so dicht aufeinandersitzen.

Die Drogen halten uns zusammen, sagt Ljoscha später bei einer Autofahrt allein mit dem Filmteam. Am liebsten würde er einfach abhauen, wegfahren, woanders neu anfangen. Aber Schanna einfach zurücklassen?

Ein Mikrokosmos im Plattenbau

Wenn die Kamera aus dem Fenster der Plattenbauwohnung blickt, fällt dichter Schnee. Es ist ein fast idyllisches Bild. Wie die Welt jenseits dieses Mikrokosmos ausschaut – wie die offizielle Versorgung mit Substitutionsmitteln oder HIV-Medikamenten aussieht, wie Putins Russland mit Drogenabhängigen, Beschaffungsprostitution und Aids-Kranken umgeht – all das spart der Film aus.

Vielmehr interessiert Ivette Löcker, wie Sucht und Krankheit das Miteinander ihrer Protagonisten verändert haben. Sie zeigt ihren Kampf um Würde und Normalität angesichts der prekären Lebenssituation.

Zuletzt geht es dann doch noch einmal nach draußen. Das Paar genießt bei einem Osterausflug den ersten Anflug von Frühling. Schanna sitzt im Rollstuhl, Ljoscha ruiniert auf einer frisch gestrichenen Parkbank seine Hose. Man scherzt, raucht und genießt die Wärme der Sonnenstrahlen.

Diese letzten Bilder zeugen von beharrlichem Lebensmut und einem Rest Vitalität. Sie künden zwar nicht von einer leuchtenden Zukunft, geben aber zumindest das Versprechen einer lebenswerten Gegenwart.

„Wenn es blendet, öffne die Augen“. Österreich 2014. Buch und Regie Ivette Löcker, Kamera Frank Amann. 75 Minuten, Russisch mit deutschen Untertiteln.

Berlin-Premiere am Dienstag, 10. März, 20 Uhr im Kino Arsenal. Im Anschluss wird Birgit Kohler vom Arsenal ein Gespräch mit der Filmemacherin Ivette Löcker und dem Kameramann Frank Amann führen.
Vom 12. bis 18. März ist der Film im Kino Krokodil (Greifenhagener Str. 32) zu sehen. Im Anschluss an die 19-Uhr-Vorstellung am Donnerstag, dem 12. März, wird es ein Publikumsgespräch mit der Regisseurin geben.
Weitere Vorführungen sind im Rahmen der
Dokumentarfilmwoche Hamburg (8.–12. April) und bei GoEast in Wiesbaden (22.–28. April) geplant

 

 

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„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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